9punkt - Die Debattenrundschau

Konflikte, die die zwanziger Jahre prägen werden

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.02.2021. Die FAZ porträtiert den Lehrer Didier Lemaire aus Trappes, der unter Polizeischutz steht, seit er vor Islamismus in den Banlieues warnte - und wir zitieren aus seinem offenen Brief im Nouvel Obs. In der NZZ fragt Zsuzsa Breier, ob 2021 für Wladimir Putin zu 1989 werden könnte. Der Guardian fragt, wozu die britischen Parlamentarier "Queen's Consent" brauchen. Und warum gleich bei tausend Gesetzen?  In der SZ erklärt Thomas Brussig, warum er jetzt für eine Diktatur ist. Bei Persuasion geißelt John McWhorter den "Neorassismus" der Antirassisten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.02.2021 finden Sie hier

Europa

Der Lehrer Didier Lemaire steht unter Polizeischutz, weil er im Nouvel Obs die Islamisten in seiner Stadt Trappes nahe Paris kritisiert hat, berichtet Michaela Wiegel in der FAZ - der Fall erregt in Frankreich nach dem Mord an dem Lehrer Samuel Paty Aufsehen. Seine Schule hat ihm nahegelegt, sich versetzen zu lassen. Aber er weigert sich: "Er sehe es als Verrat an seinen Schülern an, wenn er die Schule wechsele, an der er seit zwanzig Jahren unterrichte. 'Für mich hat alles im Oktober 2000 angefangen, als die Synagoge in Trappes in Brand gesetzt wurde', sagte er. Seither hätten die jüdischen Bewohner die Stadt nach und nach verlassen. Die antisemitischen Sprüche an den Fassaden seien verschwunden. 'Es gibt keine Juden mehr in Trappes', sagte Lemaire. Jetzt seien es die gemäßigten Muslime und die Nichtgläubigen, die wegziehen würden."

In seinem offenen Brief an den Nouvel Obs schrieb Lemaire in der letzten Woche: "Heute sind es die Schule und die Freiheit, die angegriffen werden. Nicht nur von einem Mann, dem Mörder. Der Attentäter ist nur der bewaffnete Arm eines Projekts, das von Tausenden von Ideologen betrieben wird, die, wie einst die Nazis, die Opferrolle kultivieren, um Hass zu schüren und den Weg für Aktionen vorzubereiten. " Dass Lemaire Philosophielehrer ist, merkt man an dieser Passage: "Ein Denken ohne Angst vor Autorität, Unwissenheit, Obskurantismus, Illusion und einengender Gewissheit, ist in der Tat der persönlichste Teil von uns selbst, denn es hängt in erster Linie von uns ab, unser Urteil zu konstruieren. In einer Gesellschaft, in der wir denken müssen wie andere, ohne das Recht auf Zweifel und Dialog, kann niemand er selbst werden."

Deprimierendes berichtet ebenfalls in der FAZ Reinhard Veser aus Belarus: "Der Druck des Regimes hat viele Aktivisten mürbe gemacht. Es ist unklar, wie viele das Land angesichts des Risikos verlassen haben, für Jahre in Haft zu landen. Eindeutige Zahlen gibt es nicht, aber selbst nach den offiziellen Angaben des Regimes aus dem Herbst vorigen Jahres sind nach der Wahl wenigstens 15.000 Menschen nach Polen, Litauen oder in die Ukraine dauerhaft ausgereist."

"Erleben wir im Hinblick auf Putins Herrschaft ein Déjà-vu? Wird 2021 ein Wendejahr für Russland", wie es 1989 für die kleineren osteuropäischen Staaten war? Hoffen kann man doch, meint die deutsch-ungarische Literaturwissenschaftlerin und Politikerin Zsuzsa Breier mit Blick auf die Verhaftungen rund um Alexander Nawalny in der NZZ: "Dass er den Namen nie ausspricht, zeigt, wie sehr Putin die Gefahr spürt. Stattdessen redet er 'von dem Kranken' oder von einem 'Niemand'. Auch der ungarische Partei- und Regierungschef János Kádár nahm den Namen seines noch im Tod gefürchteten Gegners Imre Nagy ein Leben lang nicht in den Mund. Er sprach von 'jenem Menschen' - und ausgerechnet dieser aufrechte Mann, den Kádár nach dem 56er-Aufstand hatte hinrichten lassen, sollte den Sturz und den Untergang des kommunistischen Regimes besiegeln: Ungarns friedliche Revolution erreichte am 16. Juni 1989 mit dem Wiederbegräbnis des im Niemandsland eines Friedhofs verscharrten Imre Nagy ihren Höhepunkt."

Kurz nach dem Bexit müssen die Briten durch eine Recherche des Guardian entdecken, dass die Queen doch mehr regiert, als sie je vermuteten. Gesetze, die ihren Wohlstand und ihren Status betreffen, darf sie nämlich begutachten, eine rätselhafte, auch in Britannien kaum bekannte Prozedur namens "Queen's Consent", über die Adam Tucker im Guardian schreibt: "Queen's Consent ist eine Verfahrensregel, die die Einwilligung des Monarchen bei bestimmten Gesetzen verlangt - und zwar noch bevor sie den Häusern zu letztgültiger Abstimmung vorgelegt werden. Er darf nicht mit dem gleichermaßen archaischen Prozess des 'Royal Assent' verwechselt werden, der im Gegensatz dazu wohlbekannt ist und sich auf Gesetze bezieht, die schon von beiden Häusern verabschiedet sind." Bei sage und schreibe tausend Gesetzen in den letzten Jahrzehnten war "Queen's consent" im Spiel. Ob es sich nur um ein symbolisches Abnicken handelt, weiß Tucker nicht. Man weiß überhaupt sehr wenig über diese Praxis.

Außerdem zu Britannien: Die Historikerin Amuth Ebke schreibt bei geschichtedergegenwart.ch über Britishness und schottisches Unabhängigkeitsstreben.
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Politik

Der amerikanische Journalist Daniel Pearl ist im Jahr 2002 von Islamisten mit dem Messer geköpft worden. Er war eines der ersten Opfer der barbarischen Praxis, mit der die Täter ihren Glauben an Höheres unter Beweis stellen wollen. Bernard-Henri Lévy hat über diesen Mord eines seiner besten Bücher geschrieben, für das er monatelang das Risiko auf sich nahm, in Pakistan zu recherchieren. Als den Kopf des mit infernalischer Raffinesse ausgeheckten Mordes hatte er Omar Sheikh identifiziert. Und dieser Sheik, Brite und Pakistani, der an der London School of Economics studiert hat und zum innersten Kreis um Bin Laden gehörte, soll nun vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen werden. Das höchste Gericht Pakistans hat festgestellt, dass ihm kein Vergehen nachzuweisen sei. Dies ist ein Verbrechen gegen das Vermächtnis Pearls, schreibt Lévy in seinem Magazin La Règle du Jeu, "man spuckt seiner Familie und vor allem seinem Sohn Adam, der einige Monate nach seinem Tod geboren wurde, ins Gesicht. Es ist auch eine Bedrohung aller Journalisten, die in einem der unwirtlichsten Länder der Welt ihren Beruf ausüben wollen. Aber es ist vor allem eine solche Absurdität der Rechtsprechung eine derartige Beleidigung etablierter Fakten, die von Sheikh selbst gestanden wurden, dass es auch eine Provokation der Vereinigten Staaten und ihres neuen Präsidenten am Beginn seiner Amtszeit ist."
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Gesellschaft

Obwohl er nicht viel anderes erwartet hat, ist Ulf Poschardt in der Welt dann doch erstaunt, mit welcher Unterwürfigkeit und "eitlen Gebücktheit" Politik und Medien die Gewaltfantasien einer - zumeist akademischen - Linken in den Jugendorganisationen von SPD, Grünen und der Linken abnicken. Anlass ist ein "führender Juso", der in sozialen Netzwerken von Erschießungen junger Liberaler und "Vermieterschweinen" oder ein Attentat auf Jeff Bezos phantasiert hatte. Obwohl er sich entschuldigte, gab es eine Vielzahl von Solidaritätsadressen, "die deutlich machen, dass die politische Linke ein Extremismusproblem hat. Und dass es bagatellisiert wird und dies Fragen nach der Verfassungstreue auch bei den Jusos aufwirft. Und weit über die Jusos hinaus. Kandidaten für den Landtag in Baden-Württemberg solidarisieren sich mit dem Erschießungsfantasten, und während bei kleinsten rhetorischen Schlenkern von jungen Liberalen oder konservativen CDU-Spitzenpolitikern sofort die Nazi-Keule ausgepackt wird, bleibt das mediale Echo in diesem Fall leise. Ähnlich leise wie nach der Holocaust-Relativierung der von den Neuen Deutschen Medienmachern als 'Lieblingskünstlerin' gehätschelten Idil Baydar (mehr dazu hier)."

Camille Kouchner hat mit "La Familia Grande" das Buch der Saison in Frankreich geschrieben (unsere Resümees), schreibt Jürg Altwegg in der FAZ. Es spielt in Saint-Germain-des-Prés in den besten Kreisen der linken Bourgeoisie - Kouchner ist die Tochter von Bernard Kouchner und erzählt eine Geschichte der Kindesmissbrauchs um ihren Stiefvater Olivier Duhamel. Das Motiv der Knabenliebe und der Liebe zu Teenager-Mädchen durchzieht die ganze französische Literatur seit Kriegende, so Altwegg: "Wegen Verführung Minderjähriger waren 1938 und 1949 die homosexuellen Schriftsteller Henry de Montherlant und Roger Peyrefitte verhaftet worden. Im Mai 1968 wurde die Polizei der Republik mit der Gestapo gleichgesetzt. Für die damals tatsächlich diskriminierten Homosexuellen galten noch immer die unter Vichy erlassenen Gesetze. Sie identifizierten sich mit den Juden. Auch Bernard Kouchner hatte das Manifest unterzeichnet. Pädophilie und Inzest waren die Themen, über die um 1968 das Tabu Vichy in der Literatur angegangen wurde."

Während in Deutschland einige für das "Recht" von Grundschülerinnen eintreten, auch in der Schule das Kopftuch tragen zu dürfen, sieht der iranische Gesetzgeber die Verschleierung von Frauen zwingend vor. Selbst wenn sie im Ausland leben, erzählt die Exiliranerin Monireh Kazemi in der NZZ. "Seit über vierzig Jahren werden die iranischen Frauen gegen ihren Willen gezwungen, in Berlin, Hamburg, Frankfurt und München mit Kopftuch und Schleier in die Botschaften und Konsulate zu gehen. Und der eigentliche Skandal: Seit Jahren ist es gängige Praxis in deutschen Standesämtern und Familiengerichten, Frauen mit iranischem Pass vor der Eheschließung eine Erlaubnis des Vaters abzuverlangen, vordergründig als 'Empfehlung zur Anerkennung im Heimatland'. Faktisch aber ist das die Voraussetzung zur Eheschließung in Deutschland. So geht Kollaboration und Islamisierung."

Deniz Yücel erzählt im Welt-Feuilleton nochmal die Geschichte der Gamestop-Aktie, die von Kleinanlegern in dem Reddit-Forum Wallstreetbets in die Höhe spekuliert wurde, um selber Geld zu machen und Hedgefonds-Manager, die gegen die Akte gewettet hatten, auszutricksen. Es ist eine Art soziale Revolte, in einer Zeit, wo viele wegen Corona ihren Job verloren und zugleich die Aktien wegen des vielen billigen Geldes boomen, meint Yücel: "Die grundsätzlichen Konflikte um Gerechtigkeit und Fairness, die hier aufblitzten, weisen über das Geschehen an den Börsen hinaus. Vielleicht war der kurze und natürlich auch bizarre Konflikt um die Gamestop-Aktie nur der Vorbote für Konflikte, die die zwanziger Jahre prägen werden." FAZ-Autor Claudius Seidl sieht die Aktienzocker-Szene in Internetforen als eine neuen Jugendkultur.
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Ideen

Wir sollten in der Pandemie mehr Diktatur wagen, ruft in der SZ der Autor Thomas Brussig. Ja, Sie lesen richtig. Sonst kriegen wir das nicht hin mit der Virusbekämpfung, meint er, und das wäre das schlechteste für die Demokratie überhaupt: "Dass ausgerechnet die Corona-Leugner eine 'Corona-Diktatur' heraufziehen sehen, sollte erst recht Grund sein, sie zu wollen. Die Leugner sind außerstande, die Gefahr durch das Virus einzuschätzen, aber sie ahnen, wie ihr beizukommen ist. Ist das Virus gebannt (wie schnell das gehen kann, machten Südkorea oder Singapur vor), kehren wir zurück zur geliebten Normalität. Dass uns die Pandemie in einen Ausnahmezustand versetzt, ist wörtlich zu nehmen. Der Regelzustand bleibt die Demokratie, mit ihren Freiheiten und Grundrechten."

In einem Text in Persuasion spießt John McWhorter die Double-Bind-Denkfiguren des heute modischen Antirassismus auf. Eine davon: "Du musst dich stets bemühen, die Erfahrungen der Schwarzen zu verstehen. Aber du kannst nie verstehen, was es heißt, schwarz zu sein, und wenn du das doch glaubst, bist du ein Rassist." McWhorter sieht diesen "Antirassismus der dritten Welle" nicht "als Philosophie, sondern als Religion". Der Text ist ein Auszug als McWhorters kommendem Buch "The Elect - Neoracists Posing as Antiracists and their Threat to a Progressive America": Und er wehrt sich gegen den "Neorassismus" der Antirassisten: "Ich schreibe dies innerlich getrieben durch die Tatsache, dass all ihre angebliche Weisheit in einer Ideologie begründet ist, in der weiße Leute, die sich selbst unsere Retter nennen, schwarze Leute wie die tumbsten, schwächsten, selbstgefälligsten Menschen in der Geschichte unserer Art aussehen lassen, und sie schwarze Menschen lehren, sich in diesem Status einzurichten und ihn zu als etwas zu lieben, das uns speziell macht."

Weiteres: Was bitte ist der "semisozialistische" oder "semidiktatoriale Staat"? Peter Sloterdijk hat es in einem Interview auf der Webseite "21 Zeitgeister" (mehr zu den Herausgebern Lucius Maltzan und Simon Nehrer hier) erklärt. René Scheu hat das Interview für die NZZ gelesen und fasst es dankenswerter Weise zusammen.
Archiv: Ideen