9punkt - Die Debattenrundschau

Sich in Straßburg bestechen lassen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.03.2021. Die Postkolonialisten Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer erklären den Holocaust in der Zeit wieder einmal für sowohl singulär als auch nicht. Der Rassismus ist nicht der Hauptwiderspruch in der Geschichte, schreibt Joachim Gauck, ebenfalls in der Zeit. Die "Jerusalem Declaration" ist keine Erklärung von Holocaustforschern, legt Matthias Küntzel im Perlentaucher dar. In England gibt es ein neues #MeToo in dessen Zentrum sexuelle Gewalt an Schulen steht, berichtet die FAZ. Der russische Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa warnt in der Washington Post, dass Wladimir Putin seinen größten Gegner Alexei Nawalny im Gefängnis langsam zu Tode foltern lassen könnte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.03.2021 finden Sie hier

Ideen

Man kann es nicht anders sagen: Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer aus der postkolonialen Ecke der modischen Linken werden nicht müde sich zu wiederholen (mehr hier und hier). Auch in einem gemeinsamen Text in der Zeit tun sie wieder so, als sei es eine speziell deutsche Marotte, an der Singularität des Holocaust festzuhalten, und als verböten ihre Diskursgegner Holocaustvergleiche. Wie immer klingen ihre Argumente weich wie Watte: "Wir verneinen keineswegs die singulären Elemente des Holocausts, allerdings glauben wir nicht, dass sie vergleichende Ansätze zur Geschichte und Erinnerung des Holocausts allgemein verhindern. Im Gegenteil: Vergleichende Perspektiven, die Ähnlichkeiten und Unterschiede herausarbeiten, bieten die besten Voraussetzungen dafür, zu verstehen, was am Holocaust singulär war. Und sie bieten somit die besten Chancen zur Prävention von Genoziden." Perlentaucher Thierry Chervel analysierte diese Diskursstrategie - "der Holocaust war sowohl singulär als auch nicht" - neulich als den Relativismus des "Sowohl als auch".

Im übrigen Teil ihres Artikels versuchen die beiden Autoren dann den Holocaust wie gehabt in einen größeren Kontext der Kolonialverbrechen einzubetten. Die eigentliche Antwort darauf gibt ebenfalls in der Zeit Joachim Gauck, der im Aufmacher des Feuilletons mahnt, den Rassismus - wahrlich ein großes Übel - nicht als Hauptwiderspruch der Geschichte zu beschwören. Denn es gibt eine Menge Ereignisse, so Gauck, die sich nicht in dieses Schema einordnen lassen. "Am nachhaltigsten wurde das Jahrhundert von den zwei Weltkriegen und den totalitären Herrschaftssystemen geprägt, für die die Namen von Hitler, Stalin und Mao Zedong stehen. Ich denke an viele, viele Millionen, die ihr Leben als Soldaten oder Zivilisten im Krieg verloren, an viele Millionen, die umgebracht wurden, weil sie der falschen 'Rasse' oder der falschen Ethnie oder Religion angehörten, die ins Gefängnis oder ins Lager kamen, wenn sie die falsche Meinung vertraten, die ermordet oder ausgehungert wurden, wenn sie der falschen Klasse angehörten, und die vertrieben wurden, weil sie für die Verbrechen ihrer Führer büßen sollten. Dutzende von Millionen haben in Gulags, Konzentrationslagern und in verbrecherischen Kriegen ihr Leben gelassen - in Europa und der Sowjetunion fast alles Weiße als Opfer weißer Gewaltherrscher."

Die Öffentlichkeit sollte nicht einfach die Behauptung nachbeten, die "Jerusalem Declaration on Antisemitism" (unsere Resümees)  sei von führenden Holocaustforschern verfasst worden, meint Matthias Küntzel im Perlentaucher: "Abgesehen von Michael Wildt hat kein einziger der renommierten Holocaustforscher die Erklärung unterschrieben - weder Yehuda Bauer, noch Peter Longerich, weder Saul Friedländer noch Christopher R. Browning, weder Ulrich Herbert noch Deborah Lipstadt. Von diversen Instituten, die den Antisemitismus weltweit untersuchen, sind nur zwei - das Berliner Zentrum und das Birbeck-Institut aus London - vertreten. Es ist weniger der spezifische Sachverstand, der die diversen Unterzeichner dieser Erklärung zusammenbringt, als vielmehr der politische Wille, den Israelhass vom Stigma des Antisemitismus zu befreien."

Außerdem: Klaus Walter untersucht in der taz die  "neue Rhetorik des Normalen", wie sie ihm - etwa bei Wolfgang Thierse - aus der Polemik gegen linke Identitätspolitik entgegenschlägt.
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Religion

Kurz vorm höchsten christlichen Feiertag erinnert der Berliner Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn im Gespräch mit  Claudius Prößer von der taz daran, dass Antisemitismus von Anfang an Teil des Christentums ist. Es sei "kein Zufall, dass die erste große Studie über Antisemitismus, Sigmund Freuds 'Der Mann Moses und die monotheistische Religion' genau diese Frage in den Mittelpunkt rückt. Freud weist darauf hin, dass in das Christentum eine Neiddimension eingeschrieben ist, dass es um ein Ressentiment geht, das sich gegen bestimmte Elemente des religiösen Judentums richtet - wie den abstrakten Gesetzescharakter und die Auferlegung, selbst nicht Gott sein zu können, von Gott klar unterschieden zu sein, was die Psychoanalyse als narzisstische Kränkung für christliche Glaubensvorstellungen interpretiert. Solche Strukturelemente sind quasi festgeschrieben. Aber es ist nicht festgeschrieben, wie man sich damit auseinandersetzt."
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Europa

Michael Martens führt in der FAZ ein sehr erhellendes Gespräch mit Gerald Knaus, dessen Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" den nun endlich ins Bewusstsein rückenden  Aserbaidschan-Skandal in jahrelanger Kleinarbeit thematisiert hatte. Die Korruption betraf wichtige europäische Abgeordnete wie Luca Volontè, der Millionen Euro von Aserbaidschan bekam oder den CSU-Abgeordneten Eduard Lintner und viele andere, die in einer "allgemeinen Atmosphäre der Käuflichkeit" agierten. Sie alle bescheinigtem dem Land, nach dem Erhalt luxuriöser Geschenke, saubere Wahlen abzuhalten, so Knaus: "In der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg, die viermal im Jahr tagt, sitzen Abgeordnete aus nationalen Parlamenten, im Falle Deutschlands also aus dem Bundestag. Wenn Abgeordnete sich in Straßburg bestechen lassen, wirken sie danach in nationalen Parlamenten in diesem Sinne weiter, als korrumpierte Politiker. Und wenn selbst wir, eine kleine Denkfabrik aus Kreuzberg, erfahren konnten, was in Straßburg passierte, dann wissen die Geheimdienste großer Länder das gewiss auch."

Am Samstag stehen wieder "Querdenker"-Demos auf der Agenda - ein ideales Biotop für Rechtsextreme, schreibt Konrad Litschko in der taz: "Als am 29. August 2020 in Berlin rund 38.000 'Querdenker' zur Großdemonstration zusammenkommen, zählt der Verfassungsschutz darunter immerhin 2.500 Rechtsextreme, unter ihnen auch Michael Brück, Sven Liebich und Udo Voigt. Für sie wird es eines der größten Szenetreffen seit Jahren in der Hauptstadt - mit ungewohnten Freiräumen, ohne Ausschluss seitens der 'Querdenker', ohne nennenswerten Gegenprotest von außen."

Der russische Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa warnt in der Washington Post, dass Wladimir Putin seinen größten Gegner Alexej Nawalny im Gefängnis langsam zu Tode foltern lassen könnte. Ihm werden Medikamente gegen starke Rückenschmerzen verweigert, und er wird durch Schlafentzug gequält. Nur eines kann das stoppen, so Kara-Mursa : "eine direkte persönliche Intervention der Führer der westlichen Demokratien bei dem Mann, der dahinter steckt. (...) Es ist eine historische Tatsache, dass persönliches Eintreten westlicher Führer dazu beigetragen hat, das Leben (und die Freiheit) vieler politischer Gefangener zu retten, sowohl zu Sowjetzeiten als auch in den letzten Jahren. Präsident Biden hat Schlagzeilen gemacht, indem er die Wahrheit aussprach, als er Putin als 'Mörder' bezeichnete. Es liegt nun in seiner Macht, zum Telefon zu greifen und sicherzustellen, dass die Liste der Opfer nicht um einen weiteren Namen wächst."
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Politik

Wie weit ist es eigentlich her mit den deutschen Lehren aus der Geschichte? Bei China werden sie jedenfalls nicht berücksichtigt, im Gegenteil: Deutschland ist es, das sich für das Investitionsabkommen mit China stark macht und dessen Firmen in Xinjiang produzieren, schreiben die Aktivisten Aaron Rhodes und Jianli Yang in der Zeit: "Denn nach weitverbreiteter - und sicher nicht ganz falscher - Auffassung ist es Deutschlands Automobilindustrie, die das Sagen hat, wenn es um die China-Politik der EU geht. Rund um den Globus sind viele Menschen verwirrt, warum eine deutsche Regierung, die so sehr bemüht ist, sich von den Schrecken der Nazi-Vergangenheit zu distanzieren, scheinbar so wenig an Konzentrationslagern in China auszusetzen hat und warum sie so sehr daran interessiert ist, einen im Grunde faschistischen Staat als Partner zu gewinnen." Die beiden hoffen darauf, dass das Europaparlament die Ratifizierung des Abkommens verweigert - auf Druck der europäischen Öffentlichkeit.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat einen Bericht vorgelegt, der den bisherigen Wissensstand über den Ursprung von Covid 19 resümiert. Zum Ärger Chinas bestätigt er ziemlich konkret, was man vermutete, schreibt Friederike Böge in der FAZ: "Demnach gilt es als 'wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich', dass das Sars-CoV-2-Virus, das bisher weltweit mehr als 2,8 Millionen Menschen getötet hat, von einer Fledermaus über einen Zwischenwirt auf den Menschen übergesprungen ist. Als möglicher Verbreitungsweg gilt der Wildtierhandel. In Südchina und Südostasien gebe es Wildtierfarmen in der Nähe von relevanten Fledermaushabitaten."
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Gesellschaft

In der FAZ berichtet Gina Thomas von einer erschreckenden Anzahl an Missbrauchsfällen an englischen Schulen. Eine junge Frau, Soma Sara, hatte auf ihrer Webseite erzählt, wie sie in der Schule "von Jungen ausgelacht, gedemütigt und sexuell missbraucht" worden war. Daraufhin meldeten sich Tausende, denen es ähnlich ergangen war: "Da werden Initiationsriten von Mädchen geschildert, die strippen müssen, wenn sie in die Oberstufe einer Jungenschule eintreten, und es wird von Wettbewerben berichtet, bei denen Jungen sich gegenseitig herausfordern, mit dem angeblich hässlichsten Mädchen zu schlafen. Da ist von Punktesystemen für die Bewertung sexueller Leistung und von Prämien für die höchste Zahl sexueller Trophäen die Rede. Selbst eine Neunjährige wurde gezwungen, Nacktfotos zu schicken. Diese Bräuche sind derart verbreitet in Großbritannien, dass viele glaubten, sie seien 'normal'." Ein Aufreger wurde die Geschichte aber nur, weil sich unter den Schulen auch mehrere renommierte Privatschulen befanden.

Wenn man will, dass Mädchen Missbrauch melden, dann müssen die Gesetze geändert werden, die Vergewaltiger nur selten überführen und erst mal die Mädchen unter Verdacht stellt, fordert Joan Smith im Guardian: "Wenn ein Ermittlungsverfahren wegen Vergewaltigung eröffnet wird, konzentriert sich die Polizei auf die Beschwerdeführer und stellt unglaublich aufdringliche Nachforschungen über ihre Vorgeschichte an. Mädchen, die jetzt vielleicht darüber nachdenken, zur Polizei zu gehen, müssen wissen, dass sie wahrscheinlich aufgefordert werden, ihre Mobiltelefone auszuhändigen, auch wenn sie intime Fotos und Nachrichten enthalten, und Zugang zu Schul- und Krankenakten zu gewähren. Fälle brechen dadurch oft zusammen: Nehmen wir an, ein Mädchen beschuldigt den Jungen X der Vergewaltigung, und die Ermittler finden eine scherzhafte Textnachricht von vor drei Monaten, in der sie einer Freundin mitteilt, dass sie auf X steht. Das Verständnis von Zustimmung ist so gering, dass schon dies die Glaubwürdigkeit ihrer Beschwerde untergräbt, obwohl wir alle das Recht haben, unsere Meinung darüber zu ändern, ob wir mit jemandem Sex haben wollen, besonders wenn die andere Partei grob oder bedrohlich wird."
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Urheberrecht

Einrichtungen wir Bibliotheken leiden unter starken urheberrechtlichen Einschränkungen, wenn sie Inhalte online verfügbar machen  wollen. Julia Reda zitiert bei Netzpolitik eine Stellungahme des Bundesrats, die Erleichterungen fordert - die Umsetzung der europäischen Urheberrechtsreform in deutsches Recht nimmt aber sehr stark Rücksicht auf die Kulturindustrien: "Dabei hat die Coronakrise mehr als deutlich gemacht, dass keine Bildungs- oder Kultureinrichtung ihrem öffentlichen Auftrag nachkommen kann, wenn das Urheberrecht sie daran hindert, online vergleichbare Angebote zu schaffen wie offline in ihren Räumlichkeiten. Allen Zeichen der Zeit zum Trotz beschränkt sich der Gesetzesentwurf, den der Bundestag vergangenen Freitag in erster Lesung diskutiert hat, auf das europarechtlich vorgeschriebene absolute Minimum an Erleichterungen."
Archiv: Urheberrecht

Geschichte

In der Welt plädiert der Historiker Julien Reitzenstein dafür, die "Washington Principles" in deutsches Recht zu überführen und so endlich eine rechtlich verbindliche und vor allem erweiterte Lösung für den Umgang mit Raubkunst zu schaffen: "Die Bundesrepublik hat sich 1998 verpflichtet, faire und gerechte Lösungen für die Erben von Verfolgten zu erarbeiten. Doch trotz der Mahnung des Bundesrates vor fast zwanzig Jahren hat die Bundesregierung bislang auf eine Überführung in deutsches Recht verzichtet. Allerdings hält die Kommission nun selbst fest, dass sich herausgestellt hat, dass die Definitionen und Verfahrensregeln, mit denen sie arbeiten muss, aus heutiger Sicht zu eng erscheinen. Es muss zukünftig unterschieden werden, was als Raubgut zurückgegeben werden soll und was als sogenanntes Fluchtgut - also Verkäufen nach der Flucht ins sichere Ausland. Verkäufe, die nicht erfolgt wären, hätte das NS-Regime nicht den Verfolgten die Lebensgrundlagen und den größten Teil ihres Vermögens in Deutschland entzogen." Würde das nicht praktisch jeden Verkauf in der NS-Zeit betreffen?

Zu den ersten Denkmälern, die nach dem Krieg in Deutschland errichtet wurden, gehören jene, die an die Vertreibung erinnern. Diese Denkmäler sind in vieler Hinsicht problematisch, schreibt der Historiker Helmut Walser Smith in geschichtedergegenwart.ch: "Und dennoch, bei aller Betonung von Verlust und Trauer repräsentieren die Denkmäler auch frühe Versuche, eine der dramatischsten Verschiebungen in der sozialen Verteilung des Todes im 20. Jahrhundert öffentlich zu markieren: nämlich den drastischen Anstieg des Anteils der zivilen Toten. Im Ersten Weltkrieg, so eine Berechnung, entfielen etwa 20 Prozent aller Toten auf Zivilist:innen, im Zweiten Weltkrieg dagegen etwa 50 Prozent."
Archiv: Geschichte