9punkt - Die Debattenrundschau

Das Gesetz eiskalter Nützlichkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.01.2021. In der taz fragt Silke Mertins, seit wann die Kritik am Islamismus keine linke Position mehr ist. Für Michael Wolffsohn sind 1700 Jahre jüdische Geschichte in Deutschland in der Welt kein Grund zu feiern. In der FR warnt der Philosoph Rainer Forst vor demokratischer Regression. Die SZ prangert den Filz des Kulturhauptstadt-Programm an. Im Tagesspiegel geißelt Folkert Uhde die obszönen Spitzengagen in der Klassik. In der Welt wünscht sich Janina Gelinek dagegen mehr kapitalistisches Gerempel von den Kulturinstitutionen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.01.2021 finden Sie hier

Politik

Als Salman Rushdie mit der Fatwa belegt wurde, wagte die taz noch, die Satanischen Verse zu drucken. Heute würde sie sich das vielleicht noch trauen, aber bestimmt nicht mehr wollen, erkennt Silke Mertins in der taz: Die Kritik am Islamismus ist keine linke Position mehr, schreibt sie: "Es geht beim Islamismus um gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Kein Rassismus und keine Benachteiligung kann das relativieren. Diese Tatsache übersehen zu wollen ist fast schon wieder eine Leistung an sich. Man kann und muss einem großen Teil der Linken deshalb vorwerfen, Menschenfeindlichkeit aufgrund einer selektiven Erblindung nicht zu erkennen. Salman Rushdie hatte Glück im Unglück. In einer Situation, die zum Verzweifeln war, konnte er sich der Solidarität der politischen Linken sicher sein. Meinungsfreiheit stand noch über der Angst, als Rassistin oder Rassist bezeichnet zu werden. Linke und Linksliberale standen Religionskritikern aller Länder bei. 'Das Leben des Brian' und die Lust, sich über religiösen Pietismus lustig zu machen, war zu der Zeit kulturelles Allgemeingut. Wozu braucht es eine Linke, wenn sie denen, die gesellschaftliche Konventionen hinterfragen, Unterstützung verweigert? Kritik am Islamismus den Konservativen und Rechten zu überlassen ist ein großer politischer Fehler."
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Kulturpolitik

Natürlich sei Nürnberg auch ein bisschen beleidigt, weil Chemnitz zur Kulturhauptstadt 2025 gekürt wurde, räumt Uwe Ritzer in der SZ ein, aber sie haben Recht mit ihren Vorwürfen gegen ein Auswahlsystem, das Verfilzungen zeige, wie man sie sonst nur von Olympia kennt: "Ein Kreisverkehr von einigen wenigen Amigos ist unterwegs, dessen Protagonisten nicht einmal selbst bestreiten, dass sie den fliegenden Wechsel betreiben: heute Programmchef einer Kulturhauptstadt, morgen Juror, zwischendurch Berater. Es ist ein Postenschacher, der keine Schamgrenzen kennt. Da empfiehlt ein angehender Juror einer Bewerberkommune seinen Ex-Geschäftspartner und beteiligt sich mit seiner Firma am Kulturhauptstadtprogramm einer Bewerberstadt, die er als Juror dann auch mit zur ECoC wählt. Ein von allen hofierter Kulturhauptstadt-Guru sammelt Insiderinformationen, und seine Frau greift mit ihrer Firma Aufträge ab. Bisweilen bekleidet ein und dieselbe Person auch mehrere Rollen gleichzeitig." (mehr dazu in unseren Resümees).

In der Welt fordert Janina Gelinek, Co-Leiterin des Berliner Literaturhauses, dass der Kulturbetrieb wie die Immobilien- oder Autorindustrieb Entschädigungen verlangt für die entgangenen Umsätze: "Umsatz ist messbar, Umsatz kann 'einbrechen', und schon verfügt man über eine wirkungsvolle Metapher, die eine sofortige Handlungsaufforderung beinhaltet. Wie rührend wirkt dagegen der Claim 'Ohne (K)uns(t) wird's still', den einige Kinos und Klubs auf ihre verwaisten Ankündigungsplakate klebten. Das stimmt, ist aber eben nur der kleinste gemeinsame Nenner. Genauso gut könnte man im Gerempel der nach staatlichen Förderungen verlangenden Wirtschaftsvertreter sagen: Ohne uns wird es viel zu laut. Ohne uns fehlt Differenzierung, Kritik, Erkenntnis, Empathie, Reflexion in der kapitalistischen Kakofonie, ohne uns fehlen die ganz leisen Töne einer Ouvertüre wie auch der subtile böse Blödsinn des Kabaretts, das dringend mit der Arbeit weitermachen und sich des ganzen neuen Corona-Vokabulars annehmen müsste."

Klassik kann aber auch Kapitalismus: Kürzlich hatte der Kulturmanager Folkert Uhde im Van-Magazin einen New Deal für den Klassikbetrieb gefordert (unser Resümee). Im Interview mit Christiane Peitz im Tagesspiegel erklärt er, wie er sich etwa die Einbeziehung des Publikums vorstellt oder eine Reform der obszönen Spitzengagen: "Ich glaube, das Philharmonie-Publikum fände es nicht lustig, wenn es wüsste, dass die Einnahmen von 2200 Tickets gerade ausreichen, um diese eine Geigerin zu bezahlen. Schon in der Finanzkrise stiegen übrigens die Spitzengagen, die Gefahr besteht jetzt wieder: Einige Wenige verdienten danach viel mehr,  sehr viele sehr viel weniger. Auch die Frage der Nachhaltigkeit wird immer dringlicher: Wie lässt es sich noch begründen, dass ein US-Orchester für ein paar Konzerte nach Deutschland fliegt - oder ein deutsches nach China? Nur damit hier und da noch mehr Brahms gespielt wird?"

Im FAZ-Interview mit Kerstin Holm spricht der russische Architekturhistoriker Armen Kasarjan über die armenischen Denkmäler in Nagornyj Karabach, denen im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan die Zerstörung droht: "Die heutige staatliche Kulturpolitik Aserbaidschans hinsichtlich armenischer Denkmäler erinnert stark an die Politik in der Türkei während der fünfziger bis achtziger Jahre. Nachdem die türkischen Machthaber um 1915 bis 1920 ein Genozid an den Armeniern verübt hatten, blieben als Zeugen ihrer Existenz noch die Denkmäler übrig, Klöster, Kirchen, Friedhöfe. Damals war es auch offizielle Doktrin, dass im Osten des Landes niemals andere Ethnien als Türken lebten, ob Armenier, Kurden oder Georgier. Hunderttausende Denkmäler wurden zerstört. Und alle Kirchen, die nicht vernichtet wurden, schrieb man den Vorfahren der Türken zu."
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Ideen

Der Philosoph Rainer Forst erkennt in der FR das Dilemma einer Demokratie, die in Krisenzeiten wie der Corona-Demokratie weder zu wenig Kompetenz noch zu viel Führungsanspruch behaupten darf: "Demokratische Regression ist aber nicht nur bei solchen akuten Fällen von Realitätsverweigerung anzutreffen. Auch dort, wo Bürger und Bürgerinnen sich in Untertanen verwandeln, die Befehle, Verbote und schließlich Aufhebungen von Hausarrest lieben, geht das für die Demokratie essenzielle Bewusstsein verloren, dass wir selbst es sind, die einander Gründe für die für alle geltenden rechtlichen Normen und sozialen Verhaltensweisen schulden. Diese Rechtfertigung lässt sich nicht abtreten, weder an Legislativen noch an strenge Exekutiven. In diesem Rechtfertigungskontinuum gibt es Streit, aber der ist nicht nur unabwendbar, sondern förderlich. Bürger und Bürgerinnen müssen das Begründungsspiel der Demokratie als ihr eigenes begreifen, nicht als eines, das ihnen nur vorgeführt wird."
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Geschichte

Seit siebzehnhundert Jahren leben Juden in Deutschland, seit Kaiser Konstantin 321 das Dekret unterzeichnete, das ihre Berufung in den Stadtrat von Köln erlaubte. Für Michael Wolffsohn ist das natürlich kein Grund, in einen staatlich verordneten "Judenjubel" einzufallen, wie er in gewohnter Schärfe in der Welt schreibt: "Konstantin wollte die Juden nicht, er brauchte sie. Im zwar hoch entwickelten, doch bereits zerfallenden, krisengeschüttelten Römischen Reich und ganz besonders im damals unterentwickelten Germanien wurden Bürger gebraucht, die - spitz formuliert: anders als die wenigen einheimischen und als die vielen ein- oder zugewanderten Barbaren - lesen und schreiben oder Geld- und Fernhandel betreiben konnten. Juden lebten also am 'deutschen Rhein' bereits vor den meistens erst später eingewanderten Germanen. Konstantins Judenpolitik kennzeichnet epochenübergreifend deutschjüdische, ja, diasporajüdische Existenz. Juden waren im bald ganz christlichen Abendland nicht gewollt. Willkommen waren sie nur, wo, wenn und solange sie gebraucht wurden. Es galt das Gesetz eiskalter Nützlichkeit."
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Wissenschaft

Leicht abgestoßen zeigt sich Adrian Lobe in der NZZ von den Plagiatsjägern des VroniPlag Wiki, die Doktorarbeiten prominenter Politiker an die Öffentlichkeit ziehen, sich selbst aber hinter Pseudonymen wie "Stratumlucidum" verschanzen: "Zwar verwahrt sich VroniPlag Wiki gegen den Vorwurf, es sei ein Pranger. Doch der Furor, der nachgerade kriminalistische Eifer, der Zitatediebe habhaft zu werden und an ihnen ein Exempel zu statuieren - all das hat etwas Jakobinisches. Die Revolutionäre um Georges Danton waren geradezu besessen, der Aristokratie die Masken vom Gesicht zu reißen, das bigotte Schauspiel der Macht zu beenden. Genau dieses Motiv zeigt sich, wenngleich in abgeschwächter Form, bei den zeitgenössischen Moralpolizisten: Die Plagiatejagd zielt darauf ab, Politiker zu demaskieren, den falschen Glanz akademischer Weihen zu entlarven, das Podest, auf dem die Würdenträger stehen, zu demontieren."
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Stichwörter: Plagiate, VroniPlag Wiki

Medien

In der SZ stellt sich Frederik Obermaier ganz hinter Julian Assange, über dessen Auslieferung in die USA am Montag ein Londoner Gericht entscheiden wird: "Ein Staatsgeheimnis ist letztlich nur das, was ein Staat zum Geheimnis erklärt. Das heißt aber nicht automatisch, dass man darüber nicht berichten sollte. Was Assange gemacht hat, machen Journalistinnen und Journalisten fast jeden Tag. Sie veröffentlichen Staatsgeheimnisse. Mit ihrer Jagd auf Assange begeben sich die USA auf eine Stufe mit Ländern wie China oder Iran. Sie erklären kritischen Journalismus zur Gefahr für die nationale Sicherheit, um ihn unerbittlich verfolgen zu können."

In der taz erinnert Dorothea Hahn daran, dass in den USA nicht die Soldaten ins Gefängnis gebracht wurden, deren Menschenrechtsverletzungen Wikileaks mit dem Video "Collateral Murder" aufgedeckt hatte, sondern seine Mitstreiterin Chelsea Manning. Dennoch habe Assange viele Sympathien verspielt: "Demokrat.innen und Linken fällt zu seiner Person als Erstes die Wahlhilfe für Trump ein und zweitens die - längst fallen gelassenen - Vorwürfe wegen Vergewaltigung in Schweden. Die großen Medien berichten distanziert, darunter jene, die Enthüllungsartikel veröffentlicht haben, die auf Informationen von Wikileaks basieren. Und selbst die Journalistenorganisation Comittee to Protect Journalists (CPJ) laviert herum, wenn es um Assange geht. 'Er ist kein Journalist', befindet CPJ, 'aber seine Verfolgung stellt eine Bedrohung für Journalisten in aller Welt dar."
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Europa

Auf ZeitOnline prangert Fintan O'Toole noch einmal den Brexit als "irrwitzige Wichtigtuerei" an, der sich zum Jahreswechsel zu den scheppernden Klängen der Big-Ben-Tonbänder vollzog: "Die Brexiteers haben das Land, dem sie seine Größe zurückgeben wollten, nicht nur kleiner gemacht, sondern sich auch bei der Identitätsfrage verspielt: Sie haben auf die Karte eines gestärkten Wir-Gefühls gesetzt und sich dafür eine auf Dauer gestellte Identitätskrise eingehandelt."
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Stichwörter: Brexit, O'toole, Fintan