9punkt - Die Debattenrundschau

Ausfahrbare Griffe

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.12.2020. Die taz erzählt die Geschichte des iranischen Journalisten Ruhollah Sam, der am Wochenende vom Regime ermordet wurde. Jetzt kommt der harte Lockdown. Aber woran ist der weiche gescheitert, fragt Zeit online. Wohl an uns, meint die SZ. Deutsche KulturfunktionärInnen fordern eine größere Offenheit für die Israelboykottbewegung und fühlen sich von einer Resolution des Parlaments gestört. Die Debatte darüber geht weiter: Mbembe wurde nicht ausgeladen, sondern angegriffen, stellt die FAZ klar.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.12.2020 finden Sie hier

Politik

Der iranische Journalist Ruhollah Sam wurde am Samstag vom iranischen Regime ermordet. Julia Neumann erzählt in der taz seine Geschichte: Sam lebte längst in Paris, war aber nach Bagdad gereist, weil er dort eine eine Fernsehstation aufbauen wollte. Hier hat ihn das Regime in eine Falle gelockt und entführt. Silke Mertin  kommentiert in der taz: "Die Hinrichtung eines Mannes, der sehr viele Iraner erreichen konnte, zeigt überdeutlich, wie sehr sich das iranische Regime vor sozialen Unruhen fürchtet. Es herrscht die nackte Angst. Die vergangenen Protestwellen in 2017 und 2019 haben sich schnell vom eigentlichen Anlass, etwa Benzinpreiserhöhungen, gelöst und sich fundamental gegen den theokratischen Machtanspruch der regierenden Elite gerichtet."
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Stichwörter: Iran, Sam, Ruhollah, Hinrichtungen

Gesellschaft

Gut, der harte Lockdown ist jetzt unvermeidlich. Aber warum der weiche gescheitert ist, darüber sollte man schon reden, findet Lenz Jacobsen bei Zeit online. Es nicht zu tun, bedeute nämlich, dass "Vorurteile die Deutungshoheit übernehmen können. An den hohen Infektionszahlen sind dann immer die schuld, die man eh schon in Verdacht hatte: die Glühweintrinker, die Arbeitgeberinnen, die Schulen, die rücksichtslosen anderen eben."

Wir sind alle schuld, meint in der SZ Stefan Braun. "Das Kollektiv hat versagt; so muss man das zusammenfassen. Schaut man auf die Bund-Länder-Beschlüsse von Anfang November, dann war das nichts anderes als ein flammender Appell, doch noch zur Vernunft zu kommen. Der sogenannte Lockdown light war die eindringliche Bitte, sich zurückzunehmen, um zu verhindern, was jetzt eingetreten ist. Der Appell traf freilich auf eine Bevölkerung, die schon da müde war von der Krise. Wer ehrlich zu sich selbst ist, kennt die Anflüge von Trotz, Ignoranz und Erschöpfung, die dazu führten, dass man doch diesen oder jenen Weihnachtseinkauf machte, obwohl die Geschäfte voll waren und einem beim Einkaufen mulmig wurde."

Im Interview mit der SZ versteht der Ethnologe Thomas Hauschild die Aufregung um "eingeschränkte Weihnachten" nicht. Eingeschränkt feiern wir doch schon seit Jahrhunderten, meint er. Noch im Mittelalter war Weihnachten nämlich ein kollektives Fest. "Es wurde öffentlich getanzt, man kann das heute noch in den romanischen Ländern beobachten, wo Weihnachten weiterhin eine öffentliche Vergnügung ist. Damals zogen im Rahmen der Heischebräuche Kindergruppen in der Dunkelheit umher und führten Krippenspiele oder Ähnliches auf, um irgendetwas abzubekommen vom großen Kuchen. ... Im Gegensatz zur Bettelei dürfen die Heischenden etwas verlangen. Heische ist ein Recht auf Teilhabe. Was zu Konflikten führte und die Rückzugstendenzen der Wohlhabenden verstärkte. Im 19. Jahrhundert wendet sich das Fest endgültig nach innen, indem man nur noch die eigenen Kinder beschenkt."

Es ist zwar vielleicht nicht ganz Thema einer Feuilleton-Debattenrundschau, aber Timo Daums heise.de-Artikel über die neue S-Klasse von Daimler liest sich einfach zu interessant: Vom Traum des autonomen Fahrens habe Daimler längst Abschied genommen, so Daum, auch andere hochfliegende Zukunftspläne wurden stillschweigend eingespart: "Die neue S-Klasse zeigt, in welche Richtung es geht: in die Vergangenheit. Mit Technik und Luxus vollgestopfte Edelkarossen, an alte Oktanzeiten erinnernd, verkaufen an Firmen (dank Dienstwagenprivileg) und an solvente Männer, deren Durchschnittsalter bei 55 Jahre liegt. Ausfahrbare Griffe, aber kein batteriebetriebenes Modell in Sicht: Daimler fährt sich selbst und ganz allein in die Bedeutungslosigkeit, wird bald eher wie Bugatti oder Maybach zum Nischenhersteller."
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Europa

In der Welt und der NZZ kritisiert Sarah Pines die Berichterstattung amerikanischer Medien der New York Times, der Washington Post, CNN oder dem New Yorker über die islamistischen Terroranschläge in Frankreich. Die Schuld daran wird häufig bei der Regierung Macron gesucht. Die Täter wiederum als Opfer einer angeblich in Frankreich grassierenden "Islamophobie" beschrieben: Abdullah Ansorow, der Mörder des Lehrers Samuel Paty, "war in der Wahrnehmung amerikanischer Medien ein Opfer nicht nur von Polizeigewalt, sondern auch einer Ideologie namens Laizismus, die in Frankreich das wahre Problem sein soll. Der Islamismus ist in dieser Weltsicht bloß eine Reaktion auf eine Staatsideologie, die ein exzessives, in perversen Karikaturen des Propheten Mohammed gipfelndes Verständnis von Meinungsfreiheit begünstigt. Wahnhaft, extremistisch und verblendet sind also nicht die muslimischen Extremisten, sondern Macron, Paty und die Herausgeber von Charlie Hebdo. Die französische Regierung, so klagte die Washington Post, schüre einen 'reaktionären' Diskurs und sie habe sich erdreistet, Organisationen, welche die 'Islamophobie' bekämpften, mit Verboten zu drohen. Kein Wort darüber, dass gerade Gruppen wie das Collectif contre l'islamophobie en France reaktionärstes Gedankengut pflegen, französische Muslime mit islamistischer Propaganda indoktrinieren und Kritik am Islamismus mit Rassismusklagen beantworten."

"Jetzt hat auch die Türkei ihren 'Me Too'-Skandal", meldet Thomas Avenarius in der SZ. "Ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller ist vom Literatensockel gestürzt worden, ein anderer, weniger bekannter Autor hat sich wegen der Vorwürfe sexueller Belästigung erhängt und im Land kursiert eine Liste: Männer aus der Kulturszene, aber auch Zeichner und ein Star-Architekt sehen sich durch Veröffentlichungen in den sozialen Medien dem Vorwurf ausgesetzt, Frauen sexuell bedrängt zu haben. Besonderes Gewicht gegen die Vertreter der Kulturavantgarde gewinnen die 'Me Too'-Vorwürfe, weil Gewalt gegen Frauen in der Türkei in der Form von Femiziden und 'Ehrenmorden' Alltag sind."
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Kulturmarkt

Die Frankfurter Buchmesse schließt das "German Book Office" in New York, meldete schon am Donnerstag der Buchreport: "Das German Book Office wurde 22 Jahre lang unterhalten und war 2017 in Frankfurt Book Fair in New York umbenannt worden. Die Dependance kümmerte sich um den Verkauf von Ausstellungsflächen in Frankfurt an Verlage des weltgrößten Buchmarktes und um die Teilnahme nordamerikanischer Literaturagenten am 'Literary Agents & Scouts Center' (LitAg) in Frankfurt. Diese Markt-Aktivitäten sollen künftig von Mitarbeitern in Frankfurt übernommen werden. Das New Yorker Büro hat sich in der Vergangenheit auch um die Unterstützung von Buchübersetzungen aus dem Deutschen sowie um Lektorenreisen nach Deutschland und verschiedene Kulturveranstaltungen gekümmert."
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Kulturpolitik

Nigeria fordert die berühmten Benin-Bronzen, die das Schmuckstück des Humboldt-Forums sein sollten, zurück, meldete der Tagesspiegel am Samstag (unser Resümee). Bernhard Schulz liest im Tagesspiegel Dan Hicks Buch "The Brutish Museums", das die Geschichte der Skulpturen und der Zerstörung der durch Sklavenhandel reich gewordenen Benin-Kultur durch britische Raubzüge erzählt. "Hicks zeigt, wie die ökonomischen Interessen der eigens gegründeten 'Royal Niger Company' und die in Großbritannien verbreitete Propaganda zur 'Zivilisierung' Afrikas durch Christianisierung und Abschaffung des innerafrikanischen Sklavenhandels ineinander griffen. Hinzu kam die Berichterstattung in den Massenmedien, die die in den afrikanischen Fürstentümern verbreiteten Praktiken etwa des Fetischs, aber auch die in Benin tatsächlich vollzogenen Menschenopfer, in drastischer Weise ausbreiteten." In der taz berichtet heute Susanne Mermania.
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Ideen

Einige der wichtigsten FunktionärInnen des deutschen Kulturbetriebs haben sich in der "Initiative 5.3 GG Weltoffneheit" (unsere Resümees) gegen die BDS-Resolution des Bundestags ausgesprochen. Sie fühlen sich in ihrer Einladungs- und Kulturpolitik durch eine Verurteilung der Israelboykottbewegung als antisemitisch gestört. In den Medien wird weiter darüber diskutiert.

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, wendet sich im Gespräch mit Filipp Piatov und Björn Stritzel von der Bild-Zeitung gegen die "Initiative": "Der von der neuen 'Initiative GG 5.3 Weltoffenheit' formulierte Anspruch, ein Klima der Vielstimmigkeit zu verteidigen und im gesellschaftlichen Diskurs abweichende Positionen zuzulassen, wäre im Grundsatz zu begrüßen. Antisemitismus ist jedoch keine Meinung. Die Resolution des Bundestags zur BDS-Bewegung bedeutet daher auch keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern war ein sinnvoller Schritt zur Bekämpfung des Antisemitismus."

Die Resolution des Bundestags ist keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern Ausdruck einer größeren Sensibilität gegen den Antisemitsmus von links, sagt der Berliner Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn im Interview mit Tobias Rapp von Spiegel online: "Die Klage über die Gefährdung der offenen Debatte hängt schief: In Wirklichkeit soll so die Diskussion über antisemitische Positionen abgewürgt werden. Wer solche vertritt, oder mit ihnen kokettiert, muss eben damit rechnen, dass er oder sie auch dafür kritisiert wird. Wer darauf reagiert, indem er sich auf die Freiheit der Kunst beruft, weicht aus."

Stephan Detjen vom Deutschlandfunk, der die Initiative beraten hat und im Deutschlandfunk unterstützt, stellt einen Kommentar von Mai nochmal online, weil er "Gegenstand von Diskussionen mit zeithistorischer Bedeutung" geworden sei . Er wendet sich gegen die "regierungsamtliche Autorität", mit der der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Achille Mbembe kritisierte: "Der Regierungsbeauftragte machte sich damit eine Strategie von Lobbygruppen zu eigen, die einen entgrenzten Antisemitismus-Begriff instrumentalisieren. Politisch oder wissenschaftlich begründete Kritik an der israelischen Besatzungspolitik soll auf diese Weise systematisch delegitimiert werden."

Jürgen Kaube stellt in der FAZ nochmal klar: "Mbembe ist nicht ausgeladen, sondern angegriffen worden, auch wenn Susan Neiman es noch so oft behauptet und die Initiative es suggeriert. Dass er auch durch den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung angegriffen wurde, hatte keine Rechtsfolgen. Mbembes Getue, er sei knapp einem Lynchvorgang entkommen, wirft kein Licht auf die hiesige Lage, sondern auf ihn." Auch Susan Neiman kritisert er, die behauptete, heutzutage wäre es unmöglich, Hannah Arendt zu einer Rede in Deutschland einzuladen.
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