9punkt - Die Debattenrundschau

Dieser Subtext des Manifests

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.12.2020. Warum bemüht der "Weltoffenheit"-Aufruf ausgerechnet die Debatte um Achille Mbembe als Beleg, fragt Volker Beck bei starke-meinungen.de. Und übrigens: Was heißt es, dass die Kulturkoryphäen für ihre Institutionen sprechen? Die Debatte um "Weltoffen" ist eine verkappte Schlussstrichdebatte, meint Thomas Schmid in der Welt. Bald zwanzig Jahre regiert Tayyip Erdogan in der Türkei - am besten lässt sich sein Erfolg an der Geburtenrate messen, meint Bülent Mumay in der FAZ. In kontext kritisiert die Grünen-Politikerin  Margit Stumpp die 220 Millionen Euro, die das Wirtschaftsministerium ausschließlich auf bestimmte Medien herniederregnen lassen will.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.12.2020 finden Sie hier

Ideen

Der Aufruf der "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" wirkt an vielen Stellen absichtlich vage, in einem Punkt wird er aber konkret, bei der Benennung Achille Mbembes als Beispiel für die Folgen der BDS-Resolution. "Dies ist nun gleich in mehrfacher Hinsicht ein sehr schlechtes Beispiel", meint der Grünen-Politiker Volker Beck im Blog starke-meinungen.de: "Der afrikanische Philosoph verleugnete nämlich sein Engagement für den BDS, wurde aber unzähliger Aktionen für und im Kontext von BDS überführt. Und er ist nicht nur ein Kritiker israelischer Politik, sondern auch klassische antijudaistische Ressentiments wie der jüdische 'Rachegott' gehören zum rhetorischen Repertoire des von erzkonservativen katholischen Geistlichen unterrichteten Philosophen. Er wurde auch nirgendwo ausgeladen oder mundtot gemacht. Im Gegenteil: Die Ruhrtriennale fiel zwar aus, seine deshalb nicht gehaltene Rede wurde gleichwohl in der Süddeutschen Zeitung abgedruckt."

Beck wirft noch einen anderen Punkt auf. Es handelt sich in dem Aufruf bekanntlich um höchste Repräsentanten renommierter Kulturinstitutionen: "Wer sich anschickt, als Institution und nicht nur als leitende Persönlichkeit derselben, einer Entscheidung des Bundestages entgegenzutreten, hat und muss sich dafür in seinen Gremien die Legitimität geholt haben oder holen." Ob das geschehen ist?

In der Welt (und seinem Blog) ist Thomas Schmid empört über die Dreistigkeit, mit der sich die "Initiative GG 5.3 Welt-offenheit" - "ein Who's Who der staatlich nicht schlecht subventionierten Kultur- und geisteswissenschaftlichen Institutionen" Deutschlands - als verfemte Samisdatgruppe gebärdet, nur weil der Bundestag "keine Staatsknete für BDS-Aktivitäten" rausrücken will. Dass der BDS ansonsten völlig ungehindert in Deutschland agieren kann, wird dabei unter den Tisch gekehrt. Auch die angebliche Sorge um die Redefreiheit Achille Mbembes hält Schmid für einen Vorwand: Es gehe in Wahrheit um eine neue Form der Schlussstrich-Debatte, diesmal von links, schreibt er wie schon vor einigen Monaten Perlentaucher Thierry Chervel (hier). "Das gänzlich haltlose Argument, die 'starre Fixierung' auf die Shoah hindere uns daran, andere Verbrechen, die Europäer begangen haben, angemessen zu würdigen, ist im Grunde ein Plädoyer dafür, mit der Singularität des Holocaust ein Ende zu machen. Auch von links her gibt es seit geraumer Zeit das Bedürfnis, die 'Auschwitzkeule', von der Martin Walser einst vor einem zugeneigten Publikum in der Paulskirche sprach, endlich aus dem diskursiven Handwerkskasten auszusortieren. Es ist beunruhigend, dass jene Unterzeichner der 'Initiative GG 5.3 Weltoffenheit', die das Existenzrecht Israels nie in Frage stellen würden, diesen Subtext des Manifests offensichtlich nicht heraushören können."

In der FR findet Stephan Hebel den Antisemitismusvorwurf gegenüber der "Initiative 5.3 GG" übertrieben, er möchte mehr Diskussion: "Als wahrer Spreng-Satz für deutsche Debatten kann allerdings die folgende Passage verstanden werden: 'Wir erkennen das Bekenntnis Deutschlands zu seiner historischen Verantwortung für den Holocaust an und schätzen es zutiefst. Gleichzeitig verurteilen wir die ungeheure Nachlässigkeit des deutschen Staates, wenn es darum geht, die deutsche Täterschaft für vergangene koloniale Gewalt anzuerkennen. Der Kampf gegen Antisemitismus kann nicht nach Belieben von parallelen Kämpfen gegen Islamophobie, Rassismus und Faschismus entkoppelt werden. (…) Wir lehnen die Vorstellung ab, dass die Leiden und Traumata von Opfern politischer und historischer Gewalt gemessen und in eine Rangfolge gebracht werden können.' Besser lässt sich nicht demonstrieren, wie viel Auseinandersetzung gerade der deutschen Öffentlichkeit noch bevorsteht. In welchem Verhältnis steht die Kolonialismus-Debatte, die bei uns gerade erst begonnen hat, zur Verantwortung für die Vernichtung der Juden? Welche Priorisierungen unter Opfergruppen lassen sich, wenn überhaupt, aus der Geschichte ableiten?"

Die Kulturpotentaten aus fast allen wichtigen deutschen Häusern behaupten, Vielfalt zu unterstützen, wenn sie Israelboykotteure einladen. Dabe gäbe es noch ganze andere Vielfalt, die man in Deutschland diskutieren könnte, schlägt Stefan Laurin in einem konstruktiven Beitrag in den Ruhrbaronen vor: "Warum ist Fridays for Future und der mit der Bewegung einhergehende Verzichtsethos vor allem bei reichen, weißen Kindern aus Mittel- und Nordeuropa so beliebt? Sicher, der Klimawandel ist ein globales Problem, aber dem Lösungsweg, den Deutschland eingeschlagen hat, mag niemand folgen. Die US-Demokraten haben sich wieder der Kernkraft geöffnet, weltweit werden zahlreiche neue Meiler geplant. Auch da wäre es doch spannend zu hören, was 'internationalen und lokalen Stimmen' sagen. Vielleicht kann man sogar etwas von ihnen lernen?"

All die Enthüllungen über John F. Kennedy haben dem Mythos - zum Erstaunen der Enthüller - nichts anhaben können. Richard Herzinger lernt davon etwas über das Wesen des Mythos selbst: "Rationale Kritik, die nicht begreift, dass der Mythos keineswegs nur 'falsches Bewusstsein' ist, sondern durchaus auch Wahrheit enthält, konserviert und tradiert, verfehlt ihrerseits ihren Gegenstand."
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Europa

Die ukrainische, in Deutschland lebende Autorin und Regisseurin Jelena Jeremejewa beklagt in einem Essay für Zeit online die Perspektivlosigkeit, der ihr Land auch von der EU überlassen wird: "Es ist zwar unübersehbar, dass die Ukraine von den ersten Milliardenzahlungen für die Zerstörung des atomaren Kapitals in den Neunzigerjahren bis hin zu den steten Krediten des IWF, die keine der ukrainischen Generationen je wird zurückbezahlen können, immense finanzielle Unterstützung bekam; dass sie sich aber trotz dieser Unterstützung in einem ökonomischen, territorialen und nationalen Desaster befindet. Ist das der Weg nach Europa?"

Bald zwanzig Jahre ist Tayyip Erdogan in der Türkei an der Macht. Bülent Mumay erinnert in seiner FAZ-Kolumne an die großen Versprechen, mit denen er startete. Und heute? "Die wirtschaftlichen Probleme ließen sogar die Geburtenrate sinken. Wer selbst nicht genug zu essen hat, hört nicht länger auf Erdogans auf jeder Wahlkundgebung wiederholte Empfehlung, 'mindestens drei Kinder' in die Welt zu setzen. Als Erdogan an die Macht kam, lag die Geburtenrate bei 2,4 Kindern pro Frau, 2019 sank sie auf 1,88. Wie auch nicht? Während die offizielle Inflationsrate auf vierzehn Prozent beziffert wird, stiegen die Preise für Windeln in den letzten anderthalb Jahren um 142 Prozent!"

Ebenfalls in der FAZ, im Leitartikel auf Seite 1, beleuchtet Michaela Wiegel das verkrampfte Verhältnis zwischen Staat und Religion in Frankreich: "Die Trennung von Staat und Religion ist bis heute eine wesentliche Dimension der Demokratie. Doch die Laizität wird immer mehr politisch instrumentalisiert, insbesondere von Marine Le Pen, die sie gegen den Islam in Stellung bringt."
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Medien

Das Wirtschaftsministerium plant bekanntlich einen warmen Regen für Anzeigenblätter und andere Printprodukte, die mit 220 Millionen Euro unterstützt werden sollen. In der Wochenzeitung kontext, die der taz beiliegt, spricht Susanne Stiefel mit Margit Stumpp, Medienexpertin der Grünen, die das Prozedere bei der Entscheidung über diese Subventionen kritisiert und etwas für die eigene Klientel - gemeinnützige Medien - herausholen will: "Ich kann nur für die Grünen sagen, dass wir das ursprüngliche Konzept heftig kritisiert haben. Das einzige, was wir letztlich erreicht haben, ist, dass jetzt nicht mehr die steigenden Zustellkosten finanziert werden, sondern die digitale Transformation. Aber im Prinzip läuft es auf das gleiche Ergebnis hinaus: Die großen Verlage, die ohnehin gut aufstellt sind, kriegen noch was oben drauf. Ein Beitrag zur medialen Vielfalt wird nicht geleistet, alles, was sich sonst noch im Digitalen abspielt, eben gerade Non-Profit-Journalismus, alles, was wir dringend angehen müssen, ist kein Thema."

Liefert Julian Assange nicht aus, fordert die Redaktion des Guardian in einem nicht gezeichneten Leitartikel. Man vergisst zwar zu erwähnen, dass Assange kein Waisenknabe ist und Trump und Putin gegen Hillary Clinton unterstützte, aber das ändert nichts, daran, dass er mit Wikileaks schlimmste Skandale, etwa die amerikanischen Kriegsverbrechen im Irak, enthüllte: "Niemand ist für die von WikiLeaks aufgedeckten Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden. Stattdessen hat die Trump-Administration einen groß angelegten Angriff auf den Internationalen Strafgerichtshof gestartet, weil er es gewagt hat, diese und andere Vergehen zu untersuchen, und verfolgt den Mann, der sie ans Licht gebracht hat."

Medien sollen aggressiver in ihrer Berichterstattung über die Klimakrise werden. Julian Rodemann lässt in der SZ verschiedene Ansätze zur Frage, ob Journalismus parteiischer werden solle, Revue passieren, unter anderem den des Medienprofessors Michael Brüggemann: "Dass nun etwa der Stern mit 'Fridays for Future' kooperiere, findet Brüggemann 'mutig und gut'. Es hatte viel Kritik an der Zusammenarbeit gegeben, auch aus den eigenen Reihen. Ein Reporter wurde mit den Worten zitiert: 'Man kann sich mal mit einer Sache gemein machen. Mit einer Bewegung aber nicht.' Brüggemann hält dagegen: 'Absolute journalistische Unabhängigkeit ist eine Illusion.' Die eigenen Werte und Meinungen könne keiner ausblenden - da sei es ehrlicher, sie transparent zu machen."
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Gesellschaft

Astrid Passins Vater ist vom Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri vor vier Jahren ermordet worden. Konrad Litschko spricht mit ihr in der taz über das Leben danach. Die Behörden agierten zunächst ziemlich ignorant gegenüber den Opfern und Hinterbliebenen, sagt sie, auch wenn es sich im Lauf der Zeit leicht verbessert habe. Aber "auch mir wurden anfangs fragwürdige Formulare und eine Rechnung für die Obduktion meines Vaters geschickt. Und die Opferrente für mich und viele andere ist viel zu niedrig eingestuft. Den Höchstsatz von gut 800 Euro bekommen nur sehr wenige, die meisten nur 30 Prozent davon, manche sogar gar nichts. Ich bemühe mich aber nicht nur um meine Anliegen, sondern auch um die einiger anderer."
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