9punkt - Die Debattenrundschau

So eine Art Partisanenkampf

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.12.2020. Der Protest in Belarus hört nicht auf, nur weil er auf den Straßen in der Kälte nachlässt, versichert Swetlana Tichanowskaja  in der taz.  Hunderte von Künstlern und Autorinnen wenden sich gegen den Bundestag, weil er das Recht auf gewaltfreien Widerstand verweigere. Es geht natürlich um das Recht, gewaltfrei israelische Künstler und Waren zu boykottieren.  Die SZ setzt ihre Recherchen zur Vergabe des Titels Europäische Kulturhauptstadt fort.  Revolutionär nennt Netzpolitik die Vorschläge des europäischen Digitale-Dienste-Gesetzes.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.12.2020 finden Sie hier

Ideen

Eine breite Mehrheit im Bundestag hat letztes Jahr für die BDS-Resolution gestimmt. Nur die Kulturszene ist von diesem demokratischen Votum offenbar nicht beeindruckt. Höchste Kulturfunktionäre fordern die Mehrheit im Bundestag auf, ihren Beschluss zurückzunehmen und nennen das "Initiative GG 5.3 Weltoffentheit" (unsere Resümees). Nun treten ihnen Hunderte von Künstlern und Autorinnen in einem weiteren Aufruf zur Seite: "Kein Staat sollte von Kritik ausgenommen sein. Unabhängig davon, ob wir BDS unterstützen oder nicht, sind wir uns als Unterzeichner*innen dieses Briefs einig, dass es ein Recht darauf gibt, gewaltfreien Druck auf Regierungen auszuüben, die Menschenrechte verletzen. Wir lehnen den Bundestagsbeschluss ab, weil er genau dieses Recht verweigert. Wir lehnen ihn ab, weil er die Polarisierung innerhalb der Kulturszene in einer Zeit verschärft hat, in der der Aufstieg rechter Nationalismen von uns erfordert, in Solidarität im Kampf gegen den zunehmenden Hass zusammenzustehen, der sich in Deutschland und darüber hinaus verbreitet." Zu den zahllosen Unterzeichnern gehören etwa Aleida Assmann, Micha Brumlik, Diedrich Diederichsen, Hans Haacke, Carl Hegemann, Eva Illouz, Matthias Lilienthal, Eva Menasse, Ulrike Ottinger, Milo Rau, Michael Rothberg, Ingo Schulze, Klaus Staeck, Mark Terkessidis.

Mara Delius fragt in der Welt dagegen: "Gibt es ein Recht darauf, 'gewaltfreien Druck' auszuüben? Ja, in aufgeklärten Gesellschaften gibt es das. Aber wieso machen die Unterzeichner ausgerechnet bei BDS ihrem Druck kollektiv Luft, einer Bewegung, die sie allein als Chiffre für eine 'Vielfalt' zu verstehen scheinen, die eine 'kritische' und 'inklusive' Kultur möglich macht? Der Bundestagsbeschluss habe ein repressives Klima erzeugt, heißt es weiter, in dem wertvolle Stimmen, wie etwa die von Achille Mbembe 'dämonisiert' würden. Wie aufgeklärt ist ein intellektuelles System, in dem die sachlich-philologische Kritik an den Schriften eines postkolonialen Denkers als 'Dämonisieren' gilt?"

In der NZZ findet der Philosoph Otfried Höffe die Corona-Einschränkungen zu hart und setzt lieber auf die Eigenverantwortung der Bürger (dass die in den letzten Monaten nicht so wahrgenommen wurde, wie sie sollte, übergeht er großzügig): "Es ist doch merkwürdig, genaugenommen sogar ärgerlich, dass in der Bildungs- und der Demokratiepolitik seit mehr als einem halben Jahrhundert auf den mündigen Bürger hingearbeitet wird und man jetzt unausgesprochen oder sogar ausdrücklich die Bürger zu unmündigen Untertanen erklärt. Der autoritäre Obrigkeitsstaat, den wir endgültig überwinden wollten, tritt in einer neuen, bisher unbekannten Gestalt auf: mit einem Versprechen, das er gar nicht halten kann, dem der Rundumsicherheit."
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Kulturpolitik

In der SZ erkundet Uwe Ritzer ein Netzwerk um den deutschen Kulturmanager Ulrich Fuchs, dessen Frau, der Kulturunternehmerin Pia Leydolt-Fuchs und den Kulturberater Mattjis Maussen, das großen Einfluss auf die Vergabe des Titels Europäische Kulturhauptstadt haben soll. "So mehren sich die Hinweise, dass es nicht nur bei der Vergabe des Kulturhauptstadt-Titels an Chemnitz fragwürdig zuging, wie die SZ berichtete. Auch bei früheren ECoC-Vergaben waren bis in die Jury hinein Seilschaften von stets denselben Kulturmanagern am Werk, die sich wechselseitig unterstützen und dabei ordentlich absahnen. Schließlich ist viel zu holen. Schon im mehrjährigen Bewerbungsverfahren geben Kommunen Unsummen aus, und wer es am Ende zum Titel schafft, bekommt noch mehr Geld, um sich als ECoC aufzuhübschen. So erhält Chemnitz für 2025 allein 51,5 Millionen Euro Zuschüsse von Bund, Land und EU. So viel Geld lockt Geschäftemacher an."
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Internet

Revolutionär nennen Alexander Fanta und Thomas Rudl bei Netzpolitik die EU-Vorschläge für die Einschränkung der Macht der großen Internetplattformen: "Plattformen mit mehr als 45 Millionen Nutzenden in der EU sollen eigenen Regeln folgen. Sie erhalten Auflagen für neue Maßnahmen gegen die Verbreitung illegaler Inhalte, sie müssen die Wirkungsweise ihrer Algorithmen offenlegen und eine unabhängige Prüfung der gefassten Maßnahmen erlauben. Wenn sich die Konzerne den Auflagen widersetzen, drohen Strafen von bis zu sechs Prozent ihres globalen Jahresumsatzes." Es soll eine Transparenzpflicht für Algorithmen geben. Selbst die Zerschlagung von Google oder Facebook soll mit diesem Gesetz möglich werden, so die Autoren. Serafin Dinges fasst erste Reaktionen zusammen.

"Eine Sache aber ändert das Gesetz wohl nicht", warnt Ulrich Machold in einem lesenswerten, sich nicht nur aufs Meckern beschränkenden Artikel auf Zeit online. "Es behandelt die Digitalgiganten weiter vor allem als Unternehmen, deren wirtschaftliche Macht kontrolliert werden muss. Das sind sie aber längst nicht mehr. Google, Twitter, YouTube und Co. greifen schon jetzt so tief in Fragen von Macht, Wahrnehmung und persönlicher Freiheit ein, dass sie mitbestimmen können, wie sich Gesellschaften konstituieren und wie Menschen ihr Leben leben." Machold greift deshalb einen Vorschlag von Sinan Aral auf, Professor am Institute for Data des MIT, der die Techregulierung unabhängigen Experten überlassen will (ähnlich, wie die Zentralbank die Geldpolitik reguliert). "'Wir müssen uns entscheiden, ob wir kleckern oder klotzen wollen', sagt Soziologe [Ulrich] Dolata. 'Klotzen würde bedeuten: die Konzerne womöglich zu entflechten, sie aber vor allem rigide zu beaufsichtigen - zum Beispiel durch eine europäische Regulierungsbehörde, die demokratisch legitimiert, parlamentarisch angebunden und mit Experten besetzt ist, die auch Zugang zu den internen Aktivitäten haben.' Es müsse auch möglich sein, Algorithmen zu überprüfen und Grundstandards wie politische Neutralität festzulegen."
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Europa

Swetlana Tichanowskaja nimmt heute stellvertretend für die belarussische Bürgerbewegung den Sacharow-Preis für geistige Freiheit  entgegen. Auf die Frage der taz-Interviewerin Barbara Oertel, ob sie an die Konstanz  der Proteste glaubt, antwortet sie: "Ich finde es immer sehr schade, dass offensichtlich auch Europa diese Bilder von den Protesten braucht, um unserer Bitte nach Unterstützung nachzukommen Natürlich kommen jetzt weniger Leute. Die Menschen sind müde, viele sitzen im Gefängnis und es ist kalt. Wir müssen die bevorstehenden Wintermonate dazu nutzen, bestimmte Strukturen innerhalb von Belarus zu festigen. Initiativen in den Hinterhöfen, Streiks, unabhängige Gewerkschaften, das alles hatten wir doch nie. Und genau das entwickelt sich jetzt Schritt für Schritt. Wir nennen das so eine Art Partisanenkampf."

Im Charlie-Hebdo-Prozess haben nun die Verteidiger ihre Plädoyers gehalten. Heute um 16 Uhr sollen die Urteile gegen die Helfer der Attentäter verkündet werden. Yannick Haenel schloss gestern seine Berichterstattung bei Charlie Hebdo ab: "Als ich den Gerichtssaal verließ, kamen mir die Verbrechen wieder in den Sinn. An der Porte de Clichy, auf dem Weg zum Boulevard périphérique regnete es, und ich sah die Bilder des Massakers bei Charlie Hebdo, im Hyper Cacher und in Montrouge, dann die Gesichter der Angeklagten, die in ihrer Box unseren Blick suchhten: zwei unerträgliche Bilder. Wir haben den Konnex zwischen ihnen gesucht, aber haben wir ihn auch gefunden? Wir erwarteten die Wahrheit und haben das Unglück für alle, die Opfer, die Familien, die Angeklagten."

Der Anschlag auf Alexej Nawalny wurde nach Recherchen von Bellingcat und einigen Medien vom russischen Geheimdienst FSB und damit in direkter Verantwortung Wladimir Putins verübt. Wie reagiert Europa, fragt Richard Herzinger in seinem Blog: "Hatten die Bundesregierung und die EU nicht vor Monaten vollmundig angekündigt, es werde für die russische Regierung ernste Konsequenzen haben, sollte sie nicht vorbehaltlos zur lückenlosen Aufklärung des Falls Nawalny beitragen? Nun, von einer solchen Bereitschaft des Kreml zur Kooperation kann nicht nur keine Rede sein, er verweigert sie vielmehr demonstrativ und mit höhnischer Aggressivität. Doch die angekündigte Reaktion des Westens darauf lässt auf sich warten. Während Deutschland und die EU keine Anstalten machen, Sanktionen zu verhängen oder andere Maßnahmen zu ergreifen, werden wir statt dessen mit der Nachricht konfrontiert, dass die Bauarbeiten an der Gaspipeline Nord Stream 2 wieder aufgenommen wurden."
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Überwachung

In der NZZ warnt Sanija Ameti vor immer weiteren Gesetzen zur Bekämpfung des Terrorismus, auch dann, wenn schlicht Polizeiversagen der Grund ist für gelungene Anschläge: "Eine Studie der Universität St. Gallen kommt zum Schluss: Hinter verschlossenen Türen, teilweise ohne rechtliche Grundlage, wenden Schweizer Polizeibehörden seit Jahren solche Algorithmen für Präventivmaßnahmen an und führen unkontrollierte Gefährderdatenbanken. Unsere staatlichen Institutionen genießen zwar enormes Vertrauen, doch willkür- und fehlerfrei sind auch sie nicht: Der Nachrichtendienst hat erst kürzlich eine unschuldige Person fälschlicherweise als terroristischen Gefährder eingestuft. Solche Fehler passieren im Einsatz von Prognostikprogrammen ständig und sind brandgefährlich. So nehmen wir gravierendste Menschenrechtsverletzungen in Kauf. 60 Schweizer Professoren und Professorinnen, die Vereinten Nationen und der Europarat haben den Bundesrat und das Parlament vor diesen Gefahren des Gesetzes gewarnt - erfolglos."

Lisa Hegemann warnt auf Zeit online vor einem geplanten neuen Sicherheitsgesetz des deutschen Bundesinnenministers, das erhebliche Mängel aufweise, aber wegen der plötzlichen Eile kaum genauer überprüft werden könnte: "Innenminister Horst Seehofer hebele eine sachkundige Beratung zum neuen Entwurf des IT-Sicherheitsgesetzes aus, kritisiert der Chaos Computer Club. Es sei unzumutbar, einen 108-seitigen Gesetzesentwurf binnen Stunden zu analysieren. 'Fundierte Stellungnahmen aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft sind (…) offenkundig unerwünscht und werden aktiv verhindert.' Die AG Kritis, die schon zuvor eine Notbremse für den Entwurf gefordert hatte, schreibt von einem 'Schlag ins Gesicht der Zivilgesellschaft'."
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Urheberrecht

Andrian Kreye wettert in der SZ heftig gegen die "Bagatellgrenze", mit der der deutsche Gesetzgeber das neue EU-Urheberrecht versehen will. Mit der medientypischen Heuchelei, die anderen schmierige Geldmotive vorwirft, während Journalismus und Kultur nur aus hehren demokratieerhaltenden und künstlerischen Motiven betrieben würden, sieht er das Internet ausschließlich von den großen Digitalkonzernen beherrscht, die die armen Journalisten und Künstler aussaugt: "Nun gibt es den Einwand, dass ein strengeres Urheberrecht die Meinungsfreiheit einschränken würde, weil dann nicht nur das Sampling, sondern auch die Erstellung von Memes unmöglich wäre. Da stehen zwei unversöhnliche Grundhaltungen gegeneinander. Die Freiheit des Ausdrucks im Netz kollidiert mit den Besitzansprüchen der Kulturindustrie. Von der Freiheit aber profitieren vor allem Digitalkonzerne, deren Verhältnis zur Kultur schon immer von einem sehr freien Begriff von Marktwirtschaft geprägt war." Nun, das müssen sich die Zeitungen, die künftig vom Staat unterstützt werden, nicht vorwerfen lassen.

Ebenfalls in der SZ vergleicht Lothar Müller die Kurzmeldungen in der heutigen Regionalpresse mit den Kurznachrichten in Kleists Berliner Abendblättern: "Für die Zeitungen, nicht nur die lokalen, sind die Kleinformate und Zeitungsausschnitte Teil des Geschäftsmodells. Sie sind so kostbar wie Songtexte." Und damit wäre dann jede Meldung a la: "Heute wurde die Verkehrsampel am Holstenplatz abgebaut" zum schützenswerten kulturellen Kleinod.
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