9punkt - Die Debattenrundschau

Mit einer Taschenlampe auf dem Hof

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.02.2021. Es gibt noch Sklaverei in der Welt. Der Guardian hat mal zusammengezählt: 6.500 Vertragsarbeiter aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka sind beim Bau der Stadien für die Fußball-WM in Katar 2022 ums Leben gekommen: Das wird ein Fußballfest! Joshua Benton schildert im Niemanlab den australischen Kampf zwischen den Internetgiganten und Rupert Murdoch als Kampf zwischen Bösen und Bösen. Die Springer-Medien Welt und Politico sind aber soweit einverstanden mit dem, was kommt. In der NZZ singt Samuel Schirmbeck ein Loblied auf den Mut der IslamkritikerInnen in arabischen Ländern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.02.2021 finden Sie hier

Politik

Nachrichten aus der modernen Sklaverei. Der Guardian hat mal zusammengezählt - basierend auf Zahlen der Arbeitsrechtsorganisation FairSquare Projects: In Katar sind seit den zehn Jahren, als dem Land die Fußball-WM für 2022 zugesprochen wurde 6.500 Arbeiter aus den Ländern Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka gestorben. Nach näheren Umständen forscht das Land nicht. Die meisten trauernden Familien bekommen die Mitteilung, ihr Angehöriger und wichtigster Ernährer sei eines "natürlichen Todes" gestorben. "Die aus Regierungsquellen zusammengetragenen Ergebnisse bedeuten, dass seit der Nacht im Dezember 2010, als die Straßen von Doha mit ekstatischen Menschenmengen gefüllt waren, die den Sieg Katars feierten, aus diesen fünf südasiatischen Nationen durchschnittlich 12 Wanderarbeiter pro Woche gestorben sind. (...) Die Gesamtzahl der Todesopfer ist aber wesentlich höher, da in diesen Zahlen die Todesfälle aus einer Reihe von Ländern nicht enthalten sind, die eine große Anzahl von Arbeitern nach Katar schicken, darunter die Philippinen und Kenia."
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Medien

Joshua Benton schildert im Niemanlab den australischen Kampf zwischen den Internetgiganten und Rupert Murdoch als Kampf zwischen Bösen und Bösen. Und er sieht Facebook nach dem Einlenken der australischen Regierung als Sieger, denn der Konzern könne jetzt selbst entscheiden, wem er eine Linksteuer zahlt und wem nicht: "Facebook ist ein unternehmerischer Albtraum, der der Demokratie sehr realen und deutlichen Schaden zugefügt hat. Die australischen Behörden haben sich als Wasserträger für Rupert Murdoch betätigt und eine Politik vorgeschlagen, die, wie Tim Berners-Lee sagt, das Web 'unbenutzbar' machen würde. Aber ein böses Unternehmen, das mit bösen Regulierungen konfrontiert ist, kocht auf reine Macht herunter, und Facebook hat sehr deutlich gemacht, wo diese noch liegt, indem es die Geiseln erschoss."

In Australien wurde ein Stellvertreterkampf geführt. "Im Kern geht es immer um das Ziel, Digitalkonzerne zu Verhandlungen mit Medienunternehmen" zu zwingen, schreibt Christian Meier, Medienkolumnist des Springer-Blattes Welt und damit eines Mediums, das für den größten Zeitungslobbyisten Europas spricht. Nebenbei gibt er zu, dass das häufig mit hehrem Getöse beschworene Urheberrecht nur ein taktisches Element ist: "Der Hebel, über den dieses Ziel erreicht werden soll, unterscheidet sich - vom Kartellrecht bis zum Urheberrecht sind verschiedene Ansätze für eine Regulierung denkbar." Meier freut sich aber, dass die Linksteuer, die den etablierten Medien - neben den zu erwartenden Subventionen - eine garantierte Rente gibt, kommen wird. Und er weiß, wem das zu verdanken ist: "Ohne Murdoch, dem zahlreiche Medien in seiner australischen Heimat gehören, wäre es vermutlich erst gar nicht zu dem Gesetz gekommen."

Australien wird zum Vorbild, kommentiert Mark Scott bei politico.eu und sieht ein ähnliches Linksteuer-System im Grunde in der europäischen Urheberrechtsreform schon angelegt: "Erst am Montag haben sich europäische Zeitungskonzerne (darunter Axel Springer, Miteigentümer der europäischen Ausgabe von Politico) mit Microsoft zusammengetan, um ähnliche Verhandlungsbefugnisse im Rahmen der neuen EU-Urheberrechtsregelung zu fordern. Diese Gesetze, die noch in die nationale Gesetzgebung der 27 Länder übernommen werden müssen, verlangen von Unternehmen wie Google und Facebook Lizenzvereinbarungen mit Plattenfirmen, Verlagen und anderen zu verhandeln, um ihre Inhalte zu veröffentlichen. Obwohl das europäische Gesetz nicht die gleichen verbindlichen Schiedsklauseln wie in Australien vorsieht, haben Tech-Unternehmen in der Praxis kaum eine andere Wahl als zu verhandeln."
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Kulturpolitik

In der SZ verteidigt Till Briegleb die jüdische Gemeinde Hamburgs, die ihre 1939 zerstörte Synagoge wieder rekonstruieren will, statt etwas ganz neues zu bauen: Geschichtsrevisionismus und Disneyland-Wünsche wurde ihr daraufhin vorgeworfen und dass sie damit die Verbrechen der Nazis ungesehen machen würden, was Briegleb "völlig absurd" findet: "Die Begründer der modernen Formensprache und Stadtplanung favorisierten bekanntlich die Tabula rasa, die Standardisierung und reinigende Beseitigung des Alten. Dass die ästhetische Reduktion dieses Stils jemals ein differenzierteres Geschichtsbild in der Gesellschaft erzeugt hätte, würde vermutlich heute kein Architektursoziologe mehr behaupten." Und in Hamburg findet Briegleb die Diskussion besonders heuchlerisch, wo "alle Orte der Täter in derselben Stadt, vom Rathaus bis zum ehemaligen Gestapo-Hauptquartier, schmuck und ohne jede Gedenklücke im Stil der Vergangenheit rekonstruiert wurden, Letzterer als Shoppingmall."

Eine Forschergruppe hat einen "Leitfaden Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten" erarbeitet, in dem geklärt wird, welche Weltgegend wann als Kolonie zu gelten hat, aber Andreas Kilb ist in der FAZ nicht sehr zufrieden: "Eine abschließende Festlegung von Erwerbungsumständen, die als unrechtmäßig zu betrachten seien und deshalb zur Rückgabe von Objekten führen könnten, hielten die Autorinnen 'wegen der Vielzahl der verschiedenen Fallgestaltungen' derzeit nicht für sinnvoll, orakelt der Leitfaden." Und so bleibe jedes Museum in der Frage der Rückgabe weiterhin auf sich gestellt. Im Tagesspiegel sieht Nicola Kuhn das nicht ganz so kritisch: "Es könnte ein Zeichen des Aufbruchs sein, so war Veränderungswille gestern bei der digitalen Präsentation des Leitfadens zu spüren. Aber auch die Sorge, dass die finanziellen Ressourcen der Museen nicht reichen für eine Untersuchung, genauer: Onlinisierung der Sammlungsbestände und den Dialog mit den Interessensvertreter:nnen aus den Herkunftsgesellschaften. Dazu gehören ebenso Reisemöglichkeiten für Kolleg:nnen etwa aus Afrika, Visa und Stipendien. 'Ein neue Ethik für den globalen Kulturaustausch' forderte deshalb Eckart Köhne, Präsident des Museumsbunds. Nur so bekomme der Prozess Glaubwürdigkeit. Zugleich ließ er durchblicken, dass diese neue Ethik ihre Kosten hat." Wie schleppend es mit der Bestandsaufnahme geht, beschreibt Paul Starzmann, ebenfalls im Tagesspiegel.
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Europa

Die Bekämpfung des islamistischen Terrors in Deutschland ist ein Erfolg. Viele Anschläge sind vereitelt worden, die Dienste arbeiten alles in allem gut zusammen, schreibt Alexander Haneke im Leitartikel der FAZ: "Heute kann man sagen, dass die Szene der gewaltbereiten Islamisten in Deutschland nachhaltig geschwächt ist. Ihr mythisch aufgeladener Anziehungspunkt, das 'Kalifat' des IS in Syrien und dem Irak, ist militärisch ausgelöscht. In Deutschland sind die schlimmsten Foren und Moscheevereine verboten und viele Köpfe hinter Gittern. Was an Gruppen übrig blieb, ist zersplittert, überregionale Führungsfiguren gibt es praktisch nicht mehr."

Richard Herzinger schlägt in seinem Blog vor, dass die Nato die Ukraine aufnimmt: "Bereits 2008 wollten die USA unter Präsident George W. Bush die Ukraine und Georgien in den Mitgliedschafts-Aktionsplan (MAP)  aufnehmen. Damals verhinderten dies die Europäer, allen voran Deutschland, mit der Begründung, man wolle Russland nicht zu verstärkter Feindseligkeit gegenüber dem Westen provozieren. Seitdem sind zuerst Georgien und dann die Ukraine Opfer der militärischen Aggression Moskaus geworden. Wären die beiden Länder Teil der Nato gewesen, hätte der Kreml dies wohl kaum gewagt."

Die schreckliche Hoffnungslosigkeit, unter der die Russen leiden, verrät auch ein Text des Dramaturgen Walerij Petscheikin in der SZ. Nicht von Politik ist hier die Rede, von Manifesten und Visionen, die sofort die Staatsmacht auf den Plan rufen würden, sondern von Romantik: "Die Behörden gehen grausam und rational vor, während die Opposition versucht, an die romantischen Gefühle junger Menschen zu appellieren. Sie hatte zum Beispiel eine Protestaktion für den 14. Februar, den Valentinstag, geplant. Die Teilnehmer sollten sich mit einer Taschenlampe auf den Hof ihres Hauses stellen. Manchem erschien das zunächst lächerlich. Doch nach dem harten Vorgehen der russischen Behörden nahmen viele die Sache ernst. Ich denke, dass die Behörden vorrangig nicht die Tatsache des Protests allein beunruhigt, sondern dass sich der Protest innerhalb einer romantischen Jugendkultur vollzieht, von der Beamte nichts verstehen und die sie nicht kontrollieren können."
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Gesellschaft

Mit großer Bewunderung für den Mut arabischer IslamkritikerInnen schildert in der NZZ der Fernsehjournalist Samuel Schirmbeck die Versuche im Maghreb, sich einen demokratische Freiraum gegen religiöse "Gummiparagrafen wie 'Verletzung der religiösen Vorschriften', 'Beleidigung des Islam', ... 'Blasphemie', 'Profanierung des Koran'" zu schaffen. "Wenn ein Mädchen und ein Junge wegen eines im Internet veröffentlichten Kuss-Fotos vor Gericht gestellt werden und deswegen vor dem Parlament in Rabat ein Solidaritäts-'Kiss-in' stattfindet, wenn der Schriftsteller Abdellah Taia sich als erster Marokkaner öffentlich als Homosexueller outet und daraufhin ein Universitätsdekan, der eine Vorlesung zu seinen Werken gestattet, von fanatischen Gläubigen fast gelyncht wird, wenn die Journalistin Zineb El Rhazoui mit fünf anderen beschließt, mit einem öffentlichen Picknick während des Ramadan für die Gewissensfreiheit das Fasten zu brechen, wenn wenig später in Algerien dasselbe passiert, wenn Musliminnen gegen die 'Geißel der sexuellen Übergriffe' und das islamische außereheliche Sexverbot protestieren und dafür 'Frauen herabwürdigende religiöse Texte' verantwortlich machen, löst das jedes Mal stürmische Debatten aus über die 'Gebote des Islam'."

Auf Zeit online überlegt die Autorin Daniela Dröscher, wie sich die Mittelklasse, der sie ein Identitätsproblem bescheinigt, revolutionieren ließe: "Die Mittelklasse hätte das Potenzial, ein solidarischer Verbündeter zu sein. (Queer-)feministisch, postmigrantisch und aktivistisch, wie sie in vielen Teilen ist, partizipiert sie bereits jetzt an Bündnissen wie #unteilbar, Fridays For Future oder Black Lives Matter. Ihr revolutionäres Potenzial bestünde darin, sich radikal mit den Angehörigen der Armutsklasse zu solidarisieren. Für die Oberklasse würde dies bedeuten: Verdienstobergrenzen, Vermögens- und Erbschaftssteuern, für die Armutsklasse schlicht das Ende der Armut."

Weiteres: Für eine höhere Erbschaftssteuer plädiert in der FR auch der in der Klimaforschung engagierte Wirtschaftswissenschaftler Jörg Peters. Er möchte damit die "benachteiligten Schichten befrieden", für die Klimaschutz oft nur ein "Elitenthema" sei.
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