9punkt - Die Debattenrundschau

Parziell erfolgreicher Angriff

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.01.2021. In einem großen New York Times-Essay warnt Timothy Snyder nochmal vor dem "Präfaschisten" Donald Trump. Die Gefahr ist noch nicht gebannt, sagen auch Daniel Ziblatt in Zeit online und Richard Herzinger in seinem Blog. Mehrere Medien beklagen den Einfluss der sozialen Medien auf das politische Geschehen. Wo ist das Pariser Voltaire-Denkmal geblieben, das von Antirassisten beschmutzt und seitdem nicht wieder aufgestellt wurde, fragt die FAZ.  Die Salonkolumnisten beleuchten den gesellschaftlichen Einfluss der Anthroposophie.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.01.2021 finden Sie hier

Politik

In einem fulminanten Essay für die New York Times beleuchtet Timothy Snyder verschiedene Aspekte des "Präfaschisten" Donald Trump. "Schon im Oktober war klar, dass sein Verhalten auf einen Putsch hinauslief, ich hatte es in der Presse geschrieben (unsere Resümees). Nicht weil die Gegenwart die Vergangenheit wiederholt, sondern weil die Vergangenheit Licht auf die Gegenwart wirft. Wie historische faschistische Führer hat sich Trump als einzige Quelle der Wahrheit ausgegeben. Sein Gebrauch des Begriffs 'Fake News' antwortete auf die Nazi-Verleumdung 'Lügenpresse'. Wie die Nazis bezeichnete er Journalisten als 'Volksfeinde'. Wie die Nazis kam er an die Macht, nachdem die konventionelle Presse geschwächt war. Die Finanzkrise von 2008 tat den amerikanischen Zeitungen an, was die große Depression den deutschen angetan hatte."

Für Snyder ist es auch sehr denkbar, dass Trump oder andere "Regelbrecher" aus der Republikanischen Partei in der Perspektive 2024 eine Dolchstoßlegende aufbauen und umso bedrohlicher zurückkehren. Richard Herzinger sieht es in seinem Blog genauso: "Niemand sollte sich der Illusion hingeben, die von dem kriminellen Beinahe-Autokraten im Weißen Haus zum Aufstand gegen die demokratischen Institutionen aufgewiegelten potenziellen Bürgerkriegstruppen würden, nachdem sie aus dem Umkreis des Kapitols vertrieben wurden, nunmehr Ruhe geben. Ihr parziell erfolgreicher Angriff auf das Herzstück der US-Demokratie wird ihnen vielmehr als Fanal dafür dienen, weitere, noch weit brutalere Gewaltakte zu verüben."

Auch der Demokratieforscher Daniel Ziblatt, Mitautor des Buchs "Wie Demokratien sterben", warnt im Gespräch mit Marcus Gatzke und Lenz Jacobsen in Zeit online: "Laut einer Umfrage unterstützen 43 Prozent der republikanischen Wähler den Angriff auf das Kapitol. 138 Kongressabgeordnete, die für Millionen Wähler stehen, haben dagegen gestimmt, die Wahl Joe Bidens anzuerkennen. Angesichts dieser breiten Unterstützung ist es ganz sicher noch nicht vorbei." Im Interview mit der FR sieht Ziblatt aber auch Licht am Ende des Tunnels: "Wenn die republikanische Partei gespalten wird und Trump als Kandidat einer dritten Partei ins nächste Präsidentenrennen gehen wird, könnte die moderate republikanische Basis zur Beruhigung beitragen. Es würde dann eher ein Vielparteiensystem geben, so wie in Europa. Ein gesünderer Weg wäre es, wenn die demokratische Partei institutionelle Reformen auf den Weg bringen würde, so dass diese effektiver und demokratischer werden."

Arnold Schwarzenegger wendet sich in einem Video an die amerikanische Bevölkerung - und vergleicht die Attacke auf das Kapitol mit der Pogromnacht von 1938 in Deutschland und Österreich:


Viel retweetet wird ein Beitrag des Senders MSNBC, der erklärt, warum die Attacke weitaus schlimmer war, als sie zunächst am letzten Mittwoch aussah.



Auch die New York Times analysiert, "wie eine Reihe von Fehlern zu einem dunklen Tag im Capitol führte". Auf der Meinungsseite der Times fordert Charles M. Blow, dass auch "Trumps Lakaien" in der Republikanischen Partei wie etwa Ted Cruz bestraft werden müssen. Außerdem: Der Autor Andrew L. Seidel erklärt im Gespräch mit hpd.de den Einfluss des "Christlichen Nationalismus" auf die Trump-Anhänger.
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Europa

Besudelte Aufklärung - die Voltaire-Statue in Paris, Rue de Seine, fotografiert am 27. Juni 2020. Foto: Thierry Chervel
Wo ist das Voltaire-Denkmal im sechsten Arrondissement von Paris, fragt Jürg Altwegg in der FAZ. Seit Monaten ist nur noch der Sockel zu sehen, nachdem es im Juni letzten Jahres Opfer einer antirassistisch motivierten Farbattacke wurde: "Im August wurde es zur Reinigung abmontiert. Wo ist Voltaire geblieben? Die Stadt wartet auf die Bewilligung des Staats, um die gesäuberte Statue wieder aus dem Depot zu holen. Das kann, wenn auf beiden Seiten der politische Wille fehlt, lange dauern."

Heute wollen die deutschen Kulturminister von Sylvia Amann, Vorsitzende der internationalen Expertenjury für die Auswahl der Europäischen Kulturhauptstadt 2025, wissen, wie es zur Wahl von Chemnitz kam, berichtet Uwe Ritzer in der SZ: "Neue Recherchen der Süddeutschen Zeitung legen den Verdacht nahe, dass die fragwürdigen Umstände der Chemnitz-Kür keine Einzelfälle waren. Auch in Zusammenhang mit der diesjährigen Europäischen Kulturhauptstadt Temeswar herrscht Aufklärungsbedarf. Auch in der mit 330 000 Einwohnern drittgrößten Stadt Rumäniens, die den ECoC-Titel pandemiebedingt erst 2023 tragen wird, war und ist ein Beziehungsgeflecht am Werk, in dem die Protagonisten ihre Rollen in Windeseile wechseln. Auch dort gibt es geschäftliche Verbindungen bis in die Jury hinein. Und wie in Chemnitz tauchen auch in Temeswar die Namen von Ulrich Fuchs, Sylvia Amann, Mattijs Maussen und Jiří Suchánek auf."

In der Welt lobt Maram Stern, Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses, die EU für ihre im Dezember verabschiedete Erklärung zur Bekämpfung des Antisemitismus: "Dieses Dokument könnte tatsächlich eine neue Qualität in der Bekämpfung des Antisemitismus auslösen. Denn erstmals wird hier eine übergreifende Mechanik in Gang gesetzt, der sich auch solche Mitgliedstaaten auf Dauer nicht mehr entziehen können, die bislang - vornehm ausgedrückt - den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen haben. Die Erklärung führt alle Handlungsstränge zusammen, die im Kampf gegen Antisemitismus relevant sind, insbesondere die Sicherheit der jüdischen Gemeinden und Einrichtungen, die Weiterbildung von Sicherheitsbehörden und Strafverfolgungsorganen oder die konsequente Verfolgung von Hass- und Gewaltverbrechen - im Internet wie im realen Leben gleichermaßen."
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Medien

Dass Donald Trump jetzt von sozialen Medien wie Twitter und Facebook gesperrt wurde, wie lange gefordert, ist nun auch nicht recht. Da sieht man doch wieder, wie mächtig die sind, warnt in der SZ Andrian Kreye, auch wenn er zugeben muss, dass sich längst andere soziale Netzwerke zu ihnen gesellt haben: "Mewe und Gab bekommen in diesen Tagen massiv Zulauf von rechts. Apps wie Rumble und Newsmax verbreiten rechte Nachrichten. Viele Stürmer im Kapitol benutzten eine Streaming-App für Gamer namens Dlive, um ihre Hausfriedensbrüche zu übertragen. Die bekannteste neue App ist sicherlich Parler, die ähnlich funktioniert wie Twitter. Finanziert hat das Unternehmen die Milliardenerbin Rebekah Mercer, die im Wahlkampfjahr 2016 gemeinsam mit ihrem Vater Robert schon Trumps Strategen Steve Bannon und dessen Nachrichtenwebsite Breitbart finanzierte. Auf Parler herrscht in diesen Tagen Bürgerkriegsstimmung."

Ebenfalls in der SZ empört sich Simon Hurtz über die "Handvoll weißer Männer", die "die wichtigste Kommunikationsinfrastruktur der Welt kontrollieren" (wären es schwarze Männer, wäre er dann glücklicher?) Er wünscht sich, dass Joe Biden "das Netz ordnet".

Auch Mladen Gladic ist in der Welt höchst unzufrieden mit der Entscheidung, Trump in den sozialen Medien auf stumm zu schalten: "Es ist nicht akzeptabel, dass Twitter, Facebook und Co. das Schicksal der öffentlichen Meinung in unseren Gesellschaften bestimmen. Inakzeptabel ist es auch, dass die Tech-Oligarchie ihre Machtfülle benutzt, um das ins Werk zusetzen, was man nur von illiberalen Regimen gewohnt ist (und was manch Twitteraten-Clique von links oder rechts im Kleinen betreibt): nämlich politisch unliebsame Positionen mundtot zu machen." Welchen Anteil traditionelle Medien wie Presse, Radio und Fernsehen an dem Trump-Spuk haben, von der Monstrosität der Machtfülle eines Springer-Konzerns (EU-Urheberrechtsreform!) ganz zu schweigen, erwähnen Kreye, Gladic und Hurtz freilich mit keinem Wort.
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Gesellschaft

Von Franziska Augstein, einst FAZ, dann SZ, hat man ewig nichts gehört. Nun scheint sie eine neue Kolumne bei Spiegel online zu haben und attackiert die bei Corona angeblich alarmistischen Medien: "Was für die Öffentlich-Rechtlichen gilt, trifft auch auf viele andere Medien zu: Angstmache war und ist Programm. Jene Fachmediziner, die nach Auffassung von Journalisten Covid-19 nicht ernst genug nahmen, bekamen gelegentlich ein wenig Raum, ihre Ansichten darzulegen. Aber prominent wurden jene vorgestellt, die über Covid-19 reden, als befänden wir uns im 14. Jahrhundert und es handele sich um die Pest."

Dem in der FAZ schreibenden Soziologen Wolfgang Streeck fehlt der Beitrag seiner Zunft zur Aufklärung über die Pandemie: "Am Geld kann es nicht liegen, dass wir nichts über die Sozialstruktur des 'Infektionsgeschehens' wissen. Geld gibt es seit Corona wie Sand am Meer, nichts ist mehr zu teuer. Warum wissen wir dann nicht, was wir wissen könnten, wenn wir die eine oder andere repräsentative Umfrage veranstalten würden, um herauszufinden, wie viele infiziert sind, wie viele davon es nicht wissen, wie die Infizierten sich von den Nichtinfizierten in Sozialprofil und Kontaktverhalten unterscheiden, wer die Risikogruppen sind und welches die Risiko-Orte?

Die Kirchen sollen sich dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts zu Sterbehilfe anpassen und in ihren Palliativeinrichtungen (die ja auch in Konkurrenz zu anderen Anbietern stehen) selbst Angebote für assistierten Suizid machen, fordern die Theologen Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie auf der Gegenwart-Seite der FAZ: "Anstatt durch eine Verweigerung Suizidwillige dazu zu zwingen, sich auf die Suche nach - möglicherweise durchaus eigennützig und nicht im Interesse des Lebensschutzes handelnden - Organisationen zu machen, dürfte es sehr viel eher Ausdruck verantwortlichen Handelns sein, entsprechende Möglichkeiten durch besonders qualifizierte interdisziplinäre Teams in den Einrichtungen zuzulassen und dabei das familiäre Umfeld einzubeziehen."

Ludger Weß greift bei den Salonkolumnisten nochmal die Beiträge der Demeter-Zeitschriften und Websites zu Corona auf (unser Resümee), die bereits neulich zum Thema wurden. Und er konstatiert: Anthroposophie hat Macht in Deutschland: "Die von Steiner inspirierte Anthroposophie, die zum Wirtschaftsimperium von Demeter, Alnatura, DM, Dennree, tegut, Rapunzel, Wala-Arzneimittel, Voith und Mahle, zur GLS-Bank, der Zukunftsstiftung Landwirtschaft, der Software AG Stiftung, den Waldorfschulen, der Universität Witten-Herdecke, zahllosen Lehrstühlen, Vereinen und Initiativen führte, hat in Deutschland mächtigen Einfluss - auf die Querdenker-Bewegung ebenso wie auf die Umweltbewegung, die Anti-Gentechnik-Bewegung (die ohne anthroposophische Unterstützung in Deutschland längst kollabiert wäre), auf Diskussionen über Landwirtschaft, die Alternativmedizin und die Anti-Impfbewegung."
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Ideen

Künstliche Intelligenz denkt nicht, und wird auch nicht die Macht übernehmen, erklärt der Schweizer Philosoph Walther Ch. Zimmerli in der NZZ und erzählt, wie der Begriff, der im Englischen ganz unspektakulär "technische Informationsverarbeitung" bedeuten kann, zustande kam: "Eine Gruppe junger Wilder um den noch nicht ganz 28-jährigen John McCarthy, damals Assistenzprofessor für Mathematik, verwendet ihn prominent in ihrem Antrag auf Förderung einer Konferenz, die dann, von der Rockefeller Foundation finanziert, im Sommer 1956 am Dartmouth College stattfand. Ein häufig vernachlässigter Aspekt im Gründungsmythos der KI ist jedoch, dass McCarthy diesen Begriff bewusst wählte, um die Bezeichnungen 'Automatentheorie' und 'Kybernetik' zu vermeiden und so die Koryphäe Norbert Wiener nicht einladen zu müssen."

In der FR denkt Björn Hayer über die "Gefühlskultur" nach, die die politische Debatte seit einigen Jahren begleitet, in den USA, aber auch in Deutschland: Rechts, mit "spalterischer und hasserfüllter Angriffslust", links mit dem Empörungspathos einer Greta Thunberg etwa. Aber man sollte Pathos nicht den Radikalen überlassen, meint er: "Denn dass das Pathos auch Eingang in die Rhetorik des gemäßigten Lagers findet, gibt Anlass zum Optimismus. Die Rede ist von der Renaissance einer demokratischen Kultur, die wieder von Leidenschaft und Streitlust zeugt. Politik braucht neben Fakten Gefühle. Nur sie sind dazu imstande, breite Partizipation herzustellen. Sie setzen Begeisterung frei und lassen Menschen für eine Sache kämpfen."
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Religion

In der Welt schreibt Christian Meier einen Brief an Kardinal Woelki, von dem er gern wüsste, wie groß sein Interesse an der Aufklärung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche schon sein kann, wenn man über eine diesbezügliche Studie nicht sprechen darf. Und auch die Anwaltskanzlei der Kirche findet Meier fragwürdig: "Die Kanzlei hat unter anderem Mandate für den türkischen Staatspräsidenten Erdogan und die AfD übernommen und wirbt auf ihrer Website mit dem Versprechen: 'Mit 'Zuckerbrot und Peitsche' vermeiden wir negative Berichterstattung schon im Vorfeld. Sollten wir sie nicht ganz verhindern können, mildern wir sie zumindest ab.' Nun, Herr Erzbischof Woelki, lässt sich die Frage stellen, was Sie eigentlich wollen: eine schonungslose Aufklärung von Missbrauchsfällen, zu denen sich das Erzbistum bekennen und Schuldige zur Verantwortung ziehen muss? Oder eine Verhinderung oder Abmilderung negativer Berichterstattung, bei denen Sie selbst und Ihnen nahestehende Personen in einem denkbar schlechten Licht dastehen könnten?"
Archiv: Religion