9punkt - Die Debattenrundschau

Wir respektieren euer Elend

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.03.2021. In der SZ erzählt der ungarische Journalist Andras Arato, wie die Regierung die Presse mit Staatsanzeigen und andere Werbetreibende mit Staatsaufträgen bis zur kompletten Gleichschaltung gefügig machte. Apropos Gleichschaltung: In Hongkong ist sie laut FAZ jetzt verwirklicht. "Normalität ist die Cancel Culture des alten weißen Mannes", belehrt der Tagesspiegel  Wolfgang Thierse. Die taz versucht, Baden-Württemberg zu verstehen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.03.2021 finden Sie hier

Politik

Die deutsche Diplomatie muss sich in Äthiopien einbringen, sonst droht das Land zu zerbrechen, schreiben Moritz Müller und der Grünen-Abgeordnete Omid Nouripour in der FR: "Innerethnische Konflikte kleineren Ausmaßes sind in Äthiopien an der Tagesordnung. Die gezielte Bekämpfung der lange Zeit einflussreichen politischen Eliten aus Tigray hat jedoch ein neues Level erreicht. Die Liste der Menschenrechtsverstöße wird täglich länger und reicht von Verschleppung, Vergewaltigungen, willkürlichen Tötungen bis hin zu massenhaften Deportationen und Massakern. Der Gedanke an eine genozidäre Entwicklung liegt nicht fern: Unzählige Augenzeugenberichte und Bildquellen dokumentieren 'ethnic profiling', also die gezielte Repression von Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit."

Das Militär in Myanmar agiert wie eine Mafia oder ein Kartell, schreibt David Pfeiffer in der SZ: "Das Militär in Myanmar ist in vielfältige Geschäfte involviert; die Führungskader verschachern die Rohstoffe des wirtschaftlich gebeutelten Landes unter anderem an China, ohne dass etwas von dem Geld beim Volk ankommen würde. Die Generäle finanzieren damit nicht nur den Apparat, dem sie vorstehen, sie verkaufen die Zukunft des Landes. Profiteure sind sie selbst und ihre Kinder. Die gehen in den USA und anderen Ländern auf Privatschulen, während das Bildungssystem in Myanmar dramatisch unterfinanziert ist. Auch deswegen gehen besonders viele junge Menschen seit Wochen auf die Straße."

Der Nationale Volkskongress hat in Peking jüngst die Gleichschaltung Hongkongs offiziell gemacht:  "2.895 Delegierte stimmten per Knopfdruck dafür, dass in der Stadt künftig nur noch 'Patrioten' politische Ämter besetzen dürfen", berichtet Friederike Böge in der FAZ. Und schildert, wie sich die Ereignisse sich manchmal selbst überholen: "Die Peking-freundlichen Parteien in Hongkong starteten eine Unterschriftenaktion, in der die Bürger ihre Unterstützung für die 'Wahlreform' bekunden sollen. Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua war da längst weiter. Sie verkündete, eine Umfrage habe ergeben, dass eine Mehrheit der Hongkonger die Reform unterstütze. Das fand selbst Hongkongs staatsnaher Rundfunksender RTHK absurd."
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Kulturmarkt

Diese Meldung aus dem Buchreport sollte man in ihrer bestürzenden Trockenheit auch erstmal zur Kenntnis nehmen: "Der Carlsen Verlag hat die Auslieferung von 'Ein Corona-Regenbogen für Anna und Moritz' gestoppt. Das chinesische Generalkonsulat hatte Kritik am Kinderbuch geübt und den Rückzug gefordert, weil es darin heißt, das 'Virus komme aus China und habe sich von dort verbreitet'. Carlsen reagierte darauf und zog das Buch zurück. Noch vorhandene Exemplare sollen vernichtet werden." Der Verlag hat aber eine Neuauflage ohne diesen Satz angekündigt, schreibt unter anderem Christian Geyer, der die Geschichte bereits vorgestern in der FAZ kommentierte.
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Medien

In der SZ resümiert Andras Arato, Leiter von Klubradio, dem letzten landesweiten, unabhängigen Radiosender Ungarns, dem nun ebenfalls die Frequenz seit einem Monat genommen wurde, den "Krieg", den Regierungschef Viktor Orban gegen die freie Presse führt: "Unter 'Nationaler Zusammenarbeit' verstand Fidesz, einen Wirtschaftskrieg gegen die freie Presse zu starten. Augenblicklich wurden der Staat, seine Organisationen und Unternehmen zu dominierenden Akteuren auf dem Werbemarkt, während eine beträchtliche Anzahl privater Werbetreibender lernte - in der Hoffnung auf öffentliche Aufträge oder aus existenzieller Angst -, sich 'brav zu verhalten'. Die unabhängigen Medien verloren ihre Einnahmen und wurden ihrer Lebensgrundlage beraubt. Manch bedeutende Blätter wurden ruiniert, viele andere zu leichter Beute von regierungsnahen Investoren - was zu einer erstaunlichen Medienkonzentration führte."

Die jüngste Studie der Otto-Brenner-Stiftung kommt zu dem Ergebnis: Ostdeutsche lesen kaum überregionale Zeitungen, meldet Cerstin Gammelin in der SZ, die der Studie auch die Erklärung dafür entnimmt: "Die Studie zeichnet in groben Zügen einige massenmediale Entwicklungen seit den Wendejahren nach, in denen alles marginalisiert wurde, was aus dem Osten kam; Intelligenz, Erfahrungen, Stimmen, Ideen und Utopien fanden keinen Widerhall. Stattdessen habe die Berichterstattung mit westdeutschem Blick stattgefunden - der Vertrauensverlust war schon angelegt, heißt es in der Studie, er habe 'den Lügenpresse- und Staatsfunk-Rufer*innen Raum gegeben'. Die 'diskursive Agilität', mit der überregionale Tageszeitungen in der alten Bundesrepublik Themen wie den Kalten Krieg, die Aufarbeitung der Nazi-Zeit oder das Verhältnis zur DDR bearbeitet und damit essentielle Integrationsleistungen erbracht hätten, habe es für den Osten nie gegeben."
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Ideen

Thomas Thiel unternimmt in der FAZ eine kleine Analyse des "Klassismus"-Begriffs, mit dem der soziale Gegensatz in die modischen kulturalistischen Diskurse der "Social Justice"-Theorien eingemeindet wird: "Die soziale Dimension wird hier erst über den Umweg der Diskriminierungserfahrung beschreibbar. Sozialpolitik schrumpft zur rhetorischen Geste: Wir respektieren euer Elend." An Strukturanalysen scheinen die Verfechter des Begriffs aber kaum interessiert, so Thiel: "Klasse ist nur eine weitere Facette in einem Opferdiskurs, der von der Gesellschaft, die er anklagt, wenig weiß, weil er sie nur durch die Kulturbrille wahrnimmt." Vor diesem Hintergrund ergibt es für Thiel auch Sinn, dass Olaf Scholz, der Kanzlerkandidat der SPD, der sich diesen Diskursen anpassen will, neuerdings eine "Gesellschaft des Respekts" und nicht mehr zum Beispiel der Solidarität fordert (unser Resümee).

Wolfgang Thierse hatte dem Zeit-Magazin nach der Debatte um seinen FAZ-Beitrag gesagt, er sei "mittlerweile zum Symbol geworden für viele normale Menschen". Genau da fängt das Problem allerdings schon an, schreibt Sidney Gennies im Tagesspiegel in einem Artikel, der mit "Normalität ist die Cancel Culture des alten weißen Mannes" überschrieben ist: "Wer 'Normalität' identitätspolitisch instrumentalisiert, wünscht also nicht nur weite Teile der Republik auf die Couch, sondern will auch jede Debatte über die bestehenden Verhältnisse abwürgen. Der Verweis auf Normalität ist in diesem Sinne nichts anderes als 'Cancel Culture', nur eben die alte, an die wir uns gewöhnt haben. Aus einem Nebeneinander kann so kein Miteinander werden. Thierse stellt die absolute Machtfrage: die nach dem Entweder und dem Oder. Die Frage nach der Vorherrschaft und selbstverständlichen Überlegenheit der Norm ist in der Weltgeschichte oft gestellt worden und wo immer die Antwort absolut ausfiel, endete es in einer Katastrophe. Der Rückzug darauf ist ein gesellschaftlicher Irrweg."

Vor einem Jahr in Frankreich und bereits vor einem halben Jahr in Deutschland erschienen, wird nicht zuletzt im Zuge der Gorman-Debatte (Unsere Resümees in Efeu) nun doch das Buch "Generation beleidigt" der ehemaligen Charlie-Hebdo-Journalistin Caroline Fourest besprochen. (Bereits vor zehn Jahren hatte der Perlentaucher das Vorwort aus Fourests Buch "La dernière utopie" veröffentlicht.) Im Aufmacher des SZ-Feuilletons empfiehlt Johanna Adorjan das neue Buch, in dem Fourest davor warnt, dass die in Amerika grassierende Cancel Culture linker Identitärer auch in Europa die "Meinungsführerschaft" übernimmt: "Eine im Namen der Genetik zensierte Kultur ist eine rassistische Kultur, wie Fourest schreibt, und: 'Die Identitären sind nicht die neuen Antirassisten, sondern vielmehr die neuen Rassisten.' Es ist nun das eine, den Protest gegen kulturelle Aneignung von Konservativen kritisiert zu sehen, die natürlich Angst um ihre Privilegien haben. Hier jedoch kommt die Kritik von einer linken, lesbischen, feministischen Aktivistin, die nicht hinnehmen möchte, dass der Diskurs über Rassismus von Wächterinnen und Wächtern dominiert wird, die im Namen von Opfern oder vermeintlichen Opfern jede Diskussion abwürgen, unterstützt von einem anonymen Mob im Internet, der auf Reizworte reagiert wie ein Pawlowscher Hund und vor dessen Wut und Hass Institutionen heute kuschen."

Außerdem: In der NZZ warnt auch Eric Gujer vor einem "brandgefährlichen Kulturkampf" in Deutschland: "Verschärft wird dieser Kulturkampf durch die ungleichen Chancen, wenn es darum geht, die Hegemonie über die öffentliche Meinung zu gewinnen. Die akademischen Eliten sind gut vernetzt. Sie verfügen über Rückhalt in den Redaktionen der etablierten Medien, und sie sind eloquent und internetaffin." In der FR bespricht Micha Brumlik heute Michael Rothbergs viel diskutiertes Buch "Multidirektionale Erinnerung", das einen " konstruktiven Ausweg aus der oft behaupteten Unmöglichkeit, die Singularität des Holocaust zu anderen Menschheitsverbrechen in Verhältnis zu setzen", weise.
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Europa

Die taz bringt ein ganzes Dossier zu Baden-Württemberg, wo am Sonntag wieder grün gewählt wird, wo das Grüne sich so organische mit dem Queren (nicht Queeren) mischt,  wo's den Leuten eigentlich prima geht, und wo tatsächlich immer noch gegen Stuttgart 21 demonstriert wird, wie Benno Stieber erzählt: "Erst kürzlich feierten die Montagsdemos ihre 537. Wiederkehr. Der unbeirrbare Glaube an das, was man einmal für richtig erkannt hat, hat seine Wurzeln sicher auch im Pietismus, eine Spielart des Protestantischen, die bis heute Teile des Landes tief prägt. Obwohl die sogenannten Lebendigen Gemeinden eine Minderheit in der Württembergischen Landeskirche darstellen, konnten sie bis heute verhindern, dass schwule und lesbische Paare getraut werden können, während das in der badischen Landeskirche schon ein paar Kilometer weiter westlich seit 2016 möglich ist."

Mittelfristig wird es mit der Union und den Grünen (als "Wohlfühl-SPD des 21. Jahrhunderts") wohl zwei mittlere Parteien geben, die SPD könnte sich als größte der kleineren Parteien etablieren, orakelt Kurt Kister im SZ-Feuilleton. Denn die mittlere Zukunft werde bis mindestens 2040 von WählerInnen jenseits der 50 bestimmt: "Diese Bevölkerungsgruppe ist schon jetzt die größte, und sie wird weiter wachsen. Ihre politischen Ansichten lassen sich nicht mehr, wie in der alten Bundesrepublik, parteigeografisch als konservativ (Union) oder eher links (SPD, Grüne) beschreiben. Die 61-jährige Durchschnittswählerin der Zukunft, die in der Stadt lebt, neigt mal den Grünen zu, mal vielleicht einer Wählerinitiative und nimmt vieles wahr, was nicht 'links' und nicht 'rechts' ist. Ihr 67-jähriger Alters- und Polit-Kohortenkompagnon, der auf dem Land lebt, wird sich weniger für 'städtische' oder 'junge' Themen (Radwege, Achtsamkeit, Sozialwohnungen etc.) interessieren als vielmehr für Straßenbau, ländliche Besiedelungsbegrenzung oder die Besteuerung von Ruhestandseinkommen."
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