9punkt - Die Debattenrundschau

In heiliger Sachlichkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.12.2020. Judentum, Christentum und Islam wollen es vielleicht verbergen, aber sie sind vor allem Dichtung, erklärt Peter Sloterdijk in der FR. Corona hat zwar alles überschattet, aber eigentlich war 2020 ein Jahr der Fortschritte, schreibt Michael Miersch bei den Salonkolumnisten und nennt Impfstoffe aus Gentechnik, Fusionsreaktoren, Laborfleisch. Der Attentäter von Halle hat die Höchststrafe bekommen - aber wieder wurde für den Prozess nicht sein Umfeld beleuchtet, kritisiert die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.12.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Der Attentäter von Halle wurde zur höchsten denkbaren Strafe verurteilt. Dennoch fragt Pia Stendera in der taz: ″Ist das genug?″ Wieder einmal, so scheint es, gab es nicht genug Ermittlungen zum Umfeld: ″Relevante Plattformen, auf denen sich der Täter bewegte, schienen nahezu unbekannt, vorhandene Datenträger wurden nur oberflächlich gesichtet. Die Lücke, die durch dürftiges Engagement entstanden war, konnte nur ein wenig durch von der Nebenklage vorgeschlagenen Expert:innen gefüllt werden. Sicher ist es die Aufgabe der Strafjustiz, die Gesellschaft vor dem angeklagten Täter zu schützen. Doch wie nachhaltig ist der Schutz vor einem Täter, dessen ideologisches Umfeld unberührt bleibt?″

Die Ärztin Natalie Grams, die als Globuli-Kritikerin bekannt wurde, hat jetzt eine Kolumne bei hpd.de. In ihrem jüngsten Artikel beharrt sie, dass das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ein Ausdruck von Autonomie und Würde ist, und dass das Bundesverfassungsgericht jüngst in diesem Sinne urteilte: ″Bei klarem Verstand und nach gebührender, nachhaltiger Aufklärung über Alternativen und Hilfsangebote kann am Ende nur ich allein entscheiden, ob ich mein Leben als weiterlebenswert erachte, oder ob ich freiverantwortlich aus dem Leben scheiden möchte. Und an diesem Punkt stellt sich durchaus zwingend die Frage nach der Rolle ärztlicher Unterstützung, will man nicht wieder den Suizidwilligen auf die Sackgasse all der Unwägbarkeiten und Risiken verweisen, die mit untauglichen Mitteln und Methoden verbunden sind.″

Die die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung (FNS) hatte vor kurzem den Autor und Vlogger Gunnar Kaiser eingeladen, eine Diskussion auf Youtube zu moderieren. Zu den Gästen gehörten Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) und die Chefredakteurin des Philosophie Magazins, Svenja Flaßpöhler. Soweit alles im grünen Bereich, bis die Naumann-Stiftung - angeregt von einigen Twitterern - befand, dass Kaiser zu Rechtspopulismus und Verschwörungstheorie (bei den Coronamaßnahmen) neige und sich von ihm distanzierte. Was ist eigentlich aus dem radikalen Misstrauen geworden, mit dem Intellektuelle wie Enzensberger und Peter von Matt einst der politischen und wirtschaftlichen Macht begegneten, fragt Kaiser jetzt in der Welt. "Ist es unter der Floskel 'Verschwörungstheorie' zusammengebrochen? Wir verdrängen guten Gewissens Stimmen aus dem Chor derer, die sich Gedanken zur Lage machen - Stimmen, die vielleicht auch Unerhörtes zu sagen hätten. Seinerzeit wurde ein Film, der die Meldementalität der Deutschen anprangerte, wegen eben dieser Kritik von oberster Stelle als untragbar gemeldet - heute wird jemand, der die grassierende Cancel Culture und den Unwillen zum sachorientierten Gespräch kritisiert,von einer liberalen parteinahen Stiftungen, die zum Gespräch über Meinungsfreiheit eingeladen hatte, nachträglich wieder ausgeladen. Aber das Verdrängen kann auch weniger deutliche Gestalt annehmen, etwa die des Ignorierens, des Ausblendens. Wann haben wir zuletzt etwas von Juli Zeh gehört? Welchen bleibenden Eindruck haben die klugen Bemerkungen der Buchpreisträgerin Kathrin Schmidt gemacht oder die differenzierten Worte eines Daniel Kehlmann? Diese Stimmen sind nicht verstummt, aber sie werden beschwiegen."

Auch Aleida Assmann sieht die Meinungsfreiheit in Gefahr. Mit Blick auf den BDS-Beschluss des Bundestags warnt sie in der FR: "Die Polarisierung ist ein behaglicher Zustand der Sicherheit und Selbstbestätigung, der dadurch aufrechterhalten wird, dass jeder Ansatz zu Differenzierung mit einem dicken Schwarz-weiß-Pinsel übermalt wird. So verhärten sich die Fronten und der Stellungskrieg beginnt. Dann gibt es plötzlich keine gemeinsamen Probleme mehr, sondern nur noch Gegner und Feinde."

Eine Kippa würde er im Alltag nicht gern tragen, denn Antisemitismus gibt es in Deutschland nach wie vor, bekennt der aus Usbekistan stammende Polizist Jewgenij Wassermann im Interview mit Zeit online. Bei der Polizei selbst habe er aber nur gute Erfahrungen gemacht, auch wenn ihn die Berichte über rechtsextreme Chatgruppen bei der Polizei beunruhigen: "Mich macht es extrem wütend, dass es einige wenige schaffen, den Ruf der gesamten Polizei zu ruinieren. Ich habe 14 Jahre lang als Polizist auf der Straße gearbeitet und bin jemand, dem man seinen Migrationshintergrund ansieht. Dennoch kann ich mich nicht erinnern, dass ich mich jemals unwohl gefühlt habe bei der Polizei. Die meisten meiner Kollegen waren weltoffen und tolerant. Denen gegenüber finde ich das unfair." Interessant auch, was Wassermann über die Seminare für interkulturelle Kompetenz erzählt.

In einem langen, lesenswerten Interview mit der NZZ erzählt die Münchner Künstlerin Ilana Lewitan die Geschichte ihrer Eltern, polnischer Juden, die knapp den Holocaust überlebten und in Deutschland nie heimisch wurden. Und sie spricht über den wachsenden Antisemitismus in Deutschland: "Der Antisemitismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Viele Leute, auch gut gebildete, haben Angst vor dem Abstieg, und sie empfinden Neid auf andere - das ist die Quelle des Antisemitismus. Man greift plötzlich wieder auf diese alten Narrative zurück, um die Schuldigen einer bedrückenden Gegenwart zu finden. Und der Antisemitismus ist ja kein Problem der Juden alleine. Denn das ist ein Barometer, das anzeigt, wo wir als Gesellschaft insgesamt stehen. Dort, wo die Juden angegriffen werden, hört die Demokratie auf."
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Kulturmarkt

Einige Universitätsbuchhandlungen auf Unigeländen in Deutschland werden wegen Corona schließen und nicht wieder öffnen, berichtet Uwe Ebbinghaus in der FAZ. Der Trend ist allerdings nicht neu: "Schon lange vor der Corona-Pandemie hatte sich der digitale Wandel auf dem Fachbuchmarkt bemerkbar gemacht. Viele Dozenten setzen in ihren Veranstaltungen inzwischen Buch-Exzerpte oder Online-Quellen ein. 'Die Beziehung zu Texten ist funktionaler geworden', sagt Hans-Peter Richter, Geschäftsführer eines auf Jura und Wirtschaftswissenschaften spezialisierten Fachbuchverlags. Für viele Studenten ist zudem die Bestellung bei Amazon geradezu selbstverständlich geworden. Diese Entwicklung brachte in den letzten Jahren schon Traditionsgeschäfte wie Luce auf dem Bielefelder Campus zum Aufgeben."
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Ideen

In seinem jüngsten Buch, "Den Himmel zum Sprechen bringen", fasst Peter Sloterdijk Religion als Dichtung auf, "Theopoesie". Im Gespräch mit Michael Hesse in der FR erklärt er, was er damit meint: ″Der globale Befund gilt natürlich - das ist die Pointe meiner Darstellung - ebenso für die 'großen' Religionen wie das Christentum und den Islam wie auch das Judentum. Deren Vertreter hatten schon früh ein Interesse daran, zu behaupten, ihre Offenbarungen seien wesentlich nicht-mythologischer und nicht-poetischer Art, sie seien vielmehr in einer Art von Offenbarungsprosa, in heiliger Sachlichkeit übermittelt worden, bei der kein von Menschen beigesteuertes dichterisches Element von Bedeutung sein sollte. Doch auch die strengsten monotheistischen Systeme müssen als theopoetische Gebilde beschrieben werden."
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Medien

Dringlich plädiert Laura Poitras, die bei den Snowden-Enthüllungen eine wichtige Rolle spielte, in der New York Times gegen eine Auslieferung Julian Assanges nach Amerika: ″Es gibt viele Gründe, Kritik an Assange zu äußern, und ich bin ihnen nicht ausgewichen. Aber wir sollten uns darüber im Klaren sein, wofür er angeklagt wird und was für die Pressefreiheit auf dem Spiel steht. Die Veröffentlichungen von WikiLeaks deckten Kriegsverbrechen auf, enthüllten bisher unbekannte Todesfälle unter der Zivilbevölkerung im von den Amerikanern besetzten Irak, beschrieben die Korruption der Regierung in Tunesien am Vorabend des Arabischen Frühlings und generierten unzählige weitere Berichte, die die Titelseiten von Zeitungen auf der ganzen Welt in den Jahren 2010 und 2011 dominierten."
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Wissenschaft

Corona hat alles überschattet, aber 2020 war ein Jahr der Fortschritte, schreibt Michael Miersch bei den Salonkolumnisten. Der erste Fortschritt, der Impfstoff aus Gentechnik, hat direkt mit Corona zu tun. Als zweiten Fortschritt nennt Miersch die Entwicklung von Fusionsreaktoren, als dritten die erstmalige Zulassung von Fleischprodukten auf Basis von Zellkulturen. Sie könnten die Welt radikal verändern, so Miersch: ″Mehr als 60 Milliarden Nutztiere werden Jahr für Jahr geschlachtet, verkündet der 'Fleischatlas' der Heinrich-Böll-Stiftung, 58 Milliarden davon sind Hühner. Diese Tiere verbrauchen enorme Mengen Futter, Wasser und Landfläche. Sie hinterlassen Gebirge aus Kot und Seen aus Urin. Ihr Atem und ihre Darmgase tragen erheblich zum Klimawandel bei. Ganz zu schweigen von dem ethischen Dilemma, dass wir Menschen für unsere Ernährung andere Lebewesen töten, die Schmerz und Angst empfinden. Laborfleisch könnte unser aller Leben und die Ökologie des Planeten stärker verändern als das Auto, die Empfängnisverhütung oder das Internet."
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Religion

Christen und Kulturchristen merken gar nicht, wie sehr ihre Religion hier privilegiert wird, schreibt die Journalistin Melina Borčak im besten Neusprech in der taz. So wünsche man ihr, obwohl sie Muslimin sei, rücksichtslos frohe Weihnachten: ″Normativität zieht immer Privilegien mit sich, und scheint den 'Normalen' unsichtbar. Wer die Probe machen will, beantworte sich folgende Fragen: Bist du frei vom Druck, Feiertage anderer Religionen zu feiern, die deinem Glauben widersprechen? Findest du in Medien realistische Darstellungen deiner Religion und ihrer Mitglieder? Kannst du ein Arsch sein, ohne dass deine Religion als Grund herhält?″ Ach ja, das geht.

Außerdem: In der NZZ denkt der Theologe Jan-Heiner Tück über den jüdischen Gott nach.
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