9punkt - Die Debattenrundschau

Wer lernt schneller: die Repression oder die Rebellion?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.12.2020. Heute vor zehn Jahren entschloss sich der tunesische Markthändler Mohammed Bouazizi zur Selbstverbrennung und löste mit seiner Tat den "arabischen Frühling" aus. Die taz bringt ein sehr lesenswertes Dossier zum Thema. Über die "Weltoffenheit" für Israelfeinde wird weiter diskutiert - dass ein Rassist ist, wer BDS antisemitisch findet, bestreitet Tobias Rapp bei spiegel.de. Ein Problem der freien Meinungsäußerung hat laut SZ auch Julie Burchill, deren neues Buch gecancelt wurde, weil sie Mohammed einen Pädophilen nannte. Und die Presse ist nicht ganz froh mit dem Humboldt Forum.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.12.2020 finden Sie hier

Politik

Vor zehn Jahren entschloss sich der tunesische Markthändler Mohammed Bouazizi zur Selbstverbrennung und löste mit seiner Tat den "arabischen Frühling" aus, vor dessen Trümmern wir heute stehen. Die taz bringt ein mehrseitiges Dossier zum Thema. Karim El-Gawhary legt in seinem Eröffnungsessay dar, dass er nicht im Islam, sondern in der krassen Ungleichheit in den arabischen Ländern die Ursache für das Problem sieht. Aber ihre Bevölkerung ist jung: "Die Autokraten befinden sich langfristig in der Defensive. Je stärker sie die repressiven Schrauben anziehen, desto mehr Menschen entfremden sich von dem System und suchen nach einem Raum, ihren Ärger loszuwerden. Die entscheidende Frage lautet: Wer lernt schneller: die Repression oder die Rebellion?"

Mirco Keilberth berichtet aus Tunesien, dem einzigen Land, das sich durch die Ereignisse reformierte. Aber die Fortschritte sind prekär: "Der Markt der Stadt hat sich nicht verändert, immer noch kassieren die Beamten ihren Anteil, immer noch arbeiten viele hier einfach, weil sie keinen besseren Job gefunden haben. Die Corona-bedingte frühe Schließung und die Eröffnung eines Supermarkts der französischen Carefour-Gruppe habe ihre Einkommen noch einmal halbiert, sagen die Händler."

Und Europa erweist sich in der Region als zahnloser Tiger, sagt der Politologe Asiem El Difraoui im Gespräch mit Jannis Hagmann in der taz: "Wir brauchen das ganze Arsenal einer von den USA unabhängigen Außen- und Sicherheitspolitik, in der Partikularinteressen einzelner EU-Staaten zurückgestellt werden. Die Amerikaner werden im südlichen Mittelmeerraum auch unter Biden nicht groß Initiative zeigen. Überlassen wir also der Türkei, den Golfstaaten, Russland und China das Feld? Alles große Demokraten!"

Weitere Artikel des lesenswerten Dossiers: Julia Neumann schildert das Engagement der libanesischen Feministin Roula Seghaier. Der syrische Aktivist Abdallah Alkhatib, der heute in Deutschland lebt, und die Hoffnung für sein Land nicht völlig aufgeben will erinnert sich. Karim El-Gawhary fragt, was die Nachzügler Sudan, Algerien, Libanon, Irak aus dem Scheitern der ersten Länder lernten. Rim Mugahed berichtet über den Kampf der Frauen im Jemen. "Dass die Chance auf eine Bürgergesellschaft nach 2010 nicht erfolgreich genutzt wurde, macht die kollektive Abwehr gegen die alten Regime nicht ungeschehen", schreibt Daniel-Dylan Böhmer in der Welt: "Dahinter stand eine echte Wut über Staaten, die nicht mehr der allgemeinen Bereitstellung öffentlicher Güter und der Lösung gemeinsamer Probleme dienten, sondern der Bereicherung jeweiliger Cliquen. Diese Wut gibt es noch heute." Und Paul Anton meint in der SZ: "Wer künftige Migrationsbewegungen abwenden will, sollte sich vor allem um die Bedürfnisse der Jungen kümmern."
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Gesellschaft

Die britische Journalistin Julie Burchill wollte 2021 ein Buch mit dem Titel "Welcome to the Woke Trials: How #Identity Killed Progressive Politics" veröffentlichen, in dem sie über jene Zeit schreibt, in der sie ihren Job beim Observer verlor. Der britische Ableger des Verlags Little, Brown and Company cancelte das Projekt jetzt - nachdem Burchill der muslimischen Bloggerin Ash Sarkar nach einem Twitter-Schlagabtausch, in dem es um einen sieben Jahre alten Text des Spectator-Redakteurs Rod Liddle ging, vorwarf, sie bete einen Pädophilen an, resümiert Andrian Kreye in der SZ: "Burchills Verlag will sich zum Rauswurf seiner prominenten Autorin nicht weiter äußern, sondern schickt auf Anfrage nur eine Verlautbarung. Man habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, den Vertrag mit Burchill zu kündigen. Man glaube - so auch die Beteuerung dieses Verlags - leidenschaftlich an die freie Meinungsäußerung. Frau Burchill habe aber doch Grenzen überschritten, das könne man nicht mehr verteidigen."
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Ideen

Zwei Aufrufe kursieren, die mehr "Weltoffenheit" für antiisraelische Positionen verlangen, die oft von Künstlern mit internationalem Hintergrund vertreten werden. Der BDS-Beschluss des Bundestags führe zu "Racial Profiling durch die Hintertür", sagt der Aufruf der Künstler unter dem Titel "Wir können nur ändern, was wir konfrontieren" (unser Resümee). Sie unterstützen das Plädoyer der Initiative "Weltoffenheit 5.3 GG" der höchsten deutschen Kulturfunktionäre. Tobias Rapp findet diese Argumentation bei Spiegel online aberwitzig: "Hat der Bundestag damals, als er die BDS-Bewegung als 'antisemitisch' bezeichnete, in Wirklichkeit Menschen aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Hautfarbe gekennzeichnet? Sich solidarisch mit dem Staat Israel zu zeigen, ist das Rassismus 'durch die Hintertür'? Absurd. Die Resolution richtet sich gegen das, was einige Leute sagen oder glauben. Nicht gegen das, was sie sind."

Auch Stefanie Schüler-Springorum, Chefin des Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin möchte antiisraelischen Positionen mehr Raum verschaffen. In der Zeit argumentiert sie: "Im Plädoyer steht: Wir lehnen den Boykott Israels ab, in den persönlichen Statements wurde dies oft wiederholt. In der Rezeption heißt es hingegen nur allzu häufig: Die Initiative stellt sich hinter oder vor oder neben BDS. Wenn A nicht mehr als A akzeptiert, sondern ihm unterstellt wird, B zu sein, dann entzieht das der demokratischen Diskussionskultur den Boden. Ist es wirklich so schwer zu verstehen, dass man gegen eine politische Haltung sein kann und trotzdem für das Recht dieser Personen einsteht, sich zu äußern? Weil es einen nicht überzeugt, wenn in diesen Debatten immer wieder recht schnell und pauschal Judenfeindschaft vermutet wird?"

Zwischen Genus und Sexus existiert sehr wohl eine Verbindung, entgegnen die Linguistinnen Gabriele Diewald und Damaris Nübling Gegnern von geschlechtergerechter Sprache in der NZZ: "Bei 'das Weib', 'das Mädchen' oder 'die Schwuchtel' sieht man ja, dass Genus nichts mit Sexus zu tun haben kann. - Aus linguistischer Sicht stimmt das nicht, im Gegenteil: Betrachtet man diese vermeintlichen und sehr seltenen Ausnahmen genauer, dann bestätigen sie die obige Regel. Denn neutrale Frauen sind entweder solche, die ihre Genderrollen nicht erfüllen ('das Weib' als Schimpfwort, 'das Mensch' in Dialekten als liederliche Frau, 'das Merkel' als versagende Politikerin), oder solche, die noch 'unfertig' sind, d. h. entweder unreif oder unverheiratet ('das Mädchen', 'Fräulein'). Nur erwachsene, möglichst verheiratete, sozial arrivierte Frauen bekommen das 'richtige' Genus ('die Braut', 'Frau', 'Mutter')."

Außerdem: In der NZZ kann Pascal Bruckner nur müde lächeln über die hochtrabenden Pläne für eine Welt nach der Pandemie. Vielleicht reicht es ja auch, zur Normalität zurückzukehren? "Die 'Welt danach' wird das Beste der 'Welt davor' bieten, auch wenn das den großen Ideenpropheten so nicht passt."
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Europa

Einige Strafen, die im Charlie-Hebdo-Prozess ausgesprochen wurden, sind hoch, andere weniger hoch als von der Staatsanwaltschaft gefordert. Yannick Haenel zitiert zum Abschluss seiner Charlie-Kolumne über den Prozess den Anwalt der Nebenkläger Richard Malka, der sagt, dass er über die Strafen keine Genugtuung empfindet, sondern sie zur Kenntnis nimmt: "Wichtiger ist jetzt die Botschaft, die der Gesellschaft durch das Gericht mitgeteilt wird. Es war der Prozess eines mehr oder weniger nahen Umfeldes der Terroristen, das sie mehr oder weniger stark unterstützte. Und was dieses Urteil sagt, ist, dass es keinen Terrorismus gibt ohne dieses Umfeld."
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Medien

Von einer Finanzierung der Öffentlich-Rechtlichen durch Steuergelder, wie es in Dänemark, den Niederlanden, Polen oder Ungarn üblich ist, hält Daniel Bouhs auf Zeit Online nichts: "In Ungarn zeigt sich (…), wie die Regierung den öffentlichen Rundfunk in ihrem Sinne umgebaut hat. Auch hier kommt das Geld für die Sender und die angeschlossene staatliche Nachrichtenagentur, die Medien im Land kostenfrei mit Informationen versorgt, aus dem Staatshaushalt. Viele Mitarbeitende verloren nach regierungskritischen Berichten ihre Jobs. Nun arbeiten dort Menschen, die loyal zu Regierungschef Viktor Orbán sind. Das geht so weit, dass die Medienforschung des Landes das dortige RTL als 'letzte Bastion unabhängiger Medien' bezeichnete."
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Kulturmarkt

Trotz Lockdown kurz vor Weihnachten wird die Buchbranche wohl recht unbeschadet durch die Coronakrise kommen, meint Gerrit Bartels im Tagesspiegel: "Allein schon, weil laut Börsenverein des Deutschen Buchhandels die erste Dezemberwoche umsatztechnisch fast sechs Prozent über dem des Vorjahres lag und auch die Dellen nach dem ersten Lockdown im Frühjahr im Sommer und Frühherbst ganz gut ausgeglichen werden konnten. Von einer 'Aufholjagd' sprach der Börsenvereinsgeschäftsführer Alexander Skipis in diesem Zusammenhang."
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Stichwörter: Lockdown, Coronakrise, Buchbranche

Kulturpolitik

Es ist so weit: Gestern wurde das Humboldt Forum eröffnet, vorerst digital. Nach ersten Besichtigungen fällt die Bilanz in der Presse ziemlich nüchtern aus: Alles ein bisschen eng, meint Nikolaus Bernau in der FR: "So ist der Grundriss, obwohl der Bau nach außen hin so gewaltig wirkt, insgesamt oft erstaunlich knapp bemessen. Selbst die auf dem Plan so riesig erscheinende Eingangshalle an der Stelle des einstigen Eosander-Hofs wirkt im Vergleich zur Pyramiden-Halle des Louvre oder dem Elisabeth-Hof des British Museum mit den Möbeln und der Rieseninstallation des elektronischen Ausstellungsanzeigers jetzt bereits vollgestellt." Ebenfalls in der FR sekundiert Harry Nutt: "Trotz aller Umzugsaktivitäten, zum Beispiel aus den Depots der Dahlemer Museen, wirkt das gegenwärtige Humboldt Forum leer und seltsam unbestimmt, so als wisse man trotz jahrelanger Planungs- und Konzeptionsdiskussionen noch immer nicht ganz genau, was hier einmal gezeigt werden und wie es zueinander in Beziehung gesetzt werden soll."

Aber das Humboldt Forum hat durchaus Potenzial, hofft Ralf Schönball im Tagesspiegel: "Für die teils aus Dahlem nach Mitte gezogenen Museen ist es die große Chance auf ein Millionenpublikum. Ob diese ergriffen wird, wird von der Kunst der Ausstellungsmacher abhängen. Das Humboldt-Forum hat das Potenzial, die Besucherströme von der Museumsinsel anzulocken und zum Verweilen zu verführen: In Cafes und Restaurants, sogar auf dem Dach des Quartiers mit Blick über Schlossplatz und Linden hinweg. Vier Millionen Menschen im Jahr, so gilt die Wette der Forum-Erbauer, werden kommen." Das Humboldt-Forum bleibt ein "Vakuum im Herzen der Nation, das neuralgische Fragen und Kontroversen geradezu ansaugt", schließt Christiane Peitz ebenfalls im Tagesspiegel.

Im Interview mit Susanne Lenz (Berliner Zeitung) spricht Carola Lentz, neue Präsidentin des Goethe-Instituts nicht nur über ihre Pläne, sondern geht auch auf den den Umgang mit kolonialen Objekten ein: "Wo es sich eindeutig um in Unrechtskontexten erworbene Objekte handelt, müssen sie zurückgegeben werden. Das gilt besonders für die menschlichen Überreste. Daneben gibt es eine große Anzahl von Objekten, wo das nicht eindeutig ist und keine Rückgabeforderungen bestehen. In Bezug auf diese gibt es beim Goethe-Institut ein Pilotprojekt, das Invisible-Inventory-Programm. Hier arbeiten das Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln und das Weltkulturen-Museum in Frankfurt am Main mit den National Museums of Kenya sowie zwei Künstlerkollektiven zusammen. Es geht zunächst darum, die Tausende Objekte aus Kenia, die in Sammlungen in Deutschland archiviert sind, digital zugänglich zu machen. Zudem sollen drei Ausstellungen unterstützt auch von der Kulturstiftung des Bundes entstehen."
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Religion

In Deutschland ist Religionsunterricht immer noch bekenntnisgebunden, also weniger ein Unterricht über Religion, sondern eine Unterweisung in ihre Dogmen. Joachim Wagner, ehemals ARD-Journalist, findet das in der Zeit absurd: "Vermutlich gibt es keinen anderen Grundrechtsartikel, bei dem Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit so weit auseinandergedriftet sind wie bei der Garantie des Bekenntnisunterrichts. In einer Gesellschaft, die multireligiöser und areligiöser zugleich geworden ist, brauchen wir eine neue Form des Religionsunterrichts, einen Systemwechsel von der konfessionellen Unterweisung zur Religionskunde. England, Norwegen, Schweden und Luxemburg haben diesen Schritt in den vergangenen Jahren getan."

Außerdem: Kritisch kommentiert Ronald Bilik bei hpd.de die Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, der das Kopftuch für Mädchen an Grundschulen wieder zuließ.
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