9punkt - Die Debattenrundschau

Unverblümt artifizielle Stadt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.03.2021. Was nicht "per se" antisemitisch ist, ist es eben meistens doch, schreibt Alan Posener in der Welt an die Adresse der "Jerusalem Declaration", die die Israelboykottbewegung als nicht "per se" antisemitisch sieht. In der NZZ fürchtet der Historiker Andrii Portnov, dass sich die Ukraine  nicht aus eigener Kraft aus seiner Krise befreien kann. Die FAZ erklärt, warum in Mexiko die Zahl der Corona-Toten über Nacht um 120.000 auf über 320.000 stieg. hpd.de schildert die Lage der Frauen in den "Witch Camps" in Ghana.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.03.2021 finden Sie hier

Ideen

Der Historiker Gil Shohat möchte in der taz zwischen postkolonialen Positionen und ihren Kritikern vermitteln (sieht die doktrinäre Versteifung allerdings nur auf der Seite der Kritiker): "Gebietet die ambivalente historische Realität es nicht, dass wir uns auch im erinnerungspolitischen Kontext über Kontinuitäten und Brüche von Holocaust, Antisemitismus, Kolonialismus und Rassismus wenigstens Gedanken machen, uns die (mal besseren, mal schlechteren) Argumente für eine stärkere Verschränkung anhören, ohne gleich auf der Absolutheit der eigenen Position zu beharren?"

Hurra, nun haben wir eine dritte Option. Wir können antisemitisch, nicht antisemitisch, und - neu! - nicht "per se" antisemitisch sein. So will es die von einem Kreis von Kulturrelativisten lancierte "Jerusalemer Erklärung" zum Antisemitismus, die den Ehrgeiz hat, die Definition der International Holocaust Remembrance Association (IHRA) zu erstzen. Dabei geht es ihr besonders darum, etwa die BDS-Bewegung als  nicht "per se" antisemitisch gelten zu lassen. Aber was nicht "per se" antisemitisch ist, ist es eben meistens doch, schreibt Alan Posener in der Welt: "Die Unterzeichnenden finden Bezeichnungen Israels als 'Siedlerkolonialismus' oder 'Apartheid' nicht 'per se' antisemitisch. Dabei dienen solche Bezeichnungen der Delegitimierung und Dämonisierung des jüdischen Staates. Die Welt begrüßte die Beseitigung der Apartheid-Siedlerregimes in Südafrika und Rhodesien, heute Simbabwe. Indem Israel völlig unhistorisch mit diesen Überresten des europäischen Kolonialismus gleichgesetzt wird, soll seine gewaltsame Beseitigung moralisch gerechtfertigt werden. Was ist das, wenn nicht antisemitisch?"

Auch Weiße können Opfer von Rassismus sein, schreibt Erica Zingher in der taz und verweist auf die ungute deutsche Tradition von antislawischen Ressentiments. Sie zitiert dazu etwa den Historiker Hans-Christian Petersen: "Diese deutsche Tradition findet ihren Ausdruck in dem Begriff des 'deutschen Ostens'. Der wird damals als ein zur freien Verfügung stehender Raum imaginiert, ein 'im Grunde kulturell leerer Raum, den man komplett neu aufbauen und mit der eigenen Kultur und Höherwertigkeit füllen könnte', sagt Petersen. Seinen negativen Höhepunkt findet das später unter den Nationalsozialisten und dem im kollektiven Wissen kaum verankerten 'Generalplan Ost'.
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Geschichte

Michael Rothberg, Erfinder der "Multidirektionalen Erinnerung", irrt sich, wenn er den Holocaust in eine Linie mit Kolonialverbrechen in Afrika stellt, schreibt Stefa Laurin bei den Ruhrbaronen: "Auch wenn die Forderung richtig ist, sich mit der deutschen Kolonialgeschichte zu beschäftigen, so macht das nur Sinn, wenn man sie als Teil der deutschen Expansionsgeschichte sieht, die sich allerdings vor allem nach Osten orientierte. Die Eroberungspolitik der Nazis stand in diese Jahrhunderte alten Linie und war keine Besonderheit. Hitler stand in einer historischen Tradition, die postmoderne Historiker und auch Rothberg mit ihrer Fixierung auf der kolonialen Eroberungen in Afrika, Asien, im pazifischen Raum und der beiden Amerikas vor allem durch europäische Staaten seit der Neuzeit, übersehen."
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Gesellschaft

Transpersonen sind zu symbolischen Objekten einer Debatte geworden, die mit ihnen als Person oft gar nichts zu tun hat. Der Arzt Thomas Lempp beschreibt in der FAZ die Not und Verwirrung junger Menschen, denen er in seiner Praxis begegnet: "In mein Sprechzimmer kommen keine Opfer einer Multioptionsgesellschaft, bei denen das Nicht-festgelegt-Sein und der schnelle gesellschaftliche Wandel mit unbegrenzten Möglichkeiten an Vielfalt zu einer individuellen Überforderung führte. Ich treffe verwundbare Kinder und Jugendliche mit einer insgesamt weiterhin seltenen Entwicklungsvariante, die auf Unterstützung angewiesen sind und zunächst einmal ein Recht auf ein bedingungsloses Hilfeversprechen haben."

Lasst die Natur in Ruhe, ruft in der NZZ Vittorio Magnago Lampugnani den Stadtflüchtern zu, aber auch den Städtebegrünern. Denn wer aufs Land zieht, zerstört Natur. Und in der Stadt ist Natur nie natürlich: "Wir brauchen eine neue Stadt, die die Natur möglichst schont: also eine kompakte und unverblümt artifizielle Stadt. Wenn wir die Natur erhalten wollen, dürfen wir sie nicht ohne Not konsumieren und auch nicht in die Stadt hineinführen. Im Gegenteil: Die Stadt muss sich in sich selbst zurückziehen, dicht und hart und künstlich werden. Das mutet naturfeindlich an, ist aber in Wahrheit die einzig mögliche Art, der Natur aufrichtig und langfristig Respekt zu erweisen." Zwar hat Lampugnani nichts gegen Parkanlagen, Gärten, Straßenbäume oder Dachbegrünung, "dadurch entsteht aber noch lange kein urbaner Naturraum. Das Oxymoron bleibt: Die Stadt ist nicht natürlich, die Natur nicht urban. ... Und die große, die eigentliche ökologische Herausforderung besteht nicht darin, die Stadt verstärkt zu begrünen, sondern die Verstädterung einzudämmen."
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Politik

In Mexiko ist die Zahl der Corona-Toten über Nacht um 120.000 angewachsen, berichtet die FAZ heute: "Der ungewöhnlichen Nachricht gingen Zweifel von Fachleuten voraus. Die hatten schon seit Beginn der Pandemie gemutmaßt, dass die tatsächliche Zahl der Todesopfer in Mexiko aufgrund fehlender Tests wahrscheinlich viel höher sei als offiziell angegeben. Die Fachleute sollten recht behalten, wie das Gesundheitsministerium jetzt zugeben musste. Demnach starben in Wirklichkeit mindestens 322.000 Mexikaner im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion - und damit gut 60 Prozent mehr als die bisher bestätigten 201.000 Fälle." Mexiko ist damit das Land mit den zweitmeisten Corona-Toten - noch vor Brasilien.

In Ghana werden Frauen,die ihrer Familie lästig sind, gern als "Hexen" denunziert. Ihnen bleibt dann oft nur noch die Flucht in "Witch Camps", wo sie zumindest vor Gewalt geschützt sind, aber auch unter erbärmlichen Umständen leben müssen. Ihr Elend haben sie jetzt auf einer CD besungen, schreibt Hella Camargo bei hpd.de und schildert nochmal die Lage in Ghana: "Die Politik hat es bisher nicht geschafft, eine Lösung für die Hexen-Camps und die darin quasi gefangenen Menschen zu finden. Der letzte Vorstoß kam im Februar dieses Jahres von Sarah Adwoa Safo, Ministerin für Frauen, Kinder und Soziales und bezog sich nur mehr auf eine Umbenennung der Camps, um den Status zu verbessern. Weitere Schritte sollen nach Besuchen in Camps und Gesprächen mit Autoritäten vor Ort und als Hexen verfolgten Frauen sowie den Besitzer:innen der Camps erfolgen. Eine Ankündigung, die regelmäßig zu lesen ist. Von einer staatlichen Kampagne gegen den Hexenglauben findet sich nichts."
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Europa

Die Coronakrise hat eine veritable Verfassungskrise offenbart. Regiert wird Deutschland in der Krise von einem chaotischen, gar nicht vorgesehenen Gremium aus Kanzlerin und Ministerpräsidenten. Nach ihrer Entschuldigung in der letzten Woche, hat die Kanzlerin am Sonntagabend bei Anne Will die Bundesländer, die sich nicht an ihre strenge Linie halten, sehr scharf kritisiert und gedroht. Sie hat tatsächlich Mittel an der Hand, um die Länder stärker zu disziplinieren, schreibt Christian Rath in der taz: "Statt das Infektionsschutzgesetz zu ändern, könnte der Bundestag auch ein eigenes Gesetz beschließen, eine Art Corona-Gesetz. Hierfür wäre die Zustimmung des Bundesrats nicht erforderlich. Diese Variante könnte zumindest als ultimative Drohkulisse genutzt werden. Aber eigentlich kann die Bundesregierung kein Interesse daran haben, ihre Politik gegen eine Mehrheit der Länder durchzusetzen."

Warum ist der Anteil migrantischer Abgeordneter in den deutschen Parlamenten so gering, fragt Frederik Eikmanns in der taz mit Blick etwa auf die Landtage von Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, wo gerade gewählt wird:  "Eine Rolle dabei spielen vermutlich die Hürden im Bildungssystem, die schlechte Vereinbarkeit von Beruf und Mandat sowie fehlende Vorbilder - und teilweise auch Sprachprobleme. Das bestätigen migrantische Abgeordnete und Expert:innen, mit denen die taz zu diesem Thema gesprochen hat. Migrantische Gruppen mit ihrer schwächeren Sozialstruktur sind gesellschaftlich benachteiligt, die überdurchschnittlich migrantische Arbeiterschicht in den Parlamenten generell unterrepräsentiert. Außerdem hemme etwa das fehlende Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer:innen die Diversität in der Kommunalpolitik."

In der NZZ zeichnet der Historiker Andrii Portnov ein Bild der Ukraine in den letzten dreißig Jahre. Nach all den Kämpfen um Demokratie macht sich jetzt tiefe Frustration breit. Und die hat ihre Gründe: "Im anhaltenden Krieg, den die Ukraine, wie immer deutlicher wird, nicht aus eigener Kraft beenden kann, ohne dass die internationale Gemeinschaft interveniert und ohne dass Russland seine aggressive Politik aufgibt. In der tiefen Krise des Strafverfolgungssystems, deren symbolischer Indikator immer noch die Unfähigkeit oder der Unwille ist, die Morde auf dem Maidan vollständig aufzuklären. In der Schwäche der echten Gewaltenteilung und dem völligen Schwund des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Justiz (mit dem Verfassungsgericht an der Spitze). In der sich verschärfenden wirtschaftlichen und demografischen Krise - in der kontinuierlichen Auswanderung der arbeitsfähigen Bevölkerung (vor allem nach Polen, wo laut Experten derzeit über eine Million Ukrainer lebt und arbeitet) und in der ständig sinkenden Zahl von Menschen in der Ukraine. Vor einem Monat berichtete der staatliche Statistikdienst, dass die Bevölkerung des Landes im letzten Jahr um fast 300 000 Personen abgenommen habe."
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Internet

(Via Meedia) Der von Google gefürchtete Suchmaschinenoptimiererpapst Rand Fishkin hat in seinem Blog sparktoro.com eine neue Analyse veröffentlicht, die den Suchkonzern als gefräßige Netzmaschine entlarvt, die Informationen aufsaugt, ohne Klicks weiterzugeben: "Von Januar bis Dezember 2020 endeten 64,82 Prozent der Suchanfragen bei Google (Desktop und Mobilgeräte zusammen) in den Suchergebnissen, ohne dass ein Klick auf ein anderes Webangebot erfolgte. In dieser Zahl sind wahrscheinlich einige mobile und fast alle sprachgesteuerten Suchanfragen unterrepräsentiert, und daher ist es wahrscheinlich, dass mehr als zwei Drittel aller Google-Suchanfragen das sind, was ich als 'zero-click-Suchanfragen' bezeichne."
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