9punkt - Die Debattenrundschau

Sehr französische Mischung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.02.2021. Die SZ recherchiert zu den Zuständen des Staatssenders Deutsche Welle, der nicht zur Ruhe kommt. Im Van Magazin sieht der russische Komponist Vladimir Rannev keinen Ausweg aus dem "Prozess der Barbarisierung" in Russland. Die taz macht sich Sorgen über Emmanuel Macrons neue Gesetze zur Stärkung des Laizismus.  In der FAZ spricht Alain Finkielkraut über den Fall Olivier Duhamel und die französischen Medien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.02.2021 finden Sie hier

Europa

Die taz macht sich große Sorgen über eine "antiislamische" Wendung der französischen Politik. Das Gesetz, das die Regierung unter Emmanuel Macron erlässt, um den "politischen Islam" stärker zu kontrollieren und etwa die Finanzierung islamischer Organisationen aus dem Ausland oder die Ausbildung der Imame zu überwachen, "wurzelt letztlich in antiislamisch geprägter Einflussnahme auf die Gesellschaft", meint Harriet Wolff. Der Imam Abdelhamid Khamlichi kann das nur bestätigen: "Was denkt der Imam über die 'loi républicaine', über die aktuelle Gesetzesinitiative der französischen Regierung? Er überlegt kurz, dann sagt er knapp: 'Es ist ein Dokument des Misstrauens gegen uns Muslime.' Der französische Staat habe bereits alle polizeilichen und juristischen Möglichkeiten, islamistischen Umtrieben ob im Netz, in der Moschee oder sonst wo nachzugehen und sie zu ahnden. Die Republik 'braucht nicht mehr draufzusatteln, sie muss nur zielführender durchgreifen'."

Rudolf Balmer erläutert die Bestimmungen in einem zweiten Artikel. Eine davon: Das Gesetz soll "das Verbot der Polygamie oder den Kampf gegen Zwangsehen bekräftigen. Den Ärzt:innen wird zudem verboten, von religiösen Familien verlangte Jungfräulichkeitsbescheinigungen auszustellen."

Der französische Philosoph und Publizist Alain Finkielkraut polarisiert immer wieder. Im Informationssender LCI hatte er gesagt, dass auch Olivier Duhamel, einer der angesehensten Verfassungsrechtler Frankreichs, der des Missbrauchs seines Adoptivsohns  beschuldigt  wird, ein Recht habe sich zu verteidigen. Die weit zurückliegende Affäre war durch das Buch "La Familie grande" von Camille Kouchner offengelegt worden (unsere Resümees). Finkielkraut erzählt im Interview mit Jürg Altwegg in der FAZ, wie ihn der Sender LCI, wo er wöchentlich auftrat, feuerte, und keine einzige Zeitung ihm erlaubte, sich in einem Text zu äußern. Altweggs Vorschlag, es mit RT zu versuchen, lehnt er dann aber doch ab: "Ich verstehe nicht, wie man sich auf RT einlassen kann. Nie würde ich eine Einladung von Putins Propagandasender akzeptieren. Ein Herrscher, der seine Opponenten vergiftet, muss bekämpft werden. Die französischen Medien zeichnen sich gegenwärtig nicht durch den Kampf für die Meinungsfreiheit aus. Unter dem Druck der sozialen Medien üben sie immer öfter Zensur aus."

Im Tagesspiegel kommentiert Andrea Nüsse die Vorfälle um den Missbrauchsskandal um Olivier Duhamel, in dessen Zuge nun immer mehr Köpfe rollen: "Es ist eine Abrechnung der Kinder mit der Generation der 68er: Ähnlich wie beim Skandal um den Missbrauch in der Odenwaldschule scheint es damals in diesen Kreisen ein verstörendes Verständnis vom Umgang mit der Sexualität von Kindern gegeben zu haben. Es wurde sogar noch offener kultiviert - man denke an die Werke des Schriftstellers Gabriel Matzneff, der der Pädophilie im Werk und im Leben huldigte und bis 2019 bei dem angesehenen Verlag Gallimard veröffentlichte. Der Nährboden für diese Spielarten der Libertinage ist wohl eine sehr französischen Mischung aus höfischen Sitten und dem Geist von Mai 68."

"Im modernen Russland liegt die Macht in den Händen von ehemaligen und 'legalen Banditen' - den KGB-Offizieren. In ihrer Machtausübung setzt diese Gruppe auf Mittel, die sich bereits im 20. Jahrhundert bei den faschistischen und kommunistischen Regimen bewährt haben - Repression und Propaganda", schreibt im Van-Magazin der russische Komponist Vladimir Rannev. Er sieht keinen Ausweg aus dem "Prozess der Barbarisierung", im Gegenteil: "Bisher gibt es in Russland keine Massaker wie in der stalinistischen UdSSR, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass, sollte die Situation es verlangen, auch solch brutale Maßnahmen ergriffen würden. Aktuell operieren die Behörden mit 'Soft Power'-Propaganda, die die Gesellschaft schnell entmenschlicht. Aggression und Lügen werden im Alltag zur Norm. Die offizielle Presselandschaft - alle Fernsehsender und fast alle Radiosender und Zeitungen - erinnern an das deutsche Pressewesen unter Goebbels. Hier in Russland haben wir seine besten Schüler."

Weiche Sanktionen gegen Russland bringen nichts, schreibt Christoph Schlitz und fordert in der Welt, Russland mit "Härte" bei der Wirtschaft zu packen: "Russland leidet unter dem Ölpreisverfall, unter der Abwertung des Rubels und anhaltenden Kapitalexporten. Gleichzeitig besteht eine hohe Abhängigkeit von europäischen Direktinvestitionen und EU-Importen, insbesondere bei pharmazeutischen Produkten, Datenverarbeitungsgeräten und im Maschinenbau. Hier muss die EU endlich ansetzen." Außerdem enthüllt das Investigativportal Bellingcat, dass die Einheit des FSB, die Nawalny vergiftet hat, wohl auch in einen Anschlag auf den Politiker Wladimir Kara-Mursa verwickelt war.
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Medien

Vor einem Jahr brachte bereits der Guardian einen Artikel über Rassismus und Sexismus bei der Deutschen Welle. (Unsere Resümees). Noch immer scheinen Missmanagement, Einschüchterung und Schikane auf der Tagesordnung zu stehen, wie Mohamed Amjahid in der SZ aus internen Dokumenten und von MitarbeiterInnen erfahren hat. Wer Kritik übt, werde rausgeschmissen, im Dezember mussten drei arabische MitarbeiterInnen gehen, denen zudem Hausverbot erteilt wurde, heißt es weiter: "Aus verschiedenen dieser sehr unterschiedlichen Abteilungen berichten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über Jahre hinweg von extremen Wutausbrüchen von Führungskräften. Ein Kollege soll einer jüngeren Kollegin gedroht haben, ihr den Finger zu brechen. Eine Führungskraft soll Angestellte wiederholt cholerisch angeschrien haben, wie interne Beschwerden, die der SZ vorliegen, beispielhaft zeigen. Dieselbe Führungskraft soll, so berichten es mehrere Kollegen, bei einer Redaktionssitzung noch vor der Pandemie eine Mitarbeiterin abqualifiziert haben mit der Äußerung, sie sei zu hässlich, um vor der Kamera zu stehen."

Bereits 2019 hatte der der Islamwissenschaftler Fabian Goldmann die Talkshows bei ARD und ZDF untersucht und festgestellt, dass der Ausländeranteil in Sendungen "Anne Will", "Hart aber fair", "Maischberger" und "Maybrit Illner" bei nur gut fünf Prozent lag, erinnert Daniel Bouhs auf Zeit Online. Geändert hat sich seitdem nicht viel, besonders divers sind die Öffentlich-Rechtlichen noch immer nicht, erfährt er in Gesprächen mit Verantwortlichen: "Beim WDR sieht man sich allerdings schon länger auf einem richtigen Weg und verweist dabei zum Beispiel auf eine Ausgabe von Hart aber fair zum 'Streit um die Sprache - Was darf man noch sagen und was besser nicht?' mit dem Journalisten Stephan Anpalagan und Andrew Onuegbu, der sein Restaurant 'Zum Mohrenkopf' nannte, oder auch eine Runde bei Maischberger mit der Publizistin Lamya Kaddor und dem Lungenarzt Cihan Celik. Chefredakteurin Ehni sagt: 'Wir sind in den vergangenen Jahren deutlich diverser geworden. Aber darauf ruht sich hier niemand aus.'"

Weiteres: Der New York Times-Kolumnist Bret Stephens durfte die Vorgänge um den Redakteur Donald McNeil, der von 150 KollegInnen wegen des Gebrauchs des Worts "Negro" in einer Diskussion über dieses Wort angegriffen und dann rausgeschmissen wurde (unser Resümee), nicht in der New York Times kommentieren - also erschien sein Kommentar in der New York Post. "Ein Journalismus, der Worte zu Totems macht - und Totems zu Ängsten - ist ein Hindernis für klares Denken und richtiges Verstehen."
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Gesellschaft

Rechte lehnen die Demokratie ab, musste der linke Aktivist Torsten Galke erfahren, der in der taz sein Leben in einer linken Initiative in Greifswald beschreibt, wo die rechte Gesinnung in der Bevölkerung vorherrsche. Das führe zu einer paradoxen Konsequenz: "Als radikaler Linker freue ich mich, mittlerweile seit 2015, dass Merkel an der Macht ist, und verteidige die bundesdeutsche FDGO, die ich eigentlich als eine heuchlerische, rassistische, Menschen mordende, imperialistische Scheindemokratie verurteile, gegen faschistische Strukturen, die ebendiese Demokratie angreifen und durch eine Diskursverschiebung noch weiter nach rechts ein Klima des Terrors geschaffen haben. Und das Irre ist, dass die Polizei, die uns Linke seit Jahrzehnten mit allen Arten von Repression überzieht, mittlerweile zum überlebenswichtigen Partner geworden ist." Ja, wirklich, das klingt ja irre.

Hierzulande werden zunächst die Alten geimpft, in Indonesien beispielsweise kommen zuerst die Jüngsten dran - so oder so wird die Frage nach der Gerechtigkeit der Verteilung immer lauter gestellt, schreibt der Archäologe Martin Flashar in der NZZ. Warum besinnen wir uns nicht auf das "urdemokratische Prinzip des Losverfahrens", fragt er: "Im alten Griechenland wurde das Losverfahren für die Wahlen in politische Ämter eingesetzt. Heute geht es um die Reihenfolge, in der die Bevölkerung zur Corona-Impfung zugelassen wird. Das ist ein großer Unterschied. Doch in beiden Fällen geht es darum, Menschen Vorteile zukommen zu lassen, und dies auf eine Weise, die möglichst gerecht ist. Bezogen auf die Impfung heißt das: Abgesehen von den Fällen, in denen sich eine Ungleichbehandlung rechtfertigen lässt - aufgrund von Kriterien wie Alter, Gesundheitszustand oder Systemrelevanz der betreffenden Personen -, sollen alle Menschen gleich behandelt werden."
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Politik

Es herrscht ein Konsens, das die amerikanische Intervention im Irak eine Katastrophe war. Beim näheren Hinsehen ergibt sich ein differenzierteres Bild, schreibt Richard Herzinger im Perlentaucher:"Nicht die US-Intervention selbst, sondern der überstürzte amerikanische Abzug war .. der Auslöser für die blutigen Erschütterungen der vergangenen Jahre. Doch dem Horror der Saddam-Herrschaft sind die heutigen Verhältnisse im Irak allemal vorzuziehen. Erst Saddams Sturz machte es möglich, dass sich dort eine Zivilgesellschaft herausbilden konnte, deren wachsendes Selbstbewusstsein durch die breite Protestbewegung der Jahre 2019/20 offenbar wurde." Und inzwischen hat die Nicht-Intervention in Syrien wesentlich mehr Tote gekostet als die Intervention im Irak.
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Stichwörter: Irakkrieg, Syrienkrieg, Irak

Geschichte

Der bekannte Historiker Jan Tomasz Gross äußert sich in einem kurzen Interview mit Gabriele Lesser in der Jüdischen Allegemeinen zum Urteil gegen die Holocaustforscher Barbara Engelking und Jan Grabowski in Polen. Die beiden haben zu polnischer Kollaboration geforscht und wurden wegen eines Fehlers im Detail verurteilt, sich zu entschuldigen (mehr hier und hier): "Es ist skandalös, dass das Gericht den Fall überhaupt angenommen hat", so Gross. "Es liegt nicht in der Kompetenz von Richtern, ein Urteil über die Geschichte zu fällen." Gross hofft auf ein Berufungsverfahren.
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