9punkt - Die Debattenrundschau

Entscheidend ist die abstrakte Recheneinheit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.12.2020. Sehr zornig attackiert Sascha Lobo in seiner Spiegel-online-Kolumne die angebliche Solidarität der Regierung mit den Selbständigen. In der Welt plädieren Julian Nida-Rümelin und Eric Hilgendorf für eine effizientere Corona-App, auch gegen Datenschutzbedenken. In der Zeit erzählt Karina Urbach, wie deutsche Verlage in der Nazizeit Bestseller jüdischer Autoren arisierten - und auch nach dem Krieg jahrzehntelang davon profitierten. Ebenfalls in der Zeit ruft Navid Kermani die westlichen Politiker auf, diesmal die IranerInnen nicht zu vergessen, wenn sie wieder mit dem Regime reden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.12.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Die düstere Realität der Coronakrise, auch in Deutschland, benennt Gereon Asmuth in der taz mit ein paar Zahlen: "Bis zu den ersten 10.000 an oder mit Corona Gestorbenen dauerte es gut sieben Monate. Die zweiten 10.000 kamen in gerade mal sieben Wochen ums Leben. Und für die dritten Zehntausend wird es wahrscheinlich nur drei Wochen dauern. Also bis Silvester. Das ist keine Schwarzmalerei, es lässt sich an der Kurve der Neuinfizierten ablesen."

Julian Nida-Rümelin und der Rechtswissenschaftler Eric Hilgendorf fordern angesichts der Corona-Zahlen in der Welt dringend eine effizientere Corona-App: "Wenn das Fehlen einer Corona-Tracking-App dazu führt, dass die Politik zu Lockdown-Maßnahmen gezwungen ist, mit all den Folgen, die damit verbunden sind - dann müssen sämtliche Verletzungen und Einschränkungen von Individualrechten durch Lockdown-Maßnahmen gegen die Einschränkung des Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung abgewogen werden. Wir sprechen hier von der vermeidbaren Infektion Hunderttausender, von der unnötigen Vernichtung mühsam aufgebauter unternehmerischer Existenzen und auch von den extremen staatlichen Schulden, die die nächsten Generationen abzutragen haben werden."

Sehr zornig attackiert Sascha Lobo in seiner Spiegel-online-Kolumne die angebliche Solidarität der Regierung mit den Selbständigen. Die Hilfen seien bürokratisch und an Kriterien geknüpft, die mit der Lebensrealität der Sebständigkeit nichts zu tun haben, so Lobo, und erinnert an ein kleines Faktum: "Selbstständige sind diejenigen, die unternehmerisch arbeiten, dabei oft dringend benötigte Innovationen hervorbringen, aus denen später vielleicht irgendwann einmal große Unternehmen hervorgehen. Oder vielleicht auch nicht. Aber staatliche Anerkennung gibt es eben erst, wenn Selbstständige für Festanstellungen sorgen. Vorher sind sie eine Last."

Rechtsextremisten finden Islamismus im Grunde ganz prima, schon weil sie sein Frauenbild teilen, sagt die Susanne Kaiser, Autorin eines Buchs über "Politische Männlichkeit", im Gespräch mit Nina Rossmann von der taz: "Im Sinne des biologistischen Arguments herrschen Männer über Frauen, aber müssen auch Hierarchien ausfechten, mit Männern aus anderen Gruppen kämpfen. Dass dieser Kampf auf Augenhöhe unter 'Alphamännern' stattfindet, ist sogar das Ideal, das heißt, sie müssen gar keinen Hehl aus ihrer Bewunderung machen. Diese Theorie ist wiederum anschlussfähig mit der Idee des Ethnopluralismus, der von sich behauptet, kein Rassismus zu sein, sondern neue Kulturen zu schätzen, solange jeder auf seinem Territorium bleibt - und anschlussfähig auch zur rechtsextremen Idee der weißen Scharia, die den Rassenkrieg zwischen Rechtsextremen und Dschihadisten herbeiführen will, um die Welt neu aufzuteilen."

"Wer Rechtspopulisten und Islamisten pauschal gleichsetzt, verharmlost damit den Islamismus", meinen hingegen die freien Journalisten Sarah Rukaj (Jungle World, Freitag) und Nico Hoppe (schreibt unter anderem für Achgut), in der NZZ: "Antisemitismus, Misogynie und Homophobie finden sich selbstverständlich unter Islamisten, aber auch unter Rechten und einigen Linken. Während der Islamismus den Antisemitismus als seinen stolzen Wesenskern hervorkehrt und aus seiner Ablehnung von selbstbestimmten Frauen und Homosexuellen kein Geheimnis macht, ist das selbst bei rechtsautoritären Parteien anders. Judenhass wird hier meist verklausuliert geäußert, und Antisemitismus gehört kaum noch zu den konstituierenden Merkmalen europäischer Rechter."

Wenn der Staat nur genug überwacht, glaubt der Antisemitismusbeauftragte von Baden-Württemberg, Michael Blume, im Gespräch mit Benno Stieber in der taz, dann verschwinden die Verschwörungstheoretiker schon. Darum befürwortet er auch eine Beobachtung der "Querdenken"-Bewegung durch den Bundesverfassungsschutz: "Eine Beobachtung würde den Verschwörungsunternehmern das Geschäft verderben, und sie müssten sich neue Verkaufsmaschen suchen. Ich denke, man hat gesehen, dass ein Zurückweichen des Rechtsstaates vor diesen Gruppen, die Leute immer weiter ermutigt hat." In der SZ begrüßt Ronen Steinke die Entscheidung des Landesamts für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg, die Querdenken-Bewegung zu beobachten

Der Prozess gegen den Attentäter von Halle nähert sich dem Ende. Für die taz-Korrespondenten Pia Stendera und Konrad Litschko bleibt als Eindruck aus den Erzählungen der Opfer vor allem die Ignoranz und Kälte der Polizei und der Behörden: "Auch über den Tag des Attentats hinaus bleibt die Opferhilfe von offiziellen Stellen, vorsichtig ausgedrückt, überschaubar. Der Kiez Döner kämpft seit dem Anschlag um sein Überleben. Das Geld für den nötigen Umbau wurde nicht vom Staat, vom Land oder von der Stadt Halle bereitgestellt, sondern von einer jüdischen Studierendenorganisation gesammelt. Und wer hat jemals auch nur in das Gesicht von Adiraxmaan Aftax Ibrahim gesehen? Eine aktive Begleitung erfährt er nur durch die Mobile Opferberatung und andere Betroffene, Soligruppen und Nachbar:innen."
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Religion

Monika Grütters ist nicht nur Kulturstaatsministerin, sondern auch sehr gläubige Katholikin und Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Im Interview mit Evelyn Finger und Karsten Polke-Majewski von der Zeit erklärt sie, warum Kirchen, anders als Konzertsäle, geöffnet bleiben müssen: "Geschlossene Kirchen sind etwas anderes als geschlossene Geschäfte. Wenn so viel Verstörendes passiert wie jetzt, dann belastet das uns alle im Innersten. Umso dringlicher ist das Bedürfnis nach Seelsorge. Das Digitale ist dafür sicher kein Ersatz."
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Stichwörter: Grütters, Monika, Katholiken

Medien

"Es gibt auf der Welt eine Menge stabiler Demokratien ohne einen derart üppig ausgestatteten öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie in Deutschland, der Jahr für Jahr rund acht Milliarden Euro ohne jedes unternehmerische Risiko in seinen Kassen vorfindet", meint Salonkolumnist Jan-Philipp Hein in der Welt und wirft den Öffentlich-Rechtlichen Misstrauen in die Marktwirtschaft vor. In der taz attestiert Chriatian Rath der kommenden Verfassungsbeschwerde der Sende gegen die Verhinderung der Gebührenerhöhung durch die sachsen-anhaltinische CDU gute Chancen.

Im FAZ-Gespräch mit Helmut Hartung erklärt Heike Raab (SPD), Medienstaatssekretärin in Rheinland-Pfalz, was das Verhindern der Erhöhung des Rundfunkbeitrags durch Sachsen-Anhalt für die Öffentlich-Rechtlichen bedeutet: "Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss beispielsweise wie jeder andere Arbeitgeber die Löhne und Gehälter anpassen, er hat durch die Corona-Pandemie zusätzliche Ausgaben durch die Hilfsleistungen für die Filmwirtschaft. Wie alle anderen Medienunternehmen hat auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk höhere Ausgaben bei nun gleichbleibenden Einnahmen. Dies wird auch für das Programm nicht ohne Konsequenzen bleiben. Die Auswirkungen auf die Anstalten sind unterschiedlich, und sicher sind die kleineren Anstalten davon am stärksten betroffen."

Außerdem: Die von der polnischen PiS-Partei geplante "Repolonisierung" der Medien schreitet weiter voran, meldet Gerhard Gnauck in der FAZ: "Die deutsche Verlagsgruppe Passau (VGP) trennte sich von ihren Zeitungen in Polen, insgesamt etwa 140 Titel. Der Käufer heißt Orlen: Der staatsnahe Mineralölkonzern, der auch in Deutschland Tankstellen betreibt, war bis vor einiger Zeit Polens größtes Unternehmen überhaupt."
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Europa

Britannien wird nach dem Brexit vielleicht ein neues Geschäftsmodell entwickeln. Die EU aber bleibt verstrickt in ihre Widersprüche, meint Timothy Garton Ash im Guardian: "Einige haben argumentiert, dass Brexit der EU tatsächlich helfen könnte, weil die anderen Mitgliedsstaaten, befreit von dem unangenehmen angelsächsischen Mitglied reibungslos zur weiteren Integration übergehen können. Dies ist eine Illusion. Es bedurfte eines fünftägigen Gipfelmarathons in diesem Sommer, um den Haushalt und den Konjunkturfonds zu vereinbaren, und zwar gegen den heftigen Widerstand der 'sparsamen Vier' (Österreich, Dänemark, Schweden und die Niederlande), wobei der niederländische Premierminister Mark Rutte Thatcher spielte."

Im SZ-Interview mit Florian Hassel erklärt Posens Oberbürgermeister Jacek Jaskowiak, Mitglied der oppositionellen Bürgerkoalition, wie sehr Polen auf EU-Hilfen angewiesen ist und wie peinlich ihm die polnische Regierung ist: "Das Grundübel ist, dass diese Regierung die EU nur als Kuh ansieht, die man gerne melkt. Dass die EU tatsächlich ein Verband ist, in dem wir auch Pflichten übernommen haben, dieser Gedanke liegt ihr fern. Die Veto-Drohung hat vor allem mit Machtkämpfen innerhalb der Regierung zu tun. PiS-Chef Jarosław Kaczyński kann ohne seinen Koalitionspartner Zbigniew Ziobro, der als Justizminister und Generalstaatsanwalt den Rechtsstaat demontiert hat und hinter dem 18 Abgeordnete stehen, nicht weiterregieren. Und für Kaczyński zählt vor allem die Macht. Ob Polen die Milliarden von der EU bekommt oder nicht, ist für ihn letztlich zweitrangig. Mir ist das peinlich. Wir sind dankbar, in der Europäischen Union zu sein."
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Ideen

Geld wird heutzutage ja virtuell gedruckt und materialisiert sich dann in Form von Windrädern oder Stadtschlössern. Dass Geld aus Tausch entstanden sei, ist darum auch nur ein Irrglaube von Ökonomen, sagt die Ökonomin Stephanie Kelton im Gespräch mit Danilo Scholz, Lars Weisbrod von der Zeit: "Viel wichtiger war das Aufkommen des Staates. Der jüngst verstorbene US-amerikanische Ethnologe David Graeber hat anschaulich beschrieben, wie sich vor 4.000 bis 5.000 Jahren die ersten komplexeren Geldsysteme entwickelten. Politische Machthaber - der Priester eines Tempels oder der Gebieter in seinem Palast - erhoben Steuern. Die Untertanen konnten diese Steuern in Form von Getreide oder anderen Gütern bezahlen. Münzen kamen erst 2.000 Jahre später auf. Entscheidend ist die abstrakte Recheneinheit, die dem frühen Geld zugrunde liegt und für den Einzelnen oder seine Familie festlegt, welche und wie viele Naturalien an den Staat abzuführen sind."
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Geschichte

Auf ein empörendes Kapitel der deutschen Verlagsgeschichte macht Karina Urbach in der Zeit aufmerksam. Deutsche und österreichische Verlage "arisierten" nicht nur jüdischen Besitz, sondern auch Bestseller jüdischer Autoren, indem sie sie regimefreundlichen Autoren zuschrieben, die den Inhalt nur änderten, wenn sie, wie im Kochbuch der Großmutter von Urbach jüdische Rezeptnamen ("Omelette Rothschild") austauschten: "In einem Land, in dem Juden ihren rechtlichen Schutz von 1933 an sukzessive verloren, war auch deren geistiges Eigentum der Willkür preisgegeben: Jeder 'arische' Autor und jeder Verlag konnte sich an diesem Eigentum bedienen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen." Der Fall des "Palandt", eines juristischen Kommentarwerks des C.H. Beck-Verlags, ist bekannt (und durch den Verlag selbst 2013 erforscht worden). Weniger bekannt ist, dass auch Knaurs einst so populäres Gesundheitslexikon dem prominenten jüdischen Arzt Josef Löbel "weggenommen" wurde. Erst jetzt, achtzig bis neunzig Jahre nach den Ereignissen, an denen sich der Verlage jahrzehntelang bereicherten, werden die Geschichten aufgearbeitet, so Urbach. Auch das Kochbuch von Alice Urbach wir wieder unter ihrem Namen erscheinen. Ausführlich kann man Urbachs Geschichte hier nachlesen.

Außerdem: Alteuropäische Großmächte wie Russland, Ungarn oder die Türkei haben den Verlust ihres Imperiums bis heute nicht überwunden, meint der Historiker Rasim Marz in der NZZ.
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Politik

Zum heutigen Tag der Menschenrechte machen Maryam Zaree, Parastou Foruhar, Navid Kermani und Bahman Nirumand in der Bundespressekonferenz auf das Schicksal der Feministin Nasrin Sotoudeh aufmerksam, die im Gefängnis sitzt, weil sie Frauen verteidigte, die kein Kopftuch tragen wollen. Kermani schreibt heute in der Zeit einen Leitartikel auf Seite 1. Mit Hinblick auf Joe Biden, der wieder Verhandlungen mit dem Iran führen wird, schreibt er: "Die Erfahrung lehrt, dass die Islamische Republik auf diplomatischen und ökonomischen Druck reagiert; allein aus Gefälligkeit hätte sie ihr Nuklearprogramm nicht der striktesten Kontrolle in der Geschichte der Internationalen Atombehörde unterworfen. Wenn ein künftiges Abkommen jedoch nur der internationalen Sicherheit dient und nicht zugleich den Iranern, ihrer Freiheit, ihrer Zukunft, wird das Land niemals ein Faktor für Stabilität sein."
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