9punkt - Die Debattenrundschau

Großartiger Trend zur Sportwette

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.01.2021. Der Recherchedienst Bellingcat weist weitere politische Morde jener FSB-Einheit nach, die auch für die Vergiftung Alexei Nawalnys verantwortlich ist. Es sterben doppelt so viele Männer an Corona wie Frauen - darum sollten sie bei den Impfungen bevorzugt werden, fordert Ralf Bönt in der Zeit.  Die Mandarine vom "Weltoffen"-Aufruf verfechten einen einseitigen linken und politischen Begriff von Kunst, schreibt Alan Posener in der Welt, nur durch Mut zeichnen sie sich nicht aus. Und schließlich: Mit dem Hipster ist es vorbei, notiert Ijoma Mangold in der Zeit, Platz da für die Schneeflocken.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.01.2021 finden Sie hier

Europa

Der Recherchedienst Bellingcat weist weitere politische Morde jener FSB-Einheit nach, die auch für die Vergiftung Alexej Nawalnys verantwortlich ist. Einer der Fälle ist der 26-jährige kritische Journalist Timur Kuashev aus der kleinen, zu Russland gehörenden Kaukasus-Republik Kabardino-Balkarien. Er war 2014 tot aufgefunden worden, und die Ermittlungen führten ins Leere: "Eine Analyse von Reisedaten von FSB-Agenten aus der Giftabteilung des Kriminalistischen Instituts sowie vertrauliche Dokumente aus offiziellen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, die von einer Insider-Quelle zur Verfügung gestellt wurden, deuten .. stark darauf hin, dass sein Tod das Ergebnis einer gezielten Vergiftungsaktion durch dasselbe FSB-Kernteam war, das Alexej Nawalny im Jahr 2020 vergiftete."

Die russische Regierung greift tief in die "historische Mottenkiste", um Alexej Nawalny in Verruf zu bringen, schreibt der Osteuropa-Historiker Frithjof Benjamin Schenk in der NZZ. Gerade mal zwei Minuten widmete etwa der Kanal Rossija 1 der Ankunft Nawalnys: "Unter der Überschrift 'Im plombierten Waggon' erzählt der Fernsehbericht die Rückkehr Nawalnys als Spezial-Operation des deutschen Geheimdienstes. So wie man im April 1917 Wladimir Lenin aus der neutralen Schweiz nach Russland schleuste, um das Land zu unterwandern, habe sich die deutsche Regierung erneut mit großem Aufwand und 'deutscher Gründlichkeit' um Nawalnys Rückkehr bemüht. Eskortiert von mehreren Polizeiwagen, habe man den Blogger in einer Regierungslimousine an den Berliner Flughafen gebracht, deutsche Polizeibeamte hätten das Check-in Nawalnys und seiner Frau übernommen. Ohne Kontrolle seines Gepäcks sei der Reisende dann an der Schlange der wartenden Passagiere vorbei direkt zum Flugzeug begleitet worden, wo er von einer Schar wartender Journalisten begrüßt wurde. Unterstrichen wird in dem Bericht, dass Nawalny am Flughafen keinem deutschen Journalisten ein Interview gegeben habe. Historisch versierte Zuschauer konnten dies als Anspielung auf Lenins Weigerung verstehen, während seiner Fahrt über deutsches Territorium im April 1917 mit Pressevertretern zu sprechen."

Außerdem: Der ehemalige Schachweltmeister und Regimekritiker Garry Kasparow ruft die britische Regierung auf, ihre Sanktionen gegen Russland auf einige bekannte, in London lebende Oligarchen auszudehnen, berichten Luke Harding und Dan Sabbagh im Guardian.
Archiv: Europa

Religion

Von der kürzlich erhobenen Forderung Kacem El Ghazzalis, Religion in die Privatsphäre zu verbannen (Unser Resümee), halten die Theologen Ulrich Körtner und Jan-Heiner Türck in der NZZ natürlich nichts. Zugleich warnen sie vor den Bedrohungen durch den politischen Islam: "Sie versuchen die Spielräume des demokratischen Rechtsstaats auszunutzen, um gezielt ihr Ideengut zu verbreiten. Die Muslimbruderschaft und andere Organisationen, die oft auf finanzielle Ressourcen aus islamischen Staaten zurückgreifen, streben ganz offen an, eine Scharia-konforme Gesellschaftsordnung zu etablieren. Wer das als Übertreibung abwiegelt, möge folgende Äusserung von Yusuf al-Qaradawi, einem Vordenker der Muslimbruderschaft, zur Kenntnis nehmen: 'Ich erwarte, dass der Islam Europa erobern wird, ohne zum Schwert oder zum Kampf greifen zu müssen - mittels Dawa ['Ruf zum Islam', Mission] und durch die Ideologie.'"
Archiv: Religion

Ideen

In der Welt ärgert sich Alan Posener über die Unterzeichner der Initiative "GG 5.3 Weltoffenheit" (Unsere Resümees), denen er nicht nur politische Instrumentalisierung von Kunst und Wissenschaft vorwirft. Aus Abgeordnetenkreisen hat er erfahren, dass jene "linken Funktionäre" vor ihrer heroischen Tat abgewartet haben, bis ihre Etats fürs kommende Jahr durchgewunken wurden, zudem fragt er sich, weshalb die Unterzeichner zwar den "Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus und jede Form von gewaltbereitem religiösem Fundamentalismus" ins Zentrum ihres Textes stellen, sich dann aber "nicht dazu durchringen können, den Islamismus beim Namen zu nennen. Als hätten wir es mit jüdischen Angriffen auf Moscheen zu tun oder mit apokalyptischen Christen, die in massenmörderischer Absicht Lastwagen in Ramadan-Feiern hineinfahren. Bei so viel Feigheit muss man nicht von 'Kampf' reden. Und gegen den Linksextremismus wird schon gar nicht gekämpft, als habe es die G-20-Krawalle nie gegeben, als gäbe es keine linke Cancel-Culture an deutschen Hochschulen, wo die künftige Bildungselite des Landes erzogen wird."
Archiv: Ideen

Politik

Das Wahlsystem der USA für die Präsidentenwahl ist dysfunktional geworden, wie unter anderem die Wahlen zeigten, in denen der siegreiche Kandidat nicht mal die Mehrheit hatte, schreibt Peter Graf Kielmanssegg in der FAZ. Das hat mit dem Alter der Verfassung zu tun: "Die verfassunggebende Versammlung von 1787 war keine Versammlung von überzeugten Demokraten. Sie tat den Schritt in die demokratische Zukunft vorsichtig und zögerlich. Auch andere offenkundige Dysfunktionalitäten haben mit dem Alter der Verfassung zu tun. So kollidiert das strikte Gewaltenteilungsschema, das der streng den Lehren von Montesquieu folgenden amerikanischen Verfassung zugrunde liegt, mit dem konfrontativen Zweiparteiensystem, das sich inzwischen herausgebildet hat."
Archiv: Politik

Gesellschaft

Nicht allein um der Gendergerechtigkeit willen, sondern auch um die Belastungen für die gesamte Gesellschaft zu reduzieren, müssten Männer bei den Impfungen gegen Corona bevorzugt werden, schreibt Ralf Bönt in der Zeit: 70 Prozent der Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen sind Männer. "In den Altersgruppen, in denen gleich viele Frauen und Männer anzutreffen sind, nämlich denen unter 70 Jahren, starben in Deutschland doppelt bis zweieinhalbmal so viele Männer wie Frauen, obwohl sich Frauen sogar etwas häufiger ansteckten als Männer. Allein aus dieser simplen Zahl ergibt sich die Folgerung, dass Männer in diesem Verhältnis zuerst geimpft werden müssten, um die Ressourcen des Gesundheitssystems möglichst ökonomisch einzusetzen und möglichst viele Leben in allen Gruppen zu retten."

Ebenfalls zur Coronakrise schreibt in der Zeit Herfried Münkler - mit bewunderdem Blick auf China: "Die Zeiten eines arroganten Überlegenheitsdünkels im Westen, der sich durch die Kombination von individueller Freiheit, politischer Partizipation und Rechtsstaatlichkeit allen anderen politischen Ordnungen für überlegen hielt, sind vorbei. Das ist, politisch betrachtet, die erste und wichtigste Lehre aus der Pandemie."

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat vor zwei Jahren eine Studie beauftragt, die psychische Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen untersuchen sollte und wollte damit seine abtreibungsfeindliche Politik untermauern. Die mit der Studie beauftragten Forscher haben die Fragestellung inzwischen komplett verändert, berichtet Patricia Hecht in der taz. Nun wird eher eine Studie zur Lage abtreibender Frauen insgesamt erstellt. Spahn, der bei Frauenrechten, anders als bei Rechten für Homosexuelle eine eher kirchennahe Position vertritt, hat ein Eigentor geschossen, schreibt Eiken Bruhn in der taz: "Spahn hat sich wiederholt gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht von Frauen positioniert, unter anderem gegen die rezeptfreie Abgabe der Pille danach. Den Kampf hat er verloren, dafür aber verhinderte er 2019, dass Ärzt*innen über Schwangerschaftsabbrüche informieren dürfen. Und er nimmt hin, dass Frauen in einigen Regionen Hunderte Kilometer für einen sicheren Schwangerschaftsabbruch reisen müssen."

Mit dem Hipster ist es vorbei. Verdrängt wird er von den woken Schneeflöckchen, die den sympathischen Hedonisten skrupellos zur Seite drängen, diagnostiziert Ijoma Mangold in der Zeit: "Wo die Hipster-Kultur auf Distinktion setzte, setzt die Wokeness-Kultur auf Inklusion. Wo Erstere danach strebten, als Individuen unverwechselbar zu sein, beschreiben sich Letztere bevorzugt in Kategorien kollektiver Identitäten - als People of Color, als Trans*Person, als queer. Und wo die jungen woken Leute heute dezidiert links sind und überall, wo ihre eigene Sprachsensibilität nicht geteilt wird, den Extremismus der Mitte wittern, war der Hipster politisch nie festzulegen, ein unsicherer Kantonist."

Niemand fragt, ob die Einschränkungen der Grundrechte richtig sind, es gibt nicht mal Verfassungsrechtler in den Corona-Beratergremien der Kanzlerin, zudem kaum Beschwerden beim Verfassungsgericht, wundert sich Jörg Phil Friedrich in der Welt: "Offenbar interessiert sich auch eine Mehrheit der Bevölkerung nicht sonderlich für die Frage, ob da Verfassungsprinzipien verletzt werden. In der Krise, in der Ausnahmesituation, soll die Regierung handeln, und zwar richtig und schnell, damit die Krise bald wieder vorbei ist. Die Stärke der Krise und ihre aktuelle Dramatik werden definiert durch ein paar Zahlen, die die Medien täglich senden - und so lange diese Zahlen noch nicht das Ende der Krise besagen, sollen Störenfriede, die das Grundgesetz hochhalten, bitte ruhig sein."

Derweil gibt es immer mehr "Lockdown-Fanatiker", dabei ist es ein "gigantisches Risiko für die moderne liberale Gesellschaft, die kulturelle Selbstverständigung des vernunftbegabten Tiers dauerhaft in den Lockdown-Modus zu versetzen", schreibt der Philosoph Markus Gabriel in der NZZ und wirft der Regierung "extremistische Auffassungen wissenschaftlicher Allmacht" vor. Dabei sei es "keineswegs unvernünftig, wenn Kinder und Jugendliche in die Schule gehen oder an Universitäten echte soziale Kontakte in realen Lehrveranstaltungen knüpfen wollen. Es ist auch nicht unvernünftig, wenn Menschen, die in ihren engen nationalen Grenzen gefangen sind, in die Skigebiete strömen, um zu rodeln oder Langlauf zu betreiben. Ja, es ist vielmehr vernünftig, wenn gefordert wird, den Kulturbetrieb endlich zu öffnen, da es schlichtweg nicht wissenschaftlich zwingend bewiesen ist, dass die Schliessung von Theatern, Opern, Kinos Ansteckungscluster signifikanter verringert als kulturfreundlichere Modelle."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Aus und vorbei mit Rock'n'Roll: Auf Rollingstone.com gibt es vermehrt Texte, die wie journalistische Beiträge scheinen, aber von Interessensvertretern aus der Wirtschaft stammen, stellt Joachim Hentschel, einst Redakteur des deutschen Rolling Stone in der SZ fest: "einen Aufruf an Museen, mehr in digitale Strategien zu investieren, verfasst von der Gründerin einer Firma, die Software für den Kunsthandel vertreibt. Oder ein Plädoyer für den großartigen Trend zur Sportwette, gehalten von, nun ja, dem Betreiber einer Sportwettenplattform. Noch schmieriger wird die Sache, wenn man weiß, dass die Autorinnen und Autoren der notdürftig überpuderten PR-Mitteilungen den Verlag offenbar bezahlt haben - dafür, dass er ihre Texte redigiert und online gestellt hat. Der britische Guardian fing kürzlich eine Akquise-Mail ab, in der die New Yorker Penske Media Corporation (der seit 2019 alle Rolling-Stone-Anteile gehören) um Abonnenten für einen Premium-Service wirbt. Teil des Angebots: 'die Möglichkeit, eigenen Original-Content auf der Rolling-Stone-Website zu veröffentlichen'. Neben einer Aufnahmegebühr von 500 Dollar kostet die Mitgliedschaft im Club 1500 Dollar pro Jahr.'"
Archiv: Medien