9punkt - Die Debattenrundschau

Die Sozialstruktur der Infektionen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.03.2021. Im Interview mit der SZ beklagt Soziologe Oliver Nachtwey, dass es in Deutschland keine Statistiken zu sozialen Aspekten der Coronakrise gibt. Und er hat eine Vermutung, warum das so ist. In der NZZ kritisiert die Kunstsoziologin Nathalie Heinich die "Vermischung zwischen Aktivismus und Forschung" in den Geisteswissenschaften, ebenso der Altphilologe Jonas Grethlein in der FAZ. In Grenoble solidarisieren sich Professoren mit zwei als "Islamophobe" attackierten Kollegen... äh, nicht so wirklich.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.03.2021 finden Sie hier

Wissenschaft

In Grenoble sind zwei Professoren in sozialen Medien und über Graffiti an Uni-Gebäuden als "Islamophobe" und Faschisten an den Pranger gestellt worden (unser Resümee). In Frankreich hat die Affäre nach dem Mord an Samuel Paty, der mit einer ähnlichen Kampagne anfing, Aufsehen erregt. Hadrien Brachet berichtet für die Zeitschrift Marianne über die Atmopshäre an der Uni Grenoble, wo sich Professoren in einem Papier äußerten: "Merklich hin- und hergerissen zwischen der Verurteilung der Graffiti und Sympathie für andere Kollegen beklagen sie in dem Kommuniqué 'gefährliche Handlungen' und rufen zur 'Befriedung' auf, ohne jedoch eine Unterstützung der Angegriffenen zu formulieren. Der Repräsentant des wichtigsten Studentenverbands prangert seinerseits eine 'instrumentalisierte Polemik' an und fordert sogar Sanktionen gegen die beiden der 'Islamophobie' bezichtigen Professoren an." In der Welt wird Klaus Kinzler, einer der beiden attackierten Professoren, interviewt, das Interview steht leider nicht online.

Der "Islamogauchismus", die Allianz zwischen linken Intellektuellen und reaktionären Islamisten, ist nicht das Hauptproblem an den französischen Universitäten, meint die Kunstsoziologin Nathalie Heinich im Interview mit der NZZ, sondern "die Vermischung zwischen Aktivismus und Forschung. ... Wenn wir so weitermachen, entwickelt sich die Uni zu dem Ort, an dem in Dauerschleife rein ideologische Arbeiten über Diskriminierung entstehen. Damit man mich richtig versteht: Gegen Diskriminierung zu kämpfen, ist absolut richtig und legitim - in der Arena der Politik. Es gibt Parteien und Assoziationen dafür. An der Uni dagegen sind wir angestellt, um Wissen zu schaffen und weiterzugeben, und nicht, um die Welt zu verändern."

Der klassische Philologe Jonas Grethlein erzählt auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ aus Cambridge und Oxford, wo Altphilologen Sensibilisierungskurse über ihren "strukturellen Rassismus" belegen sollen und kritisiert Bestrebungen, sein Fach nach den Kriterien der "Critical Race Theory" um den amerikanischen Althistoriker Dan-el Peralta neu zu orientieren: "Dan-el Peralta, Professor für römische Geschichte in Princeton, hat wiederholt festgestellt, als Schwarzer und Immigrant könne er Unterdrückung und andere Phänomene in der Antike anders und besser erschließen als seine weißen Kollegen. Hier wird die Identität des Wissenschaftlers zum Grund für neue Erkenntnisse, die Identitätslogik ist mit der Erkenntnislogik verbunden. ... Altertumswissenschaftler betrachten vergangene Kulturen wie die Antike im Horizont ihrer eigenen Zeit. Aber wenn dieser Horizont so übermächtig wird, dass sie die antiken Werte und Praktiken primär als Bestätigung oder Widerspruch zu ihren eigenen Vorstellungen sehen, dann verspielen sie die Möglichkeit, neue Perspektiven auf die Gegenwart zu gewinnen."
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Europa

Eine FAZ-Autorengruppe recherchiert, wie Russland Politik mit seinem Impfstoff "Sputnik V" macht, von dem die eigene Bevölkerung bisher kaum profitierte (die Impfskepsis sei hoch, die Totenzahlen werden manipuliert, die in die Hunderttausende gehende Übersterblichkeit wird nicht thematisiert). Dafür weilte eine Delegation der traditionell putinistischen AfD im Land, die dort nicht von ungefähr empfangen wird: "Die Partei tritt für eine Aufhebung der EU-Sanktionen gegen Russland ein, ihre Politiker haben russisch besetzte Teile der Ukraine besucht. Zugleich versteht man die Aufwertung der Partei als Retourkutsche für deutsche Unterstützung für Nawalny. Das erklärt, warum dem AfD-Ko-Vorsitzenden Tino Chrupalla und dem außenpolitischen Sprecher der Bundestagsfraktion, Armin-Paul Hampel, im vergangenen Dezember ein Empfang durch Außenminister Sergej Lawrow zuteil wurde."
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Kulturpolitik

Andreas Kilb berichtet in der FAZ über die anhaltende Denksportaufgabe einer Reform der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der ihr unterstellten Museen mit ihrer Generaldirektion. Es zirkuliert unter anderem ein Papier der Museumschefs, das die Generaldirektion abschaffen und die Häuser in vier "Clustern" organisieren will: "Die Museen sollen, mit anderen Worten, nach föderalem Muster reorganisiert werden. Anstelle einer Generaldirektion gäbe es künftig vier Großdirektoren. Die Sprecher der Cluster, wenn sie mehr sein wollten als Funktionäre, müssten eine Art Programmrat bilden. Die Staatlichen Museen würden zur öffentlich-rechtlichen Medienanstalt der Kunst."

Als "Abriss-Erlass" bezeichnet in der SZ Gerhard Matzig - aber auch der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten - einen geplanten "Gebäudeeffizienz-Erlass" des Innenministeriums für staatliche Gebäude. Statt Klimaschutz bewirkt der Erlass "eher eine Sonderförderung für die frohlockende Dämmplattenindustrie - als eine Abkehr vom Klimawandel. Wenn alte Häuser, die man simplizistisch auf wenige Kennwerte reduziert, abgerissen und ersetzt werden (im Entwurf für den Erlass ist die Rede vom 'Ersatzneubau'), ist das in der Gesamtbilanz, die ja auch den energieintensiven Bau und viele Recyclingfragen berücksichtigen müsste, oft schädlicher für die Umwelt als ein vorsichtigeres Erhalten der Bausubstanz und des Stadtraumgefüges." Heikel ist das für Matzig auch deshalb, weil der Staat "der größte Immobilieneigentümer Deutschlands" ist.
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Gesellschaft

Im Interview mit der SZ kritisiert der Soziologen Oliver Nachtwey, dass es in Deutschland keine Statistiken gibt zur Frage, wieviel härter Corona arme Menschen trifft als wohlhabende. Er wittert dahinter Absicht: "Es gibt in Deutschland ausgezeichnete soziologische Forschungen zu den Folgen der Pandemie. Aber auf staatlicher Seite weiß und kommuniziert man viel zu wenig über die Sozialstruktur der Infektionen. Schließlich müsste man dann ja zugeben, dass Deutschland eine Klassengesellschaft ist und Menschen aus der Unterklasse ein höheres Infektionsrisiko haben. Es wird permanent versucht, jegliches Klassenbewusstsein aus dem öffentlichen Bewusstsein herauszuhalten - die Statistik ist ein Mittel dazu."

Die Journalistin Brigitte Theißl, Autorin des Buchs "Klassenreise - Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt" erzählt im Gespräch mit Timo Stukenberg von der taz, was sie unter dem Begriff "Klassismus" versteht, der den sozialen Gegensatz ins Kaleidoskop der Opferidentitäten bei der modischen Linken hineinzieht. Für die Berichterstattung über die "von Klassismus Betroffenen" gibt sie folgende Tipps: "Einerseits ist es wichtig, stets die eigene Sprache zu reflektieren und solche Begriffe wie 'sozial Schwache' oder 'Unterschicht' endgültig zu streichen. Es gibt dazu allerlei Leitfäden. Das Gleiche gilt für die Bildsprache. Bilder, die Menschen auf einem kaputten, verlassenen Spielplatz von hinten mit zerrissener Kleidung zeigen, stigmatisieren Menschen ebenso. Außerdem ist es ganz wichtig, dass Betroffene selbst zu Wort kommen und sie nicht nur zu ihrer Biografie, sondern auch als Expert*innen für ihre eigene Lebenssituation befragt werden."

Zehn Jahre nach der Katastrophe von Fukushima möchte die japanische Regierung das Land gern als "Cool Japan" verkaufen, wozu auch die Olympischen Spiele von Tokio beitragen sollen. Aber nicht alle Japaner machen da mit, erklärt die Japanologin Barbara Holthus im Interview mit der FR: "Es ist eine bunte Gruppe. Viele sind schon seit den Studentenprotesten in den 1960er Jahren aktiv, ihre Netzwerke waren lange aber verdeckt. Der Protest gegen die Spiele hat sie sichtbar gemacht. Diese Menschen haben viele Kritikpunkte zu Olympia: Korruption oder die Vertreibung von Obdachlosen, wo Spielstätten gebaut wurden. Die Kritik am Umgang mit der Dreifachkatastrophe von Fukushima ist auch ein wichtiger Teil der Proteste gegen Olympia. Und es ist wirklich eine kleine Gruppe: Am vergangenen Samstag waren es nur rund 70 Menschen - und das, obwohl angeblich 80 Prozent der Bevölkerung nicht mehr hinter den Olympischen Spielen stehen."
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Politik

In trockener Sprache präsentiert das Newlines Institute, ein Washingtoner Thinktank, einen Bericht über die chinesische Uiguren-Politik. Er kommt nach eingehender Untersuchung zum Schluss, dass diese Politik tatsächlich - auch und gerade im völkerrechtlichen Sinn - als Genozid bezeichnet werden kann: "Zu diesem Zweck wurden Dutzende von Experten für internationales Recht, Völkermordforschung, chinesische ethnische Politik und die Region eingeladen, ehrenamtlich alle verfügbaren Beweise zu untersuchen, die aus öffentlichen Mitteilungen des chinesischen Staates, durchgesickerten Mitteilungen des chinesischen Staates, Augenzeugenberichten und mit Open-Source-Forschungsmethoden wie der Analyse von öffentlichen Satellitenbildern, der Analyse von im chinesischen Internet zirkulierenden Informationen und jeder anderen verfügbaren Quelle gesammelt und überprüft werden konnten." Der Bericht, über den auch CNN berichtet, lässt sich hier downloaden.
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