9punkt - Die Debattenrundschau

Reale Ortserfahrung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.02.2021. Was hat die Maoisten unter den 68ern am Maoismus fasziniert? Leider nicht ein Versprechen auf Emanzipation, fürchtet Hans-Christoph Buch in der NZZ:  "Es war die jakobinische Schärfe, ein mit Fanatismus gepaarter Vernichtungswillen." Der CDU-Politiker Ralph Brinkhaus forderte eine "Revolution" des Föderalismus in Deutschland. Prima, sagen die Ruhrbarone, aber das haben die deutschen Kaiser schon vor tausend Jahren probiert. Die Migrationsforscherin Naika Foroutan fordert in der taz eine Migrantenquote.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.02.2021 finden Sie hier

Europa

Ralph Brinkhaus, Fraktionsvorsitzeder der CDU im Bundestag, hat in der Welt "eine Jahrhundertreform - vielleicht sogar eine Revolution" gefordert: Er spricht damit die nicht gerade reibungslose Zusammenarbeit von Bund, Städten und Gemeinden in der Coronakrise an, die er unbedingt besser abstimmen will. Stefan Laurin stimmt bei den Ruhrbaronen zwar zu, hat aber ein paar historische Einwände: "Problematisch wird die Umsetzung, denn sie würde bedeuten, dass Länder und Städte Macht abgeben müssen. Dagegen werden sie sich wehren, auch wenn es um so etwas eigentlich Belangloses wie die Auswahl einer Software geht, die nur im Krisenfall genutzt wird. Jede Auseinandersetzung wird schnell symbolisch aufgeladen werden. Und Brinkhaus rührt an etwas, das für Deutschland schon kennzeichnend war, bevor es den Namen und so etwas wie moderne Staatlichkeit überhaupt gab. Bereits Otto, der erste Kaiser des im 10. Jahrhundert gegründeten Sacrum Imperium Romanum, konnte nur davon träumen, durchzuregieren. Die Macht der Fürsten schränkte immer die Macht des Oberhauptes ein."

Naika Foroutan von der regierungsnahen Organisation Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) fordert in der taz eine Migrantenquote im öffentlichen Dienst und richtet sich dabei besonders an die SPD: "Es stimmt, dass eine Quote auch zu neuen Ungleichheiten führen kann. Eine Frauenquote an Universitäten kann beispielsweise Jungen aus Arbeiterfamilien gegenüber Mädchen aus bildungsbürgerlichen Haushalten benachteiligen. Aber gesellschaftspolitisch dient die Quote auch dem Ziel, soziale Gruppen teilhaben zu lassen, die aufgrund von rassistischen Ressentiments benachteiligt werden. Strukturelle Ungleichheiten, die teils Jahrhunderte alt sind, lassen sich nicht kurzfristig ausgleichen. Frauen, Migranten, Ostdeutsche, Arbeiter können und wollen aber auch nicht weitere Jahrzehnte warten, bis sich ihre soziale Position irgendwann verbessert."
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Geschichte

Warum waren westliche Linke in den sechziger und siebziger Jahren so scharf darauf, den Maoismus zu preisen, obwohl sie wussten, wofür er stand: Terror und Millionen von Toten, fragt Hans Christoph Buch in der NZZ. Ganz vorne die Gründer von KPD/AO und KBW Christian Semler und Joscha Schmierer: "Die Antwort ist deprimierend, denn es war nicht die im Marxismus enthaltene Hoffnung auf Emanzipation. Es war die jakobinische Schärfe, ein mit Fanatismus gepaarter Vernichtungswillen, was sie fasziniert hat. So besehen, war Horst Mahlers Bekenntnis zur NS-Ideologie, einschließlich der Judenverfolgung, kein Ausrutscher, sondern die letzte Konsequenz seiner Mitgliedschaft in der RAF und später der Kommunistischen Partei Deutschlands (Aufbauorganisation) (KPD/AO)."

Wer war der Ukrainer Stepan Bandera? Mitglied der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), ein nationalistischer Terrorist, der für die nach dem ersten Weltkrieg zwischen Polen und der Sowjetunion aufgeteilten Ukraine einen eigenen Staat forderte. Soviel ist klar, schreibt in der NZZ der Historiker Andrii Portnov. Die OUN kämpfte gegen Polen und Russen, Bandera selbst kam ins Gefängnis, weil er gegen den Willen der Nazis einen ukrainischen Staat ausrief. Danach, meint Portnov, der einen faszinierenden Geschichtsabriss liefert, spielte Bandera, der im Exil blieb, im Grunde keine aktive Rolle mehr, bis er vom russischen Geheimdienst getötet wurde. Heute so Portnov, wird er von allen politischen Seiten benutzt, was eine konstruktive Beschäftigung mit der ukrainischen Geschichte eher behindert: "Sowohl die negative als auch die positive Stereotypisierung von Bandera findet in schrillen Tonlagen statt. ... Diese Aktualisierung nützt sowohl den Anhängern des Bandera-Kults als auch seinen Zerstörern. Sie macht eine offene Diskussion über das Thema (fast) unmöglich. Der moderne Diskurs pro und contra Bandera findet meist in einem exaltierten Stil à la Donzow statt. Möglicherweise unterdrückt die Lautstärke der Auseinandersetzungen um Bandera die Tatsache, dass die historische Figur Bandera keineswegs zentral für die ukrainische Geschichte ist und dass die positiven und negativen Mythen um seine Person nicht der Schlüssel zum Verständnis der sozialen und politischen Phänomene der heutigen Ukraine sind."
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Medien

Ben Smith, der Medienkolumnist der New York Times, erklärt das "russische Wort "Probiv": Gemeint ist damit der Ankauf personenbezogener Daten, zum Beispiel Metadaten von Handys, mit dem in Russland Kriminelle arbeiten, aber eben auch investigative Online-Medien wie Bellingcat oder The Insider: "Probiv ist fast ausschließlich ein russisches Phänomen. Als Roman Dobrochotow, der 2013 The Insider gründete, vor ein paar Jahren in Kiew war, fragte er einen lokalen Journalisten, wo er die Telefonaufzeichnungen einer Person finden könne, über die er recherchierte, und war überrascht zu erfahren, dass das keine gängige Praxis war. Da habe er erkannt, dass 'Russland möglicherweise das transparenteste Land der Welt ist'."

In einem ganz interessanten kleinen Denkstück beschreibt der New Yorker Journalismusprofessor Jay Rosen, was seiner Meinung nach den politischen Journalismus in den USA in den Abgrund der Lächerlichkeit führte. Er nennt es den "Savvy Style", den "schlauen Stil", der Politik als bloßes taktisches Spiel beschreibt. Leitspruch: "Es mag hässlich sein, aber es ist gute Politik." Spätestens mit Newt Gingrich, der Tea Party, dem Aufstieg von Fox News und anderen Anzeichen einer kompletten Derealisierung der Politik bei den Republikaner verfing dieses Muster nicht mehr: "Keines dieser Dinge passt in der Muster zweier ungefähr ähnlicher Parteien mit unterschiedlichen Philosophien, die ihre Wahlen gewinnen, indem sie intelligent auf das 'vitale Zentrum' zielen. Der 'Savvy Style' war in der Krise, aber niemand schien es zu bemerken."
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Ideen

Der französische Philosoph Bruno Latour verarbeitet in seinem neuen Buch "Où suis-je?" (Wo bin ich?) Lektionen aus dem Lockdown, erzählt Joseph Hanimann sehr angetan in der SZ. Wie Kafkas Gregor Samsa entdecke sich der Mensch in der Krise als ortsgebundenes Wesen wieder: "Kriechbewegung nur in die nähere Umgebung, langes Verharren in der eigenen Wohnnische und keine Spur mehr vom freien Herumschwirren im zuvor grenzenlosen Horizont individueller Mobilität. Doch seltsamerweise bringt gerade das, so Latour, eine neue Art von Freiheit mit sich. Denn aus der Illusion eines unendlichen Raums, an die uns das wissenschaftliche Weltbild seit vier Jahrhunderten gewöhnt hat, als wären alle Grenzen nur zum Durchbrechen und Überschreiten da, hätten wir zur realen Ortserfahrung als terrestrische Wesen zurückgefunden." Für Hanimann ein neues Glück.

Im Guardian würdigt Kenan Malik den Mut der Demonstranten in Burma. Aber er fragt auch: Wo waren diese Verfechter der Demokratie 2017, als die Armee die Rohingyas tötete und vertrieb? "Welchen Preis ist eine Demokratiebewegung bereit, für ein Stückchen Macht zu zahlen? Ein Kompromiss mag in einer Situation wie in Myanmar unvermeidlich sein, wo die Wahl nur zwischen einer Zusammenarbeit mit dem Militär oder einer fortgesetzten Militärherrschaft besteht. Für viele jedoch, und besonders für die Rohingya, ist der Unterschied zwischen beiden schwer zu erkennen. Das Versäumnis, die Rohingya zu verteidigen, hat die Bewegung für Demokratie nur geschwächt. Es kann keine Form von Demokratie oder Freiheit geben, die auf Kosten der Schwächsten oder Verachtetsten in einer Gesellschaft erkauft wird. Das gilt nicht nur für die Rohingya in Myanmar, sondern auch für Muslime in Indien, für Frauen in Saudi-Arabien, für Arbeitsmigranten in Südafrika, für Migranten ohne Papiere in Europa."

In der FAZ erklärt Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a.D., warum er rechte und linke Identitätspolitik nur in Maßen erträgt. Den Rechten solle man den Begriff der Nation nicht überlassen, schreibt er, und linke Identitätspolitik sei in der Gefahr, "nicht akzeptieren zu können, dass nicht nur Minderheiten, sondern auch Mehrheiten berechtigte kulturelle Ansprüche haben und diese nicht als bloß konservativ oder reaktionär oder gar als rassistisch denunziert werden sollten."
Archiv: Ideen