9punkt - Die Debattenrundschau

Findungsvorgang

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.02.2021. Ungarn ist inzwischen so auto- und kleptokratisch durchstrukturiert, dass es egal ist, ob die Opposition auch mal eine Wahl gewinnt, meint Paul Lendvai in der taz.  In der FAZ schildert Bülent Mumay den türkischen Impfdeal mit China: Die Türkei kriegt Impfstoff, China bekommt exilierte Uiguren. Vielleicht werden sie ja mit einem VW ins Lager chauffiert, fragt man sich nach Lektüre eines Welt-Artikels.  Mit der Garnisonkirche wird auch ein Symbol der Unterdrückung Polens wiederaufgebaut, schreibt die Historikerin Agnieszka Pufelska in der FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.02.2021 finden Sie hier

Europa

In Ungarn wäre es mittlerweile egal, wenn die Opposition die Wahlen gewinnt, meint der Publizist Paul Lendvai im Gespräch mit Ralf Leonhard in der taz. Viktor Orban würde so oder so Wege finden, sich an die Macht zu klammern, "weil alle Machtpositionen, vom Generalstaatsanwalt über den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes bis zum Nationalbankpräsidenten und dem Budet-Kontrollrat mit Fidesz-Leuten besetzt sind. Von der Geheimpolizei und der Armee will ich gar nicht reden. Außerdem herrscht eine Kleptokratie, die viel zu verlieren hätte. Ungarische Zeithistoriker wiesen darauf hin, das im Falle einer Niederlage ein ganze Reihe von Leuten aus der obersten Schicht nicht lange auf freiem Fuß bleiben würde. Deswegen zweifle ich nicht, dass Orbán Mittel finden wird, diese Gefahr abzuwenden."

Der gestrige Protesttag gegen Waldimir Putin war auch eine Enttäuschung, zu gering die Beteiligung, meint Bernhard Clasen in der taz: "Hundert Millionen haben Nawalnys Enthüllungsvideo angeklickt, der Oppositionsführer, der sich nach einem Mordanschlag im Ausland hatte behandeln lassen, wird bei seiner Rückkehr eingesperrt. Und trotz dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit gehen gerade einmal ein paar Tausend Menschen landesweit auf die Straße."

Vom Biontech-Impfstoff haben die Türken nur den Stolz auf die Herkunft der Firmengründer, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Die Türkei bezieht Impfstoffe bisher vor allem aus China, und sie sind knapp: "Sonderbar mutete nicht allein an, dass die am stärksten gefährdete Gruppe die AKP-Führung sein soll. Interessante Zufälle erlebten wir auch beim Import der Vakzine aus China. Die erste Lieferung von 1,5 Millionen Dosen kam einige Tage nach dem angekündigten Datum an. Welch ein Zufall: Unmittelbar vor der Landung des Flugzeugs mit dem Impfstoff auf dem Istanbuler Flughafen wurde dem Parlament ein Gesetz zur Abschiebung in der Türkei lebender Uiguren nach China vorgelegt."

In der Welt wirft die Hongkonger Aktivistin Glacier Kwong dem Volkswagenkonzern und anderen deutschen Unternehmen vor, von den entsetzlichen Umerziehungslagern für Uiguren in China zu profitieren: "Dass Xinjiang zum beliebten Standort für Fabriken geworden ist, liegt vor allem an den Lagern; wer dort produziert, profitiert entweder direkt oder indirekt von den unmenschlichen Zuständen. Berichten zufolge soll VW der bewaffneten Volkspolizei Fahrzeuge gespendet haben. Deutsche Unternehmen profitieren nicht nur indirekt von Zwangsarbeit und Menschenrechtsverletzungen, sie tragen auch zur Unterdrückung bei. Bis 2016 stand auf der Website des deutschen Herstellers Microdrones: 'Drohnen der MD4-Serie sind bei der chinesischen Polizei sehr beliebt.' Zwischen 2011 und 2013 war die Polizei der Region Xinjiang Kunde von Microdrones. Der Export dieser Technologie wurde durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle genehmigt."
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Ideen

Robert Heinze fragt bei 54books, ob sich mit der Iphone-App Clubhouse, einer Art Radio-App, in der jeder mittalken darf, sofern er sich Apple-Geräte leisten kann und überdies eingeladen wird, nunmehr Bertolt Brechts Radiotheorie vom partizipativen Medium erfülle. Klappt aber nicht. Erst muss die Revolution kommen: "Was all diese Interpretationen Brechts verbindet, ist, dass sie ausgerechnet ihn als einen rein mit technologischen Aspekten von Medien beschäftigten Theoretiker lesen, der der Technik selbst revolutionäres Potenzial zuschreibe, anstatt sich zu fragen, in welche gesellschaftlichen Zustände Medien eingebettet sind und wie diese Zustände Form und Inhalt der Medien bestimmen. Der entscheidende Schlusssatz seiner Rede weist schon darauf hin."

Der Kampf um neue Sprachregelungen bezeugt für Jürgen Wertheimer (NZZ) "auf groteske Weise den Gesamtzustand einer Gesellschaft im permanenten Angriffs- und Verteidigungsmodus - dazwischen ist kaum mehr Raum für Kritik, Rationalität, Grautöne. ... Nur wenn wir uns verändern, verändert sich auch unsere Sprache. Eine Gesellschaft, die lernen würde, weniger in ideologischen Mustern zu denken und auch Grauzonen und Bedeutungsspielräume zu akzeptieren, würde automatisch eine andere Sprache hervorbringen, eine Sprache, in der Begriffe wie 'Ausgleich', 'Verständigung' und 'Kompromiss' kein Synonym für Schwäche wären."

Einen ähnlichen Fanatismus sieht Bundestagsvize Wolfgang Kubicki (FDP) in der NZZ in der Pandemiebekämpfung aufflammen: "Durch die fehlenden Begründungen für diese Einschnitte wird die Bekämpfung der Pandemie zur Glaubensfrage. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit, sich in Kunstausstellungen anzustecken, fast null. Geschlossen wurden sie trotzdem, aus Solidarität. Das Robert-Koch-Institut (RKI) stellte fest, die Gastronomie sei kein Infektionstreiber, trotzdem mussten die Betriebe schließen. Während in der einen Situation die Worte des RKI als sakrosankt angesehen werden, werden sie an anderer Stelle ignoriert. Die Menschen sahen, dass Irland einmal als leuchtendes, anschließend als warnendes Beispiel für Deutschland bezeichnet wurde - beide Male frei von wissenschaftlicher Evidenz. Der bloße Glaube an die Richtigkeit der Maßnahmen lässt Kritik dann wie Häresie erscheinen. Die freie Gesellschaft, die auf den Errungenschaften der Aufklärung entstand, sieht sich plötzlich mit mittelalterlichen Erklärungsmustern konfrontiert."

In der Welt fordert Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, eine deutliche Rücknahme der Lockdownmaßnahmen, sobald die über 80-Jährigen und Menschen mit schweren Vorerkrankungen geimpft sind. Null-Covid sei keine Strategie - das könne es höchstens auf einer Insel geben, nicht in einem Land mitten in Europa: "Wenn aber die bisher mit Abstand am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen ganz überwiegend durch die Impfung geschützt sind, müssen wir lernen, mit der Erkrankung und dem Virus zu leben. Spekulationen über Virusmutanten, die Jüngere deutlich stärker als bisher betreffen und schwerer erkranken lassen, sind bisher ohne wissenschaftliche Evidenz und sollten nicht handlungsleitend für die Politik sein."
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Internet

Der große Trend im Internet ist gar nicht Clubhouse (siehe oben), sondern nach wie vor eine der "ältesten Innovation des digitalen Journalismus: Newsletter", meint Dirk von Gehlen (einst SZ) in seinem Blog: "Gerade eben haben sowohl Twitter als auch Facebook angekündigt, dass sie Newsletter für sich entdeckt haben. Die beiden Plattformen, die mal angetreten waren, Mails abzuschaffen (Botschaften, Messenger et cetera) versuchen jetzt mit dem Kauf von Revue (Twitter) und dem Aufbau eines eigenes Newsletter-Netzes (Facebook) in den Posteingang von Leser:innen zu kommen."

In der Welt antwortet Nick Clegg, Politikchef bei Facebook, auf Springers Mathias Döpfner, der in einem Brief an Ursula von der Leyen gefordert hatte, die Datennutzung durch die Internetkonzerne zu verbieten. Dass Springer selbst die Daten seiner Kunden bis zum Abwinken absaugt und kommerziell nutzt, kreidet Clegg Döpfner höflicherweise gar nicht erst an, nur so viel: "Es sind nicht nur die großen Technologieunternehmen, die letztendlich auf die Verarbeitung persönlicher Daten für die Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen angewiesen sind. Europäische Fluggesellschaften, Supermärkte, die Automobilindustrie, Landwirtschaft sowie der Finanz- und Versicherungssektor: Eigentlich jeder denkbare Wirtschaftszweig nutzt persönliche Daten, um personalisierte Dienste anzubieten. Und das aus gutem Grund: Ohne zu wissen, was die Menschen wollen und mögen, ist es unmöglich, digitale Dienstleistungen auf ihre Bedürfnisse auszurichten."
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Wissenschaft

Im Interview mit der SZ hat FU-Präsident Günter M. Ziegler auch keine Antwort auf die Frage, warum es so ewig lange dauert, bis die Kommission zu einem (zweiten!) Urteil in der umstrittenen Doktorarbeit von Franziska Giffey kommt. Statt zu einem Abschluss zu kommen, ist die neue Kommission jetzt überhaupt erst zusammengekommen: "Wir haben uns gewünscht, die Prüfung bis zum Ende des Wintersemesters abzuschließen, das ist richtig. Wir haben aber unterschätzt, wie diffizil das Verfahren ist, auch der Findungsvorgang. Es steht alles unter öffentlicher Beobachtung, und wir wollten jegliche Anlässe für einen Anschein von Befangenheit vermeiden."
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Kulturpolitik

Der Streit zwischen der Hahnemann-Stiftung und der Limbach-Kommission um eine Guarneri-Geige aus ehemals jüdischem Besitz ist heute Aufmacher im FAZ-Feuilleton. Die Stiftung kann die 100.000 Euro zur Entschädigung der jüdischen Familie offenbar nicht aufbringen und behauptet inzwischen, die Familie habe gar keinen Anspruch auf die Geige, berichtet Andreas Kilb: "Die Limbach-Kommission hat keine Rechtsmittel, um ihre Empfehlungen durchzusetzen. Ihre Macht ist eine rein moralische. Durch die Einrichtung der Kommission bekennt sich die Bundesrepublik zu ihrer Verpflichtung gegenüber den Opfern der Nazi-Herrschaft. Aus diesem Grund ist das anhaltende Schweigen der Politik zu diesem Vorgang nicht nur befremdlich, sondern skandalös."

Außerdem: Peter Truschner denkt im Perlentaucher darüber nach, welche Künstler in der Coronakrise Geld kriegen, und welche keines.
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Geschichte

Die Deutschen rühmen sich ihrer Vergangenheitsbewältigung und haben von ihrer Geschichte keine Ahnung. Erst die polnische Historikerin Agnieszka Pufelska muss in der FAZ daran erinnern, dass der von feierlich-preußisch gestimmten Kreisen betriebene Wiederaufbau der Garnisonkirche in Potsdam auch von Polen aus gesehen ziemlich problematisch ist. Preußen war nur so schön riesig und großartig, schreibt sie, weil es auf Teilungen Polens beruhte, das im 18. Jahrhundert als Beute Preußens, Russlands und Österreichs spurlos von der Landkarte verschwunden war: "Besonders diejenigen Nationalisten und Militaristen, denen die deutschlandweit bekannte Potsdamer Garnisonkirche als politische Bühne diente, waren bemüht, die deutsche Repressionspolitik gegenüber der polnischen Minderheit zu rechtfertigen. Zu ihren bekanntesten Vertretern gehört sicherlich der Historiker und Redakteur der Preußischen Jahrbücher Heinrich von Treitschke. In seinem Aufsatz 'Das deutsche Ordensland Preußen' von 1862 stellte er Polen und andere Slawen grob abwertend dem nach seiner Auffassung positiven, kultur- und staatsbildenden Einfluss der Deutschen des Deutschen Ordens gegenüber."

Außerdem: In der NZZ erinnert Claudia Mäder daran, wieviele Menschen noch in den 1870er Jahren an Pocken starben, bevor die Impfung obligatorisch wurde.
Archiv: Geschichte