9punkt - Die Debattenrundschau

Es fühlt sich an wie eine Zeitenwende

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.02.2021. Das niederländische Parlament hat gestern als erste Volksvertretung der EU die chinesische Behandlung der Uiguren als "Genozid" bezeichnet, berichtet politico.eu. Die NZZ plädiert für das  skrupulöse Argumentieren. Die SZ wirft einen Blick auf die Beziehung zwischen Sozialdemokraten und Soldaten. Amnesty international entzieht Alexei Nawalny den Status eines "Prisoner of conscience" - die taz kritisiert die Entscheidung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.02.2021 finden Sie hier

Europa

Amnesty International hat Alexej Nawalny wegen seiner frühen nationalistischen Äußerungen (am besten hat hierüber Masha Gessen geschrieben, unser Resümee) und nach einer vom putinistischen Medium RT Today angestoßenen Twitter-Kampagne den Status eines "Prisoner of Conscience" aberkannt. "Die KGB-Methode der 'reflexiven Kontrolle' hat wieder einmal gegriffen", kommentiert Inna Hartwich in der taz: "Der Gegner wurde auch hier zu Handlungen getrieben, die letztlich dem Kreml nutzen und nicht dem eigentlichen Opfer. Und ein Opfer von Russlands politischer Willkürjustiz ist Nawalny allemal, trotz seiner fragwürdigen politischen Positionen." Hier der taz-Bericht zum Thema, und hier Klaus-Helge Donath über Nawalnys damalige Äußerungen.

Laut Umfragen würde inzwischen nur noch ein Fünftel der Ukrainer für Wolodomir Selenskij im ersten Wahlgang stimmen, schreibt Florian Hassel in der SZ und erkllärt: "Selenskij führt das postsowjetische Herrschaftssystem fort und akzeptiert Korruption und Rechtlosigkeit im Austausch dafür, dass er und sein Apparat weitgehend die Kontrolle behalten. Selenskij hat mit der Ausnahme seines Vorgehens gegen den kremlnahen Politiker und Medienmogul Wiktor Medwedtschuk nichts getan, um die Macht der Oligarchen über Teile der Politik, der Medien und der Wirtschaft aufzubrechen. Ein funktionierender Staat braucht unabhängige Institutionen - die gibt es unter Selenskij weiterhin nicht. Im Gegenteil, 2020 unterstellte er sich faktisch die zuvor halbwegs unabhängige Zentralbank und die Generalstaatsanwaltschaft; so gut wie alle angesehenen Reformer wurden gefeuert."
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Medien

Die New York Times hat nicht nur mehrere Journalisten entlassen (Unsere Resümees), parallel hat sie vor acht Monaten eine Untersuchung zur Identität des Unternehmens angestoßen, weiß Christian Meier in der Welt. Mitarbeiter wurden zu ihrer Herkunft, ethnischen Zugehörigkeit, sexuellen Orientierung und zu ihrem sozioökonomischen Hintergrund befragt, verstärkt wurden Frauen und "people of color" eingestellt - derzeit sind 52 Prozent der Mitarbeiter Frauen, 34 Prozent PoC - aber nicht weiße Frauen sind in den Führungspositionen weiterhin unterrepräsentiert, fährt Meier fort und entnimmt der Untersuchung, die er arbeitsrechtlich nicht für unproblematisch hält, weitere Zielvorgaben: "Zum Journalismus der Zeitung heißt es auch, man werde Datenanalysewerkzeuge einsetzen, um zu messen, wie gut oder schlecht einzelne Gruppen in der Berichterstattung repräsentiert sind, sowohl als Quellen wie als Protagonisten. Wird dies bedeuten, dass Redakteure sich rechtfertigen müssen, wenn sie statistisch betrachtet beispielsweise zu wenig Frauen zu Wort kommen lassen?"
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Stichwörter: New York Times

Gesellschaft

Wo immer demokratischer Diskurs zusammenbricht oder sich gar nicht etabliert, macht sich Antisemitismus breit, schreibt Richard Herzinger in seinem Blog - und blickt nach Belarus, in die Ukraine, aber auch auf bestimmte Diskurse und den Islamismus. Der angeblichen Israelfreundlichkeit rechtspopulistischer Parteien traut er keine fünf Zentimeter über den Weg: "In Wahrheit ist laut Umfragen die Zustimmung zu antisemitischen Stereotypen etwa bei den Wählern der AfD um ein Mehrfaches höher als bei denen der anderen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Und als der damalige AfD-Vorsitzende Alexander Gauland 2018 in einem Artikel eine 'globalisierte Klasse' angriff, die 'in den international agierenden Unternehmen, in Organisationen wie der UN, in den Medien, Startups, Universitäten, NGOs, Stiftungen, in den Parteien und ihren Apparaten' sitze und daher nur eine schwache 'Bindung an ihr jeweiliges Heimatland' besitze, hatten seine Anhänger das Signal auch ohne ausdrückliche Nennung der Juden verstanden."

Die Welle der Missbrauchsvorwürfe in Frankreich reißt nicht ab, zuletzt wurde bekannt, dass gegen Gerard Depardieu bereits 2018 und kürzlich gegen den Journalisten Patrick Poivre d'Arvor Anzeige erstattet wurde, schreibt Martina Meister in der Welt. Es mag schwerfallen "inmitten der Denunziationswelle einen kühlen Kopf zu bewahren", aber: "Mit der Überhöhung von sexuellem Missbrauch als Libertinage ist jetzt Schluss. Der Kulturbetrieb wird von immer mehr Opfern, die in die Öffentlichkeit gehen, zur Introspektion gezwungen. Alles, was Intellektuelle, Politiker, Künstler und Vertreter der Medien jahrzehntelang in den dunklen Alkoven der Republik trieben, wird ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt und nicht länger als exception culturelle, als kulturelle Ausnahme und durch Kulturgeschichte bedingten Mentalitätsunterschied abgetan. Es fühlt sich an wie eine Zeitenwende. Sie mag mit der Verhaftung des linken Hoffnungspolitikers Dominique Strauss-Kahn 2011 in New York begonnen haben, aber erst jetzt, fast ein Jahrzehnt später, sind ihre Auswirkungen überall zu spüren, selbst an Frankreichs Elitehochschulen."
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Politik

Das niederländische Parlament hat gestern als erste Volksvertretung der EU die chinesische Behandlung der muslimischen Minderheit der Uiguren als "Genozid" bezeichnet, berichtet Eline Schaart bei politico.eu: Diese nicht bindende Resolution "könnte andere europäische Parlamente ermutigen, ähnliche Erklärungen abzugeben. Die Bezeichnung als Völkermord kann in internationalen Gremien rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen und die Aufmerksamkeit auf eine Situation lenken." Die chinesen, so Schaart, sind nicht sehr  froh über diesen Schritt." Auch das kanadische Parlament hat in einer Resolution zur Sache diesen Begriff gebrachtet, berichtete vorgestern die BBC.
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Ideen

In vielen gesellschaftspolitischen Debatten wird lieber über Moral schwadroniert, anstatt mit Fakten zu argumentieren, ärgert sich Roman Bucheli in der NZZ: "Dagegen leidet das skrupulöse Argumentieren nicht nur an der fehlenden Sexiness, sondern vor allem unter dem Handicap der prinzipiellen Vorläufigkeit des Wissens, das fortwährend sowohl erweitert wie revidiert werden muss. Unsere Kenntnisse wachsen beständig, und trotzdem bilden sie immer nur den Stand des gerade gültigen Unwissens ab. Wir verstehen viel und immer mehr von den großen Zusammenhängen der Erderwärmung, aber doch immer zu wenig, um unumstößliche Tatsachenfeststellungen machen zu können mit der Durchschlagskraft des moralischen Aplombs. Die Evidenz der empirischen Wissenschaft eignet sich schlecht für Dogmen, eher kämpft sie gegen vorgefasste und verkrustete Auffassungen an."
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Stichwörter: Moral, Debatte, Erderwärmung

Geschichte

Es erscheinen derzeit viel zu viele Bücher und Texte in den Feuilletons, die auf die Pandemie medizingeschichtlich blicken, klagt der Medizinhistoriker Leander Diener in der NZZ. Wenn, dann sollen sie bitte zu einer "Versachlichung der Debatte" führen, meint er: "Angesichts der Covid-19-Pandemie wäre es beispielsweise angezeigt, in Texten zu Pocken- oder Influenza-Pandemien auch Formen von Wissenschafts- und Impfskepsis zu thematisieren. Welche Vorbehalte sind in dieser Frage wissenschaftlich begründet, welche allenfalls aus anderen Gründen nachvollziehbar? In Beiträgen zu historischen Epidemien könnten die wechselhaften Bekämpfungsstrategien thematisiert werden. So gab es bereits im 19. Jahrhundert vergleichbare Debatten über Sinn und Unsinn von Quarantäne, die gewisse Mediziner lieber mit niederschwelligen sozialhygienischen Massnahmen ersetzen wollten."

Die SPD will keine Drohnen bewaffnen zum Schutz von Soldaten. In der SZ kritisiert Joachim Käppner diesen Beschluss: Gerade die SPD habe über Jahrzehnte viel dafür getan, die "geistigen Verbindungslinine zur NS-Wehrmacht" zu kappen und die Bundeswehr "zur Armee der Staatsbürger umzugestalten. Genau dieser Wunsch geht in der SPD heute nach und nach verloren, dabei wäre die Aufgabe seit dem Wegfall der Wehrpflicht wichtiger denn je. Spätestens seit der Ära Schmidt gab es in der Bundeswehr viele Anhänger der SPD; was davon geblieben ist, verfolgt den neuen Kurs der Gleichgültigkeit mit Entsetzen. In solchen Wahlkreisen, aus denen viele Soldaten stammen, müssen sich SPD-Abgeordnete sehr unangenehmen Fragen stellen."
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