9punkt - Die Debattenrundschau

Im Wassertank gelöscht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.04.2021. Tücke des Sozialstaats: Freischaffenden Künstlern, die in der Krise statt Sozialhilfe zu beantragen in anderen Jobs arbeiteten, droht der Rauswurf aus der Künstlersozialkasse, berichtet die SZ. In vielen afrikanischen Ländern wurde in diesem Jahr gewählt - die Demokratie verlor mit bis zu 95 Prozent, resümiert die taz. Das Leben Alexei Nawalnys hängt an einem Faden, fürchtet die Financial Times. Die FAS porträtiert Hedwig Richter als Pophistorikerin. gechichtedergegenwart.ch rät zur Maske des ärgsten Feinds.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.04.2021 finden Sie hier

Politik

In vielen afrikanischen Ländern wurde dieses Jahr gewählt, und so gut wie überall haben die alten Machtinhaber ihre Mehrheit vergrößert - bis hin zu Werten von 95 Prozent, konstatiert Dominic Johnson in einem deprimierten Rückblick für die taz. Und "in jedem Land zweifelten Oppositionelle am Wahlergebnis oder gar an der gesamten Wahl, und in jedem Land vergeblich. Nur in Ghana und Burkina Faso erkennen die Oppositionellen ihre Wahlniederlage umstandslos an, nur dort gab es vorab keinen massiven Streit. In Tschad, Kongo-Brazzaville und Benin wurde die Opposition bereits bei vergangenen Wahlen eindeutig ausgebootet und gab sich jetzt gar keine Mühe mehr. Guinea und die Elfenbeinküste aber haben selbstbewusste Oppositionelle und erlebten Vorboten eines Bürgerkriegs, mit bewaffneten Auseinandersetzungen und Dutzenden Toten."
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Europa

Die Russen verschärfen ihre Drohgebärden gegen die Ukraine und haben nun gegen internationales Recht das Asowsche Meer (Karte) gesperrt, so dass ukrainische Hafenstädte wie Mariupol blockiert sind, berichtet Bernhard Clasen in der taz: "'Die Piraten des Kreml haben das Asowsche Meer genau für den Zeitraum gesperrt, in dem dieses schiffbar ist', kommentiert der ukrainische Politologe Wiktor Taran auf dem Portal gordonua.com das russische Vorgehen. Diese Blockade sei ein Angriff auf die ukrainische Wirtschaft. 'Warum beginnt nun ein Aufmarsch zur See?', fragt sich der Politologe. 'Weil unsere Armee zur See weit schwächer ist als auf dem Land.' Die Blockade sei ein Versuch, strategisch wichtige Objekte der ukrainischen Wirtschaft, wie die Metallurgie und die Landwirtschaft, in die Knie zu zwingen, so Taran."

Bernhard Clasen berichtet heute in der taz auch über das schwierige Leben Homosexueller in der Ukraine, die oft wegen der Coronakrise ihren Fluchtpunkt Kiew verlassen müssen.

Leonid Wolkow, der Alexej Nawalnys Büro von Litauen aus leitet, warnt in einem Video, dass Nawalnys Leben nurmehr an einem Faden hänge. Nawalny befindet sich im Hungerstreik, um ärztliche Behandlung zu erzwingen. Max Seddon berichtet in der Financial Times: "Die heftige Verschlechterung von Nawalnys Gesundheitszustand geschieht zu einem Zeitpunkt, an dem der Kreml zunehmend entschlossen scheint, die Bedrohung durch den prominentesten Kritiker von Präsident Wladimir Putin zu beseitigen. Russische Staatsanwälte sagten am Freitag, sie bereiteten eine Einordnung von Nawalnys Anti-Korruptions-Stiftung und seinem Netzwerk von regionalen Büros als 'extremistische Organisation' vor, ein beispielloser Schritt, der seine Aktivitäten  mehr oder weniger lahmlegen und sein Team einer potenziellen Strafverfolgung aussetzen würde."

Die auf allen Fernsehkanälen und an allen Straßenecken in Britannien proklamierte Trauer um Prinz Philip versteht auch die schottische Schriftstellerin A. L. Kennedy nicht recht, bekennt sie in der SZ. "Von all unseren Fernsehsendern gelang es nur Channel 4, diesen Todesfall als Nachricht zu verkünden und dann einfach weiterzumachen, als lebten wir nicht in der Epoche Ramses des Großen und wären auch nicht dazu verpflichtet, unsere Gewänder zu zerreißen und Brandopfer zu bringen. Die BBC spielte derweil auf all ihren Radiosendern getragene Musik, strich im Fernsehen das gesamte Freitagabendprogramm und zeigte stattdessen auf beiden Hauptkanälen denselben (!) Dokumentarfilm." Es gab über 130.000 Corona-Tote in Britannien, "und jetzt soll das normale Leben wegen eines einzigen alten Mannes zum Erliegen kommen?", fragt Kennedy fassungslos.

In der SZ hofft Wolfgang Janisch, dass das Bundesverfassungsgericht den Hilfsfond der EU zu Bewältigung der Pandemie ungeschoren lässt. Schon mit seinem Urteil zum Anleihekaufprogramm der EZB im letzten Jahr (unsere Resümees) habe es sich "in den Clinch mit politischen Akteuren" begeben. "Und das auf einem Feld, auf dem es, da EU-Recht, eigentlich nicht viel verloren hat. Das ist pures Gift für die Reputation eines Gerichts, dessen Einfluss sich aus nichts so sehr speist wie aus seinem Ansehen. Für den Corona-Hilfsfonds könnte das ein gutes Zeichen sein. Einen Kritik-Tsunami wie 2020 kann sich das Gericht nicht jedes Jahr leisten."
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Gesellschaft

Der Weg zur Nachhaltigkeit produziert Kollateralschäden, wie diese Meldung aus golem.de zeigt: "Qualmendes Bürgermeister-Elektroauto im Wassertank gelöscht - Der BMW i3 des Bürgermeisters von Alpen hat nur noch Schrottwert. Weil der Akku qualmte, versenkte die Feuerwehr das Elektroauto in einem Tank."
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Stichwörter: Elektroautos, Nachhaltigkeit

Überwachung

Der Sinologe Wolfgang Behr fasst bei gechichtedergegenwart.ch nochmal die jüngsten Erfolge der Überwachungstechnologie und Gesichtserkennung in in der real existierenden Dystopie China zusammen. Auch die humoristischen Perspektiven bieten kaum Trost: "Zehn Jahre nach der ersten vollständigen Gesichtstransplantation brachte 2020 ein japanisches Unternehmen nun auch 'naturgetreue' Gesichtsmasken aus dem 3D-Drucker auf den Markt. Diese werden bislang von allen gängigen Erkennungssoftwares als authentisch identifiziert. Werden wir also bald mit Vollgesichtsmasken unserer ärgsten persönlichen Feinde durch die videoüberwachten Städte laufen? Wer wird sich in China den ersten Deepfake-Ausdruck eines hochrangigen Parteikaders bestellen?"
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Kulturpolitik

Freischaffenden Künstlern, die in der Krise statt Sozialhilfe zu beantragen in anderen Jobs arbeiteten, droht der Rauswurf aus der Künstlersozialkasse, wenn sie mehr als 450 Euro im Monat in nichtkreativen Berufen dazuverdient haben, berichtet Till Briegleb in der SZ. Darum fordere "der Deutsche Kulturrat eine dringende Gesetzesänderung. Kulturschaffende, die gerade 'das Gemeinwesen schonen' und sich 'am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen', wie Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des deutschen Kulturrats, die große Mehrheit der Kreativen nennt, dürften nicht ein weiteres Mal für ihr selbständiges Handeln bestraft werden. Die Frage der Zusatzverdienste müsse neu geregelt werden." Gefordert wird deshalb, dass zukünftig "für die Berechtigung zur KSK nur noch maßgeblich sein [soll], welches die Haupterwerbsquelle einer Person ist", informiert Briegleb, der die Forderung zwar für berechtigt hält, aber wenig Hoffnung auf schnelle Umsetzung hat.
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Stichwörter: Künstlersozialkasse

Geschichte

Miryam Schellbach porträtiert die Historikerin Hedwig Richter in der FAS als "Pophistorikerin" mit einem eigentümlichen Mix aus modisch linken und konservativen Ideen. Das Kaiserreich feiert sie in ihrem Bestseller "Demokratie - Eine deutsche Affäre" als Etappe zur Demokratie und hat den unproportionierten Zorn einiger der Fürsten des Fachs (etwa Andreas Wirschings vom Münchner Institut für Zeitgeschichte, unser Resümee) auf sich gezogen. Aber "unabhängig von Machtfragen gibt es valide Einwände gegen ihre Forschung, wie es sie bei allen Historikern gibt. Richters streitbarster Punkt ist, dass sie den Nazi-Terror als Wegetappe des demokratischen Prozesses sieht. Damit, so sagt es ihr Kritiker Wirsching, gehe aber 'jede Präzision der Unterscheidung zwischen Demokratie und Demokratiefeindschaft verloren' - und der Nationalsozialismus wird zu einer Art Zwischenstation auf dem langen Weg zur modernen Demokratie."

Patrick Bahners antwortet in der FAZ auf einen Artikel der Historiker Ulrich Schlie und Thomas Weber in der Welt (unser Resümee), die unter Bezug auf ein Urteil gegen die Hugenberg-Erben behaupten, der Hohenzollern-Prinz habe keinen "erheblichen Vorschub" für die Errichtung der Naziherrschaft geleistet, weil sie auch ohne ihn zustande gekommen wäre: "Nach diesem Standard wäre erheblicher Vorschub auch bei Kampfgefährten Hitlers wie Gregor Strasser oder selbst Rudolf Heß zu verneinen."
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Medien

Im Interview mit der NZZ erklärt der amerikanische Reporter Matt Taibbi, warum parteiischer Journalismus, der in den USA immer mehr zunehme, kein Problem sei, doktrinärer Journalismus dagegen schon: "Wenn ich die Storys eines bestimmten Mediums vorhersagen kann, weil ich seine politische Stoßrichtung kenne, dann betreibt es für mich Propaganda. Ein echter Journalist steht in der Verantwortung, unvoreingenommen für verschiedene Ansichten und Erklärungen offen zu bleiben. Leider gibt es hierzu in US-Medien eine immer stärkere Tendenz zu vorgefassten Meinungen, auf linker wie rechter Seite. Das Publikum weiß, was es erwartet: ausschließlich Nonstop-Kritik an Demokraten oder exklusiv an Trump und den Republikanern. Wenn vorhersehbare, einfache Standpunkte statt komplizierter Wahrheiten verbreitet werden, ist das kein Journalismus mehr, sondern einfach langweilig", aber leider auch suchterzeugend und überaus effizient, so Taibbi: "Die drei größten Kabelnetzwerke machten vergangenes Jahr Gewinne über 2,85 Milliarden Dollar, und das in einer Art und Weise, die nicht gesund ist."

Ebenfalls in der NZZ empfiehlt Peter Strasser, einfach mal wieder John Stuart Mill zu lesen, der einige "durchschlagende Gründe" dafür genannt habe, warum es besser sei, die Meinungen anderer zu berücksichtigen, statt sie zum Schweigen zu bringen.
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