9punkt - Die Debattenrundschau

Regionale und akademische Perspektiven

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.12.2020. In der New York Times geißelt die pakistanische Autorin Fatima Bhojani die Gewalt gegen Frauen in ihrem Land. Nicht erst in der letzten Woche, schon 1972 hatte Nigeria versucht, Benin-Bronzen von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zurückzubekommen, schreibt Bénédicte Savoy in der FAZ. Die Stiftung sträubte sich. Statt Weltkulturen werden Video-Animationen über die Berliner Stadtgeschichte das Piano Nobile im Stadtschloss zieren, fürchtet die FAZ außerdem. Die New York Times erzählt, wie Tim Cook eine Apple-TV-Serie über das einstige Klatschblog Gawker kippt, das ihn einst als schwul outete. Und was Xi Jinping damit zu tun hat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.12.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

"Ich bin wütend. Die ganze Zeit. Ich bin seit Jahren wütend", schreibt die pakistanische Autorin Fatima Bhojani in der New York Times, das Machogehabe ihrer Landsleute geißelnd. "Wir wuchsen mit Geschichten von Frauen auf, die der 'Ehre' wegen getötet und aus Rache vergewaltigt wurden. Frauen, die mit Säure übergossen und Frauen, die mit Öfen verbrannt wurden. Pakistan rangiert auf dem 'Women, Peace and Security Index' 2019-2020 auf Platz 164 von 167 Ländern und liegt damit knapp über Jemen, Afghanistan und Syrien. In den zwei Monaten seit der Vergewaltigung einer Frau an einer Autobahn vergewaltigte ein Polizist eine Frau in ihrem Haus. Ein Mädchen wurde von ihrem Cousin und Onkel ermordet, weil es mit einem männlichen Freund telefoniert hatte. Eine Frau, die nach der Arbeit auf einen Bus wartete, wurde gekidnappt und vergewaltigt. Ein Teenager beging Selbstmord, nachdem sie von den Männern erpresst worden war, die sie vergewaltigt und den Übergriff auf Video aufgezeichnet hatten. Eine 6-Jährige wurde von ihrem Vater zu Tode geprügelt, weil sie Lärm machte. Allein zwischen Januar und Juni gab es 3.148 gemeldete Fälle von Gewalt gegen Frauen und Kinder."

Bessere Kommunikation bei den Covid-Regeln fordert Jan Schweitzer auf Zeit online und empfiehlt einen Blick nach Irland: "Die Iren haben schon seit September ein System mit verschiedenen Stufen etabliert, von Level 1, bei dem es noch zu relativ harmlosen Eingriffen ins Leben der Bevölkerung kommt, bis zu Level 5, bei dem sehr einschneidende Maßnahmen gelten. Übersichtlich aufgeteilt in verschiedene Bereiche (etwa 'Gesellschaftliche und familiäre Treffen', 'Sport' oder 'Bars, Cafés und Restaurants'), erfährt jede Bürgerin hier ganz konkret, zu jeder Zeit und unveränderlich, welche Maßnahmen bei welchem Level gelten." Wer Klarheit hat, macht auch mit bei den Maßnahmen, glaubt Schweitzer.
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Kulturpolitik

Nicht erst in der letzten Woche, schon 1972 hatte Nigeria versucht, Benin-Bronzen von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zurückzubekommen, schreibt Bénédicte Savoy in der FAZ. Damals wollte man sie nur leihweise zurückgeben. Die Stiftung unter ihrem Direktor Hans-Georg Wormit (Savoy betont, dass er seine Karriere unter den Nazis begann) wehrte sich mit Händen und Füßen: "Ziel der Stiftung Preußischer Kulturbesitz war zu keinem Zeitpunkt die Anregung einer bundesweiten Diskussion über den Umgang mit den Gesuchen ehemals kolonisierter Länder, sondern die Abwehr der nigerianischen Anfrage. Am 7. Dezember 1972 konstatierte Wormit zufrieden: 'Wir können die Angelegenheit wohl als erledigt ansehen.' Wenig später empfahl der Generaldirektor der Staatlichen Museen, künftige Anfragen aus ehemals kolonisierten Ländern 'so dilatorisch wie möglich zu behandeln'."

Betrübliche Akzentverschiebungen konstatiert zugleich FAZ-Redakteur Andreas Kilb vor der offiziellen digitalen Eröffnung des Humboldtforums. Das Ethnologische und das Asiatische Museum werden in den zweiten und dritten Stock verbannt: "Im ersten Stock, dem Piano nobile, residieren stattdessen das 'Humboldt-Labor' der Universität und die 'Welt. Stadt. Berlin'-Schau des Stadtmuseums, zwei Ausstellungen, die sich, nach ihren Ankündigungen auf der Website der Stiftung Humboldt Forum zu schließen, fast ausschließlich auf digitale Installationen und nur ausnahmsweise auf reale Objekte stützen. Damit ist die ursprüngliche Idee des Humboldt-Forums in ihr Gegenteil verkehrt: Nicht die Weltkulturen, sondern regionale und akademische Perspektiven werden in der Schlosshülle die privilegierten Plätze besetzen."
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Internet

Alexander Fanta führt für Netzpolitik ein faszinierendes Gespräch mit der Wettbewerbsforcherin Dina Srinivasan, die Googles Stellung auf dem Online-Anzeigenmarkt untersucht hat. Ihre Beobachtung ist, dass der Anzeigenmarkt heute funktioniert wie der Finanzmarkt: Anzeigen werden nicht mehr direkt in Medien geschaltet, sondern über Google als Makler oder Broker. "Wenn die Leute über Google nachdenken, sagen sie zunächst, Google macht eine Suchmaschine. Wenn man dann versteht, dass Google fast all sein Geld über Anzeigen macht, kommt die nächste Vermutung und man sagt, 'oh, das liegt daran, dass Google eine Menge Anzeigen auf Youtube und in der Suche verkauft'. Und das stimmt ja auch. Aber dann muss man verstehen, dass Google nicht nur auf seinen eigenen Seiten Anzeigen verkauft, sondern auch auf Millionen anderen Seiten in der ganzen Welt." Dabei entsteht aber ein Interessenskonflikt, so Srinivasan, denn Google ist zugleich Broker und Marktplatz - und schiebt sich selbst einen immer größeren Teil der Einnahmen zu: "Auf den Finanzmärkten haben wir proaktive Firewall-Anforderungen. Makler können nicht mit Börsenmitarbeitern sprechen. Sie müssen sich in verschiedenen Gebäuden befinden. Sie müssen sicherstellen, dass sie nicht gegen Interessenkonflikte verstoßen."

Der Internetrecherchedienst Bellingcat hat zusammen mit internationalen Medien wie CNN und Spiegel herausgefunden, dass eine Gruppe von FSB-Agenten hinter dem Mordversuch an Alexej Nawalny steckt. In einem eigenen Artikel erklären die Rechercheure, wie sie auf die Spur kamen: Sie verfolgten Telefon-Metadaten von Mitarbeitern von Chemiewaffenlaboren und FSB-Agenten. Offenbar sind sie erstaunlich leicht an die Daten gekommen und belegen nebenbei, wie wichtig Datenschutz ist: "Die meisten der Informationen, die wir für unsere Recherchen nutzten, hätte man in den meisten westlichen Ländern nie bekommen, aber in Russland sind sie entweder gratis oder gegen eine geringe Gebühr leicht erhältlich. Hinzukommt, dass russische E-Mail-Provider wie Mail.ru und Rambler und soziale Netzwerke wie Vkontakte wesentlich weniger sicher und auf Privatsphäre fokussiert sind als ihre westlichen Äquivalente, was zu häufigen Datenleaks und robusten Suchmöglichkeiten führt."

Viel wird derzeit geforscht, wie man trotz Distanz bei Videochats Nähe herstellen kann, erzählt ein zoommüder Michael Moorstedt in der SZ. Zum Beispiel mit der App Together: "Sie ist darauf ausgelegt, dass isolierte Großeltern mit ihren Enkelkindern Kontakt halten können und kombiniert deshalb eine Vorlese- und Spielefunktion mit einem Videochat. ... Eine der vielversprechendsten Lösungen nennt sich Proximity Chat. Vereinfacht gesagt hat man hier Chaträume, in denen man sich zwischen den Konversationen hin und herbewegen können soll wie auf einer Party. Jeder Nutzer wird von einem Avatar repräsentiert, der frei durch einen virtuellen Raum gesteuert werden kann. Genau wie im echten Leben kann man dann nur die Teilnehmer sehen und hören, deren Icons sich in der Nähe des eigenen befinden. Genauso kann man nicht hören, was andere bereden, deren Avatare sich auf der anderen Seite des Raums befinden. Erst wenn man sich nähert, werden ihre Stimmen lauter und ein Videokästchen erscheint auf dem Bildschirm."
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Medien

(Via Meedia) Apple TV bereitete eine Serie über das legendäre Klatschportal Gawker vor, das von dem Investor Peter Thiel abgeschossen wurde, weil es ihn als schwul geoutet hatte. Und nun wurde die Serie von Tim Cook persönlich abgeschossen, der ebenfalls von Gawker als schwul geoutet worden war, berichtet der Medienkolumnist der New York Times, Ben Smith. Die Sache hat durchaus einen unheimlichen Hintergrund: "Hollywood ist jetzt fest in der Hand von riesigen Unternehmen mit Einzelpersonen als Anführern - Mr. Cook und Apple, Amazon und sein Chef Jeff Bezos, Netflix-CEO Reed Hastings und AT&Ts Top-Manager John Stankey - mit ihren großen Verbrauchermarken und anderen dringenden Prioritäten, wie ihre lukrativen Geschäfte in anderen Branchen und ihrem Zugang zu internationalen Märkten. Bislang ist Apple TV+ das einzige Streaming-Studio, das den Filmschaffenden unverblümt erklärt, wo die Grenzen des Unternehmens liegen - obwohl Disney mit seinem riesigen Themenpark-Business in China die gleiche Aversion wie Apple hat, sich mit Chinas Staatschef Xi Jinping anzulegen."
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Europa

Es gibt zwei Migrantengruppen, die im öffentlichen Diskurs wenig wahrgenommen werden. Beide kommen aus Russland - die Russlanddeutschen und die jüdischen Kontingentgflüchtlinge. Beide wurden zunächst positiv wahrgenommen, sagt der Wiener Migrationsforscher Jannis Panagiotidis im Gespräch mit Julia Wasenmüller in der taz. Aber "diese positiven Projektionen konnten schnell kippen und schlugen dann in Bilder von saufenden, kriminellen, prügelnden Russen um, die sich ihre Aufnahme in Deutschland unter Vortäuschung einer falschen Identität erschlichen hätten. Den Spruch 'Das einzig Deutsche an den Russlanddeutschen sind ihre deutschen Schäferhunde' haben wir gerade wieder gehört. Das schrieb der Journalist und Autor Hasnain Kazim auf Twitter. Diese Parole war auch schon in den Neunzigern - nicht nur unter Rechten - beliebt. Wie so oft bekommen die negativen Bilder mehr Aufmerksamkeit." Im November erschien Panagiotidis' Buch "Postsowjetische Migration in Deutschland" im Beltz Verlag.
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