9punkt - Die Debattenrundschau

Psychologische Phänomene wie der Glaube

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.01.2021. Die Medien sind noch in Feierlaune, da stellt das Internetmagzin Axios fest, dass ihnen zumindest in den USA die Mehrheit der Bevölkerung gar nicht mehr traut. Wie kommt es, dass Menschen Medien misstrauen, obwohl sie Organe der Wahrheit sind, fragt auch das "Altpapier" im MDR. Die Türkei geht in der Regulierung sozialer Netze voran, und es läuft auf Zensur hinaus, konstatiert Netzpolitik. In Frankreich zahlt Google jetzt an Zeitungen, berichtet Golem. Mit dem Deutschen Reich institutionalisierte sich auch der Antisemitismus, und zwar gerade bei den Protestanten, schreibt Micha Brumlik in der FR.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.01.2021 finden Sie hier

Medien

Während die Medien nach der Amtseinführung Joe Bidens noch in feierlicher Stimmung sind, wartet Felix Salmon im amerikanischen Politikmagazin Axios mit ein paar hässlichen Zahlen auf: Das Vertrauen in die Medien steht auf dem tiefsten gemessenen Punkt. "Warum es wichtig ist: Das Vertrauen in die zentralen Institutionen der Gesellschaft, insbesondere in die Regierung und die Medien, ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. Er löste sich vor einem Jahrzehnt zusehends auf und ist nun für viele Millionen Amerikaner völlig verschwunden. In Zahlen ausgedrückt: Zum ersten Mal haben weniger als die Hälfte aller Amerikaner Vertrauen in traditionelle Medien, so die Daten des jährlichen Vertrauensbarometers von Edelman, die exklusiv mit Axios geteilt wurden. Das Vertrauen in soziale Medien hat mit 27 Prozent einen historischen Tiefstand erreicht... 58 Prozent denken, dass 'die meisten Nachrichtenorganisationen mehr damit beschäftigt sind, eine Ideologie oder politische Position zu unterstützen, als die Öffentlichkeit zu informieren.'  Als Edelman die Amerikaner nach der Wahl erneut befragte, hatten sich die Zahlen noch weiter verschlechtert: 57 Prozent der Demokraten vertrauen den Medien, aber nur 18 Prozent der Republikaner."

Auch Ralf Heimann denkt in der Kolumne "Altpapier" des MDR aus Anlass des Trump-Abgangs über Vertrauen und Misstrauen in die Medien nach, argumentiert wie die meisten Journalisten aber so, als liege das Problem ausschließlich beim Publikum, undenkbar, dass Misstrauen in Medien gerechtfertigt sein könnte: "Auch wenn die Demokratie gewonnen haben mag, der Journalismus weiß mittleweile schon, wo seine Grenzen liegen. Gegen psychologische Phänomene wie den Glauben lässt sich mit Faktenchecks jedenfalls nicht viel ausrichten. Das ist eine der Erkenntnisse der vergangenen Jahre. So ergibt sich die jedenfalls auf den ersten Blick erstaunliche Situation, dass die Menschen den Medien das größte Misstrauen entgegenbringen, die sich mit dem größten Aufwand bemühen, der Wahrheit möglichst nahe zu kommen."

Heimann zitiert auch einen Essay der Spiegel-Chefredakteurin Barbara Hans im Fachmagazin Journalist: "Journalismus braucht Vertrauen, weil er das Misstrauen zu seiner Maxime erklärt hat. Artikel 5 des Grundgesetzes sichert die Pressefreiheit aus diesem Grund: Die Kontrollfunktion der Medien besteht darin, Misstrauen zu institutionalisieren, alles zu hinterfragen, nichts zu glauben. Das ist das Versprechen des Journalismus an die Rezipienten: Vertraut uns, denn wir misstrauen für euch." War nicht der Spiegel auch das Medium eines gewissen Claas Relotius?

Viel kommentiert werden auf Twitter neue, von Meedia präsentierte Auflagenzahlen aus  Print und Epaper bei deutschen Zeitungen: Die Bild-Zeitung hat 150.000 Auflage verloren und steht nur mehr auf einer Million (es waren mal fünf). Die FAZ hat 16.000 verloren und steht auf 176.000, die Zeit badet mit nahezu 500.000 Auflage im Erfolg. Die taz verkauft inzwischen mehr Printexemplare und Epaper als die Welt.

In Frankreich hat Google beim Thema Leistungsschutzrecht für Presseverlage nachgegeben, berichtet Friedhelm Greis bei golem.de. Wie in Deutschland hatte sich Google zunächst geweigert zu zahlen, stattdessen stellte man Verlagen frei, sich aus Suchergebnissen auszulisten: "Um möglichst wenig Suchmaschinentraffic zu verlieren, gewährten die meisten Medien dem Marktführer einen kostenlosen Zugriff auf die Inhalte. Gleichzeitig reichten sie eine Beschwerde bei der Wettbewerbsbehörde ein. Die Wettbewerbsbehörde gab der Beschwerde im April 2020 statt. Diese Entscheidung, die von Google angefochten worden war, bestätigte der Cour d'appel de Paris in einem Urteil vom 8. Oktober 2020." Und so schloss Google Lizenzverträge mit den Zeitungen. In Deutschland, so Greis, konnte Google bisher nicht so agieren, weil die Wettbewerbsbehörden die Google-Position nicht unzulässig fanden. Wieviel Geld in Frankreich fließt, wird leider nicht gesagt.

Anders in Australien, wo Google mit Abzug droht, weil Plattformen nach einem neuen Gesetz für Nachrichten zahlen sollen, meldet Zeit online. Zeit online stellt auch ein Zeit-Streitgespräch zwischen dem FAZ-Herausgeber Carsten Knop und dem Videoblogger Rezo zum Leistungsschutzrecht und zum neuen EU-Urheberrecht online.
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Internet

Die Türkei geht bei der Regulierung sozialer Netze voran, und sie läuft auf Zensur hinaus, schreibt Tomas Rudl bei Netzpolitik: "Auf dem Papier sind die Bestimmungen nicht notwendigerweise problematisch. Riesige Dienste, die die Größenordnung ihrer Produkte nicht in den Griff bekommen, sollten schließlich zur Verantwortung gezogen werden können. Nicht umsonst enthält etwa der EU-Vorschlag für ein Gesetz für digitale Dienste einige ähnliche Bestimmungen. Verweise der türkischen Regierung auf das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz sind deshalb nichts anderes als Ablenkungsmanöver. Problematisch sind weniger gerichtlich angeordnete Löschgesuche, sondern eine Richterschaft, die im Dienste der Regierung arbeitet." Im konkreten Fall führt das etwa dazu, dass ein Bild von Erdogans Ehefrau mit einer stolz herumgetragenen Handtasche von Hermès à 40.000 Euro in der Türkei eher nicht gezeigt wird.
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Überwachung

"Noch nie wurde so radikal in Grundrechte (…) eingegriffen, und das bisher ohne Aussicht auf eine nachhaltige Absenkung der Infektions- und Sterbezahlen", ärgern sich der Jurist Eric Hilgendorf und der Philosoph Julian Nida-Rümelin in der Welt: Aber Hauptsache der deutsche "Datenschutz-Absolutismus" bleibt unberührt, fahren sie mit Blick auf die gescheiterte Corona-Warn-App fort: "Wenn vom Staat zu beachtende Grundrechte, etwa das Grundrecht auf Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, mit anderen Grundrechten, etwa dem Schutz von informationeller Selbstbestimmung, zusammenstoßen, so muss ein angemessener Ausgleich zwischen den Grundrechten gefunden werden. Dagegen ist es nicht zulässig, ein einzelnes Grundrecht wie den Datenschutz zu verabsolutieren und die anderen Grundrechte dafür zu opfern, so wie dies bei der Gestaltung der Corona-Warn-App geschehen ist."

"Der Anspruch, in einem einzigen Rechtsakt alle künftig denkbaren Konflikte um persönliche Daten zu lösen, ist nicht erfüllt worden - er war von vornherein unerfüllbar", schreibt auch der Jurist und erste Bundesbeauftragte für Datenschutz Hans Peter Bull, der in der NZZ eine "Neujustierung" des Datenschutzes fordert: "Nach der herrschenden Lehre, die den Regelungen des deutschen und des europäischen Rechts zugrunde liegt, gilt jede Form des Umgangs mit Daten, die sich auf natürliche Personen beziehen, als 'gefährlich', weil es fast immer möglich sei, die gespeicherten Angaben zum Nachteil der Betroffenen zu verwenden, also zu 'missbrauchen'. Diese 'abstrakte Gefährdungsvermutung' beruht allein darauf, dass Missbrauch möglich ist; es wird nicht geprüft, wie wahrscheinlich er ist. In dieser Perspektive gibt es keine harmlosen Daten; selbst Speicherungen, die nach kurzer Zeit gelöscht werden, gelten als unzulässig."
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Gesellschaft

Die Kulturwissenschaftlerin Naïla Chikhi erklärt bei hpd.de, warum gerade für muslimische Kinder ein übergreifender Ethikunterricht besser wäre als ein konfessionsgebundener Religionsunterricht: "Es ist nicht außer Acht zu lassen, dass viele Kinder mit Migrationshintergrund sowohl in der Ursprungsgesellschaft der Eltern als auch in der Aufnahmegesellschaft nicht als dazugehörig anerkannt werden. Die geistige Entfremdung, die mit einem konfessionsgebundenen Religionsunterricht einhergeht, würde meines Erachtens diese ethnische Trennung nur noch verschärfen. Denn in einem religionstrennenden Unterricht erfahren Kinder meistens nur eigene Glaubenssätze, Bräuche und Werte und nicht die ihrer MitschülerInnen. Dies hat nicht selten zur Folge, dass Unterschiede, Aus- und Abgrenzungen intensiviert werden."

Daniel Bleich nimmt bei den Ruhrbaronen die "Zerocovid"-Bewegung (Aufruf) unter die Lupe, die ein komplettes Einfrieren der Wirtschaft fordert, um die Infektionsrate auf null zu senken. Finanziert werden soll das durch eine Vermögensabgabe. Die Arbeitspflicht für Arbeitnehmer soll so lange aufgehoben werden, und die Produktion von Impfstoffen soll qua Dekret vorangebracht werden. "Es gehört zur Eigenart autoritärer, sozialistischer Allmachtsfantasien zu glauben, dass die Wirtschaft ein bösartiger Tumor ist, der die Gesellschaft zerfrisst, während man am iPhone über Twitter in einer warmen Wohnung die Weltrevolution plant." In der taz hatte Daniel Gerlach schon diese "halbtotalitäre Fantasie" kritisiert.

Viele Schriftsteller, Philosophen, Künstlerinnen, Theologen, Ärztinnen, Soziologen, Klimaaktivistinnen und Journalisten, haben den "Zerocovid"-Aufruf unterschrieben. Auf Sueddeutsche.de fragt sich Nikolaus Piper, ob sie den Text überhaupt gelesen haben: "Impfstoffe seien ein 'globales Gemeingut', heißt es da, sie sollten der 'privaten Profiterzielung' entzogen werden. In der Realität ist die Suche nach Corona-Impfstoffen und deren Verteilung von Anfang an ein Gemeinschaftsprojekt von Regierungen und Privatwirtschaft gewesen. Aber kein Unternehmen hätte dabei mitmachen können, wenn man ihm verboten hätte, Gewinne zu erzielen. Der Satz in dem Aufruf kann also nur so verstanden werden, dass man die Firmen enteignet, nachdem sie etwas erforscht haben."
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Geschichte

Es ist höchste Zeit, dass Frankreich seine koloniale Vergangenheit und den Algerienkrieg aufarbeitet, schreibt Martina Meister in der Welt. Deshalb liegt Macron nun ein "mutiger Leitfaden der Versöhnung" des Historikers Benjamin Stora vor: "Er fordert eine 'Wahrheitskommission', die Öffnung der Militärarchive, gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte, eine Organisation nach dem Vorbild des deutsch-französischen Jugendwerks, ein Totenbuch mit den Namen aller Verschwundenen, den Fakten ihrer Ermordung und vieles mehr. Auch wünscht er sich Symbole und Gesten. Nun ist es an Macron, sich auf dem verminten Feld in Richtung Versöhnung zu bewegen. Vom Erfolg hängen nicht nur das Wohlbefinden Frankreichs, sondern auch die Beziehungen zu Algerien ab. Den Anfang hat Macron bereits gemacht, indem er als erster Präsident eingestand, dass Frankreich während des Algerienkrieges gefoltert hatte."

Mit der deutschen Reichsgründung nahm auch der Judenhass - vor allem durch das protestantische Bildungsbürgertum - organisierte Form an, schreibt Micha Brumlik in der FR. Durch die ökonomische Krise der 1890er Jahre kam es zusätzlich zu "tiefgreifender Kulturkritik": "Die Kulturkritik, die alle gebildeten Schichten Deutschlands ergriff, schlug indes unter gebildeten Protestanten deshalb besonders durch, weil sie - wie keine andere gesellschaftliche Gruppe - das Scheitern der im Idealismus und dem auf ihn folgenden Kulturprotestantismus entwickelten Synthese von moderner Kultur und Innerlichkeit erfahren hatten. Vor diesem Hintergrund entstanden in den 1880er Jahren verschiedenste Gruppierungen und Parteien, die ihr wichtigstes Ziel darin sahen, gegen die Juden als Inbegriff des Liberalismus zu agitieren; die modernsten unter ihnen verabschiedeten sich dabei vom traditionell kirchlichen Antijudaismus und stellten sich - vermeintlich naturwissenschaftlich aufgeklärt - auf den Boden von Rassen- und Sprachwissenschaft: So prägte der Journalist Wilhelm Marr 1879 zum ersten Mal den Begriff 'Antisemitismus' mit dem ausdrücklichen Interesse, die Frage der Juden nicht mehr vom 'confessionellen Standpunkt' aus zu betrachten."
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Kulturmarkt

Börsenvereins-Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis tritt in diesem Jahr ab und hat auf einer Tagung Klartext über die Buchbranche geredet, berichtet der Buchreport. Selbst ein gewisser paradoxer Effekt der heiligen Kuh Buchpreisbindung wird angesprochen: "Das System des festgesetzten Ladenpreises funktioniere auch und werde gut kontrolliert. Aber das Buchpreisbindungsgesetz wolle im Paragraf 6 (3) auch verhindern, 'dass marktmächtige Unternehmen unbotmäßige Margen im Schutz der festgelegten Preise erreichen'. Derzeit sei es 'offensichtlich so, dass der Schutzzweck, nämlich Vielfalt und Kleinteiligkeit zu bewahren, sich ins Gegenteil verkehrt zum Schutz der Marktmacht'." Mit anderen Worten: Gerade die Großen expandieren durch die garantierte Marge.
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Stichwörter: Buchmarkt, Buchpreisbindung