9punkt - Die Debattenrundschau

Zivilisierter Austausch

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.02.2021. Eins kann man aus der Geschichte der Pest lernen, informiert der Historiker Volker Reinhardt in der FR: Besser werden die Menschen durch eine Pandemie nicht. Und die EU-Kommission auch nicht, hat die FAZ recherchiert. Das häufig als schlimm kritisierte Internet hat manchmal auch gute Seiten, notiert die SZ, zum Beispiel Clubhouse in China. Ist aber schon wieder verboten. Die New York Times amüsiert sich über die Franzosen, die sich gegen Social-Justice-Theorien aus Amerika wehren. "In Belarus ist es das ganze Land, das aufsteht", betont der Autor Sascha Filipenko in der taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.02.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Wer BDS unterstützt oder Israel das Existenzrecht abspricht, muss mit Widerspruch leben, meint kühl im Interview mit der SZ Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. In die rechte Ecke lässt er sich deshalb nicht schieben, auch wenn die AfD die Resolution gegen die BDS-Kampagne noch verschärfen wollte: "Dieses durchsichtige Kalkül hat die AfD schon in der sogenannten Flüchtlingskrise verfolgt. Da hat sie darauf spekuliert, sie könnte an die Vorbehalte gegen arabische Menschen aus dem Nahen Osten appellieren, die bei einigen jüdischen Menschen vorhanden waren oder sind. Sie hat gehofft, sie könnte in uns einen Verbündeten finden, und sich dann besonders proisraelisch gezeigt. Das ist nicht nur billig. Das ist verachtenswert. Das Interesse der AfD an Juden reicht nicht weiter, als uns als Feigenblatt zu nutzen für die eigene Demagogie."
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Ideen

Im Merkur erzählt der in London lehrende Osteuropahistoriker Jan Plamper, Jörg Baberowski habe versucht, ihn aus einem akademischen Gremium herauszuschmeißen - Baberowski ist ein prominentes Mitglied des "Netzwerks Wissenschaftsfreiheit", das seinerseits "Cancel Culture" an den Uni beklagt (unsere Resümees). Für Plamper liegt auf der Hand, dass das Böse nur aus einer Richtung kommen kann: "Die vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit angestoßene Debatte ist die vorerst letzte Folge in einer Serie, in der Personen des konservativen bis neurechten Spektrums ihre frei geäußerten Meinungen vor allem zum Thema Migration mit dem Begleittext versehen, ihr Recht auf Meinungsfreiheit würde unterdrückt. Thilo Sarrazin machte diese Position 2010 in 'Deutschland schafft sich ab' salonfähig."

Norimitsu Onishi antwortet in der New York Times auf französische Attacken gegen die "Social Justice-Theorien", die ihm wie ein lustiger Folklorismus vorkommen. Seltsam findet er zum Beispiel, dass es in Frankreich keine Statistik zu "Rassen" gibt. Manche Stimmen, sagt er, sähen in der Kritik an den neuen Ideen aus Amerika ein Symptom für ein "französisches Establishment, das unfähig ist, eine sich verändernde Welt zu begreifen, vor allem in einer Zeit, wo das Mismanagment der Coronakrise durch die französische Regierung das Gefühl eines unweigerlichen Niedergangs der einstigen Großmacht bestärkt hat." Hinzu komme noch die "Islamophobie", die laut Onishi in Frankreich kaum erforscht werde. Für Franzosen, die nicht Englisch können, hat die Times den Artikel sogar übersetzt!

In den USA versuchen die Demokraten derweil noch, mit dem zweiten Amtsenthebungsverfahren gegen Ex-Präsident Donald Trump klarzustellen, dass Amtsmissbrauch nicht zur amerikanischen Verfassung gehört, berichtet Rieke Havertz auf Zeit online. "Für die Demokraten wird es eine Herausforderung, aus den Videoaufnahmen, die im Zentrum ihrer Anklage stehen, Trump eine geplante Anstiftung zum Aufruhr nachzuweisen. Doch selbst wenn sie juristisch überzeugend sein sollten, müssen sich Trumps Anwälte nicht sorgen. Zu unwahrscheinlich ist es, dass sich 17 Republikaner auf die Seite der Demokraten stellen werden. Nur mit dieser Zweidrittelmehrheit würde Trump am Ende auch verurteilt."

Außer Willy Brandt und Carl von Ossietzky (und vielleicht noch Henry Dunant) hatte eigentlich niemand den Friedensnobelpreis verdient. Er ist eine einzige Peinlichkeit, meint Willy Winkler in der SZ. Henry Kissinger, Aung San Suu Kyi, Barack Obama - alles Mörder. Letzterer war "wenigstens ehrlich und sprach in seiner Rede davon, dass er um des mehr oder weniger lieben Friedens willen manchmal Krieg führen müsse. Das tat er dann auch, und wie: Keine spektakuläre Flugzeugträgerpolitik mehr wie bei seinem Vorgänger George W. Bush, sondern von der Drohne aus, mit der sich sauber und ferngesteuert ganze Hochzeitsgesellschaften auslöschen ließen. Obama musste nicht mal die Hände aus den Hosentaschen nehmen." In der Welt legt Rafael Seligmann gleich noch Kohlen nach und plädiert dafür, Benjamin Netanjahu mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen. Denn: "Legt man keinen absoluten, sondern diesen historisch-menschlichen Maßstab an, so gebührt Benjamin Netanjahu der prestigeträchtigste Friedenspreis. Denn seine Erfolgsbilanz als Deeskalierer und Konfliktlöser ist in der gegenwärtigen Weltpolitik herausragend und in der Bekämpfung der Corona-Pandemie außergewöhnlich gut."

Eins kann man aus der Geschichte der Pest lernen, entnehmen wir einem Interview der FR mit dem Historiker Volker Reinhardt, der ein Buch zum Thema geschrieben hat: Besser werden die Menschen durch eine Pandemie nicht, und auch nicht mutiger. "Die Geschichte nimmt mit einigen nicht unwesentlichen Veränderungen ihren Lauf. Den Humanismus als Kulturströmung gibt es vorher, die Verstädterung gibt es vorher, die wirtschaftliche Entwicklung geht weiter, wenn auch auf reduziertem Niveau. Die Geschichte wird weder aufgehalten, noch bekommt sie neue Züge. Es gibt Veränderungen, allein schon die Anzahl der Menschen nimmt ab. Das Modell, das sich in Mailand bewährt hat, setzt sich immer stärker durch. Auch in Florenz. Die Medici sind verschleierte Einzelherrscher. Sie regieren bis ins zweite Viertel des 16. Jahrhunderts hinter einer republikanischen Fassade. ... Ich bringe es auf die Formel: Die Pest verändert einiges, sie verstärkt Entwicklungen, aber sie bewirkt keine wirkliche Umkehr und keine entscheidenden Innovationen."
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Medien

Patrick Bahners schildert in der FAZ den Fall des Journalisten Donald McNeil, der die New York Times nach langen Jahren der Mitarbeit verlassen muss, weil er das Wort "Negro" in einem Gespräch gebraucht hat - nicht etwa als Schimpfwort, denn in dem Gespräch mit einer Studentin ging es um das Wort selbst. Die neue antrassistische Konvention legt nahe, nur noch "N-Word" zu sagen, so Bahners, "weil jedes Aussprechen ein Akt der Perpetuierung rassistischer Gewalt sei. Das Tabu so weit auszudehnen ist eine Konvention. Sie zu befolgen legt die Höflichkeit nahe. Aber was soll aus ihrer Übertretung folgen? Dass McNeil seine Zuhörer habe provozieren, also verletzen wollen, wird ihm nicht unterstellt."

Die Entlassung war in einem Protestbrief von 150 Times-Kollegen gefordert worden, berichtet Erik Wemple in der Washington Post. Am Freitag informierte eine E-Mail von Chefredakteur Dean Baquet und Vize Joseph Kahn über McNeils Rücktritt und legte den Standard fest: 'Wir tolerieren keine rassistische Sprache, unabhängig von der Absicht.'"

Für ein paar Tage, bevor es abgeschaltet wurde, war die App Clubhouse in China ganz groß. Und die chinesischen Teilnehmer zeigten sich von ihrer besten Seite, erzählt Kai Strittmatter in der SZ: "Tausende nahmen teil an Diskussionen über Themen, die in China sonst tabu sind: Sie sprachen über die Lager in Xinjiang, die Proteste in Hongkong, das Tiananmen-Massaker 1989, die Unabhängigkeit Taiwans, den Tod des Arztes und Corona-Whistleblowers Li Wenliang vor einem Jahr. Mehr noch: Nutzer vom Festland fanden sich wieder in Chaträumen mit Teilnehmern aus Taiwan, aus Hongkong oder mit Angehörigen der Uigurischen Minderheit. Und anders als in Debatten in den stark zensierten sozialen Medien Chinas, in denen oft zornige Nationalisten, Trolle und Lohnschreiber der Partei den Ton angeben, machten viele der Gesprächsteilnehmer in Clubhouse eine ganz neue Erfahrung: Sie erlebten einen zivilisierten Austausch."

Weiteres: In der FAZ erzählt Nina Rehfeld, wie sich die Redaktion des Internetmagazins The Intercept unter Glenn Greenwald im Laufe der Jahre und einiger unschöner Skandale zerlegte - Greenwald selbst tritt jetzt gern bei Fox News auf.
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Europa

Der Schriftsteller Sascha Filipenko erzählt im Gespräch mit Jens Uthoff von der taz von der immer brutaleren Repression in Belarus. Aber er ist überzeugt, dass dort nicht einfach eine Opposition gegen das Regime aufsteht, sondern die Mehrheit. Hier sieht er auch den Unterschied zu den Protesten in Russland: "Putin hat immer noch viel mehr Unterstützung im Land. In Belarus ist es das ganze Land, das aufsteht. Und wir haben klare Forderungen: einen neuen Präsidenten sowie die Neuauszählung der Stimmen oder Neuwahlen. Auch das ist anders in Russland."

Man kann Alexander Nawalny durchaus kritisch sehen, meint der Politikwissenschaftler Andreas Umland in der NZZ. Aber man sollte seine transformative Kraft nicht unterschätzen: "Indem die Nawalny-Bewegung die Logik von Putins Machtpyramide sowie die Methoden repressiver Kontrolle unterläuft, schafft sie die Chance, in der Parteienlandschaft, in den Massenmedien und im politischen Leben Russlands einen substanziellen Pluralismus wiederzubeleben. Die Bedeutung einer solchen Transformation in der Beziehung zwischen Elite und Volk kann kaum überschätzt werden."

In einem sehr lesenswerten Hintergrundartikel zeichnet eine Reportergruppe der FAZ nach, wie es zu dem Nordirland-Desaster beim Impfstoffstreit kam - die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen hatte bekanntlich damit gedroht, die innerirische Grenze zu kontrollieren, weil sie den Verdacht hatte, dass Astra-Zeneca Impfstoffe aus Belgien nach Großbritannien schaffte: "In Belfast hat die Kommission Öl ins Feuer der Unionisten gegossen, die sich als Verlierer des Brexits sehen. London hatte deren Sorgen lange heruntergespielt, aber jetzt schaltet auch die britische Regierung auf Angriff. Boris Johnsons Stellvertreter, Michael Gove, verlangt von der EU-Kommission weitreichende Zugeständnisse - und droht andernfalls damit, selbst die Schutzklausel zu ziehen. Wenn sich beide Seiten am Donnerstag in London treffen, hat Brüssel seine eigene Position geschwächt." Nun brauchen wir noch eine Recherche zur Frage, ob sich die Briten sich tatsächlich Impfstoff über die Grenze gesichert haben.
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Internet

Der Datenschützer Thilo Weichert ist zwar im Detail skeptisch, was die kommende elektronische Patientenakte angeht, insgesamt aber sieht er auch eine Menge Sinn in dem Projekt, wie er im Interview mit Svenja Bergt von der taz darlegt: "Die Digitialisierung ist auch im Gesundheitssystem unbedingt notwendig. Nicht nur aus Gründen von Effektivität, etwa des Verhinderns von unnötigen Mehrfachuntersuchungen. Sie ist auch deshalb notwendig, weil sie ein riesiges Potenzial bietet, um die Qualität der Behandlung zu verbessern. Etwa weil die Ärztinnen und Ärzte schneller über die Behandlungsgeschichte eines Patienten im Bild sind. Oder weil Apothekerinnen und Apotheker besser darauf schauen können, ob von unterschiedlichen Ärzten verschriebene Medikamente nicht kombiniert werden sollten. Und grundsätzlich ist auch die Idee richtig, dass damit Daten für die Forschung generiert werden können."
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