9punkt - Die Debattenrundschau

Kultur der Menschenopfer

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.03.2021. Der Neoliberalismus ist schuld am europäischen Impfdesaster, meint Herfried Münkler in der NZZ. Charlie Hebdo vergrätzt in einem Aufwasch Royalisten, Antirassisten, die Queen und Meghan Markle. Die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin erzählt in der FAZ die finstere Geschichte der Benin-Bronzen. In der taz kritisiert der Künstler Leon Kahane den angeblichen "Antifaschismus" zweier Videokünstler, die Deutsche künftig als "Deutsche mit Nazihintergrund" tituliert sehen möchten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.03.2021 finden Sie hier

Medien

"Warum Meghan Buckingham verlassen hat - 'Weil ich nicht mehr atmen kann'".

Das neue Cover von Charlie Hebdo hat einige antirassistische Aktivisten auf den Plan gerufen, die sich auf Twitter als "not amused" bezeichneten, meldete gestern die FAZ, ohne allzu viele Beispiele. Es zeigt die Queen, die auf dem Hals von Meghan Markle kniet, die stöhnt: "Ich kann nicht mehr atmen". Markle hatte in einem Fernsehinterview mit Oprah Winfrey gesagt, dass sie an Selbstmord gedacht habe, berichtete etwa der Hollywood Reporter: "Ich verstand, dass dies alles geschah, weil ich atme."

Der Guardian hat schon vor drei Tagen über das Cover berichtet und schaffte es, seinen Artikel nicht mal mit einer Andeutung des Covers zu illustrieren - Charlie-Zeichnungen scheinen in der angelsächsischen Presse jetzt grundsätzlich tabu. Streng und ebenfalls ohne Illustration urteilt Michael Hanfeld in der FAZ: "Man muss nicht auf Twitter unterwegs und auch kein engagierter Antirassismus-Aktivist sein, um die Anspielung auf diesen grausamen Tod geschmacklos zu finden. Ihr wohnt kein Witz inne." Immerhin, Hanfeld plädiert dafür, die Karikatur auszuhalten.

Das Oprah-Winfrey-Interview von Prince Harry und Meghan Markle in der letzten Woche hat nebenbei auch zu Aufruhr innerhalb der britischen Presseverbände gegführt, denn die beiden hatten die Tabloids mit dem Argument angegriffen, sie seien die Hauptverbreiter von Rassismus in Großbritannien, aber niemand wage ihre Macht in Frage zu stellen. Priyamvada Gopal, Professorin für postkoloniale Studien, kann das bei politico.eu nur bestätigen. "An der University of Cambridge, wo ich unterrichte, werden Versuche, unseren Lehrplan oder unsere Rekrutierung zu diversifizieren, von einem ängstlichen Blick in Richtung der roten Titel begleitet - nicht aus der Sorge, dass die Institution zur Rechenschaft gezogen wird, sondern dass sie zum Gegenstand fabrizierter Kulturkriege wird. Im Jahr 2017 wurden zum Beispiel schwarze Studentinnen in Cambridge fälschlicherweise beschuldigt, weiße Autoren aus dem Lehrplan entfernen zu wollen."

Etwas ungemütlich liest sich diese Meldung des Guardian: "Der Daily Telegraph plant, die Bezahlung von Journalisten an die Klickraten ihrer Artikel zu koppeln."

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Ideen

In der Moderne verstehen wir oft den Unterschied zwischen Gefahr und Risiko nicht mehr, meint in der NZZ der Soziologe Dirk Baecker. Risiko ist gut, denn: "Man schafft sich die Welt, in der es sich lohnt, Risiken zu übernehmen. Man unterscheidet sichere und unsichere Seewege, profitable und weniger profitable Ziele. ... Gefahren hingegen treten unabhängig von Entscheidungen auf. Sie bedrohen ein Geschäft, ein Leben, eine Liebe oder eine Erkenntnis, ohne dass man mit ihnen hätte rechnen können. ... Für die Moderne ist typisch, dass in dem Moment, in dem Organisationen Entscheidungen treffen (und was sollen sie sonst tun?), kritische Beobachter auf Risiken verweisen. Auch Individuen, wie gesagt, leben nicht nur, sondern entscheiden sich auch. Spontaneität wird zur Mangelware, Reflexion zur Pflicht. Man kann daraus auf den Verlust von Freiheit schließen."

Die CDU hat ein Problem: Unter Angela Merkel hat sie eine programmatische Neuorientierung versäumt. Und das schlägt, jetzt, am Ende der Merkel-Ära, auf sie zurück, meint der Historiker Andreas Rödder nach den Landtagswahlen im Interview mit der Welt. "Nehmen Sie doch allein die Auseinandersetzung um Begriffe wie 'bürgerlich' und 'konservativ'. Vor 50 Jahren war 'bürgerlich' der am meisten abgehalfterte, ewig-gestrige Begriff, den man sich vorstellen konnte. Heute kämpft Robert Habeck verbissen darum, dass die Grünen bürgerlich sind, weil sie bürgerlich sein wollen. Winfried Kretschmann hat ein Buch geschrieben, das im Untertitel 'Für eine neue Idee des Konservativen' wirbt. Während viele CDU-Leute den Begriff 'konservativ' in den letzten Jahren nicht mal mehr mit spitzen Fingern anfassen wollten. Das heißt die CDU hat im Stillen die Auseinandersetzung um die Begriffe aufgegeben,und den Begriffen folgen dann auch die Inhalte."
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Europa

Im Tagesspiegel wird Malte Lehming leicht bitter, wenn er sieht, wie amerikanische, israelische oder britische Staatsbürger wieder anfangen das Leben zu genießen. "Angela Merkel drückte den Zustand Deutschlands in dieser 'Jahrhundertkatastrophe', wie sie die Coronakrise nennt, am vergangenen Mittwoch so aus: 'Das sind jetzt noch drei, vier schwere Monate: März, April, Mai, Juni (…) Wir versuchen jetzt, die Brücken zu bauen, aber wir wissen auch nicht, wohin wir die genau bauen. Also, das Ufer sehen wir ja auch nicht.' Wer aus den USA, Großbritannien oder Israel auf Deutschland blickt, wundert sich. Wieso wird ein Volk, das in seiner Gesamtheit flexibel, phantasievoll und innovativ ist, von einer Koalition regiert, die das Gegenteil davon ist?"

In der NZZ wundert den Politologen Herfried Münkler das Scheitern der europäischen Nationalstaaten und der EU in der Impffrage überhaupt nicht: "Das europäische Impfstoffdesaster ist nicht zuletzt eine Folge neoliberalen Denkens und Handelns, bei dem man auf globale Lieferketten vertraut und das strategische Ausnutzen von Knappheit seitens der Konkurrenten völlig übersehen hat. Die Folge: Unter den reichen Regionen des globalen Nordens gehören die Europäer in der Impfstatistik zu den Schlusslichtern - mit Ausnahme von Großbritannien. Das macht das EU-Versagen umso bitterer, denn gerade im Umgang mit einer globalen Herausforderung wie dieser Pandemie hätte man die Überlegenheit einer staatenübergreifenden Gemeinschaft gegenüber dem aus der Union ausgeschiedenen Vereinigten Königreich unter Beweis stellen können - ja müssen. Dass das Gegenteil der Fall war, ist eine Hypothek für den weiteren Zusammenhalt der EU."

Man kann in Polen zwar der Kirche gegenüber seinen Austritt erklären - aber niemand zählt diese Austritte, die sich in letzter Zeit, vor allem auch im Zeichen der Abtreibungsgesetze vervielfacht haben. Nun haben "die drei linken Politiker:innen Agata Diduszko-Zyglewska, Joanna Scheuring-Wielgus und Robert Biedron den 'Apostasiezähler' (licznikapostazji ) ins Leben gerufen, da die katholische Kirche Polens sich beharrlich weigert, Austrittszahlen zu veröffentlichen", berichtet Adrian Beck bei hpd.de. "In der Tat hat sie dies nur ein einziges Mal getan, nämlich 2012. Domradio.de zufolge traten im Jahr 2010 'offiziell' 459 Menschen aus. (...) Die Initiative kritisiert, dass die Kirche ihre Repräsentanz der polnischen Frauen durch die Zahl der Getauften legitimiere, nicht durch die Zahl derjenigen Frauen, die aktiv am kirchlichen Leben teilnehmen. Das seien 'licznikapostazji' zufolge weniger als 30 Prozent."
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Kulturpolitik

Das höchst umstrittene Aufbauprojekt der Garnisonkirche in Potsdam ist zu einem größeren Teil aus Steuermitteln finanziert als statthaft ist, hat das "Rechercheteam Lernort Garnisonkirche" herausgefunden, das unter anderem von dem Projektkritiker  Philipp Oswalt betrieben wird. Eigentlich sollte das Projekt aber vor allem aus Spenden finanziert werden, schreibt Marlene Militz in der taz: "So führte die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, Monika Grütters, 2014 aus, die öffentlichen Mittel sollten als Anreiz für potenzielle Spender wirken, 'der weitaus größere Teil der Kosten muss - so wie es auch die Initiatoren der Stiftung Garnisonkirche Potsdam stets bekunden - aus privaten Mitteln aufgebracht werden'. Doch der erhoffte Umfang des Spendenaufkommens blieb aus - wohl auch aufgrund der anhaltenden Kritik am Projekt. Bereits jetzt übersteigt die Förderquote aus staatlichen Mitteln deutlich die 50-Prozent-Marke."

Die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin erzählt in der FAZ die finstere Geschichte der Benin-Bronzen, die niemand nach ihrem Artikel einfach nur in ihrer Schönheit wahrnehmen kann: Denn sie waren Teil einer Kultur der Menschenopfer, einige der Bronzen stellen die abgeschlagenen Köpfe von Feinden dar. Die Briten eroberten diese Kunstwerke in einem kolonialistischen Krieg mit dem blutigen Edo-Regime, das seine Reichtümer auch dem Handel mit Kolonisatoren verdankte und das seine Feinde in der Region durchaus auch versklavte: "Wenn heute ein 'nigerianischer Professor' die Rückgabe dieser Bronzeobjekte mit dem Argument fordert, sie repräsentierten 'die Identität und Geschichte unseres Volkes' (FAZ vom 12. Mai 2019), dann kann damit nicht der Vielvölkerstaat Nigeria (250 Ethnien mit verschiedenen Sprach- und Religionszugehörigkeiten) gemeint sein. Vielmehr bezieht sich die Aussage des in Deutschland promovierten Historikers auf die Minderheit der Edo, der er selbst angehört. Und auch da in erster Linie auf die Aristokratie."
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Politik

Handelt es sich beim Trumpismus um einen Faschismus? Das ist ohnehin ein problematischer Begriff, schreibt Richard Herzinger in seinem Blog, und wenn, dann handelt es sich um eine gefährliche Mutation, denn beim Trumpismus handele es sich um "die Ausweitung des Geschäftsmodells der Mafia in die Sphäre der Politik - ein Prinzip, das von Wladimir Putin in Russland als erstem erfolgreich in ein politisches Herrschaftssystem gegossen wurde. Wir finden diese Symbiose aber auch beim Zusammenspiel von lokalen Wirtschaftstycoons mit der totalitären kommunistischen Führung in Peking bei der Vernichtung der Demokratie in Hongkong. Auch Faschismus und Nationalsozialismus waren kleptokratische Systeme, die heutigen autokratischen Machtgebilde dienen jedoch meist ausschließlich der Ausplünderung der eigenen und anderer Gesellschaften durch die Machthaber und ihre Günstlinge."
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Gesellschaft

Das Instagram-Video zweier Künstler über "Deutsche mit Nazihintergrund" (unsere Resümees)  sorgt weiter für Debatten. Der Künstler Leon Kahane kritisiert im taz-Gespräch mit Erica Zingher den angeblichen "Antifaschismus" der beiden Videokünstler, die sich selbst als Opfer von Rassismus inszenieren und den Unterschied zwischen Antisemitismus und Rassismus nicht thematisierten. Nebenbei kritisiert Kahane Michael Rothbergs Begriff der "multidirektionalen Erinnerung": "Juden wurden aus einer antikapitalistischen völkischen Ideologie zum Feindbild gemacht. Im Kolonialismus wurden Menschen hingegen aus kapitalistischem Interesse versklavt. Die multidirektionale Erinnerung verbirgt meiner Ansicht nach die Unterschiede in den Ideologien mehr, als sie deutlich zu machen, um die Ähnlichkeiten in den Erfahrungen zu unterstreichen. Gerade da darf es auch beim Erinnern keine Abkürzungen geben."

Was das Video in den Köpfen junger Menschen anrichten kann, zeigt ein ausufernder Zeit-online-Artikel Jule Hoffmanns, die durch das Video erstmals von den Naziverbrechen erfahren zu haben scheint: "Es ist kein Zufall, dass der Impuls von Menschen wie Hilal und Varatharajah ausgeht, deren Perspektive geprägt ist von Alltagsrassismus, von rassistischen Anschlägen und Fragen der Zugehörigkeit und des Deutschseins. Für sie ist klar zu erkennen, wie ungebrochen, wie 'stabil' die Kontinuität des Nationalsozialismus in Deutschland ist, wie sie im Video sagen."

Der Historiker Alexander Zinn, ehemaliger Geschäftsführer des Lesben-und Schwulenverbands, fragt in der FAZ nach dem Streit um Wolfgang Thierse, "wie die Lesben- und Schwulenverbände in linksidentitäres Fahrwasser" geraten konnten. Es hat nach seiner Analyse zum Teil mit schlichten persönlichen Interessen vieler Wortführer zu tun: "Pragmatische Politikansätze wurden zurückgedrängt, stattdessen übernahmen Akteure das Ruder, die in den akademischen Blasen der Universitäten in Fragen von Queer-Theory, Postkolonialismus und intersektionaler Diskriminierung geschult worden sind. Mangels anderer Berufsaussichten drängen sie bevorzugt in Nichtregierungsorganisationen und Medien, wo sie in den letzten Jahren an vielen Stellen tonangebend wurden."

Der Perlentaucher widmet sich in "9punkt" ja eher der Feuilleton-Debatte. Aber diese Meldung aus golem.de klingt doch arg nach historischen Einschnitt: "Audi stellt Verbrennermotor-Entwicklung ein."
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