9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Korrektiv wird schmerzlich vermisst

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.04.2021. Putins System tötet Nawalny, langsam und qualvoll, und die ganze Welt schaut zu, schreibt  Maria Pewtschich von der Nawalny-Stiftung Antikorruption im Guardian. Putin ist aber multitaskingfähig und konzentriert an der Grenze zur Ukraine so viele Truppen, dass es keine Drohgebärde mehr sein kann, notiert die FAZ. Ebenfalls in der FAZ schreibt der ukrainische Autor Serhij Zhadan über die Stimmung in seinem Land. In geschichtedergegenwart.ch erinnert Claus Leggewie an die ikonische Figur des Ali La Pointe, hinter dessen Bild sich die algerische Protestbewegung versammelt. Die SZ möchte Kultur in verlassenen Kaufhäusern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.04.2021 finden Sie hier

Europa

Wladimir Putin tötet Alexej Nawalny, warnt im Guardian Maria Pevchikh von der Nawalny-Stiftung Antikorruption, und die Welt guckt zu. "Es schaudert mich, es zu schreiben, aber Navalny stirbt. Schon wieder. Er ist im Hungerstreik. Aber er wurde von Dutzenden von Menschen in der Strafkolonie und im sogenannten Krankenhaus des Gefängnisses an diesen Punkt gebracht; von dem Richter, der sein politisch motiviertes Urteil abgesegnet hat; von den Staatsanwälten, die den Fall ausgeheckt haben; von denen, die ihm eine unabhängige medizinische Behandlung verweigern und nicht zuletzt von Wladimir Putin, der verärgert ist, dass jemand sein Recht, Russland für immer zu regieren, in Frage stellt. Die ganze Welt schaut zu, als säße sie auf jener schmalen Holzbank, auf der ich in dem heruntergekommenen Krankenhaus in Omsk zusah und wartete. Aber dieses Mal ist die Wartezeit länger als 40 Stunden, und der wahrscheinliche Ausgang ist weniger optimistisch. Putins System tötet Navalny, langsam und qualvoll."

Peter Carstens und Thomas Gutschker von der FAZ tragen alle Informationen zum Aufmarsch der russischen Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammen. Er ist inzwischen zu groß, um nur als Drohgebärde gemeint zu sein, fürchten sie. Hauptelement sei die Blockade des Asowschen Meers, da die Hafenstadt Mariupol für die Ukraine von entscheidender wirtschaftlicher Bedeutung ist: "Putin kann so Druck auf Kiew ausüben, damit Wolodymyr Selenskyj Reformen wieder rückgängig macht, mit denen er Moskaus Einfluss beschnitten hat. Außerdem dringt Russland darauf, dass Kiew den Kanal wieder freigibt, der die Krim mit Wasser aus dem Dnjepr versorgt. Den hatte die Ukraine 2017 unterbrochen, als Reaktion auf die Annexion der Krim. Nebenbei testet Putin, wie die Regierung Biden und Europa auf seine Provokationen reagieren: Wie weit kann er gehen, bevor er dafür einen (wirtschaftlichen) Preis zahlen muss?" Eines der Szenarien ist, dass Putin die gesamte Küste der Ukraine besetzt, um den Anschluss an Transnistrien herzustellen.

Der ukrainische Autor Serhij Zhadan schildert ebenfalls in der FAZ die irreale Stimmung im Land: "Den Krieg spürt man nicht, man spürt den Frühling." Er schreibt auch über den Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der den Ausgleich mit Russland wollte: "Zwei Jahre seiner Präsidentschaft haben gezeigt, dass der Wunsch der ukrainischen Seite nicht ausreicht oder besser, dass die Frage der Fortsetzung oder Beendigung dieses Krieges nicht von Kiew abhängt. Dies zu erkennen scheint, obwohl es eigentlich offensichtlich ist, äußerst schmerzhaft für Selenskyj zu sein..., aber auch für seine Wähler, denen zusehends klar wird, dass der Kreml mit uns nur zu seinen Bedingungen Frieden zu schließen bereit ist."

Welt-Autor Thomas Schmid erklärt nach dem Spektakel um die Kanzlerkandidatur und dem schließlichen Sieg von Armin Laschet in dieser Frage, was Konservatismus in der CDU bedeutet: "Die CDU braucht das Volk, misstraut ihm aber. Dieses Misstrauen macht an den Toren zur eigenen Partei nicht Halt. Die Union ist ideologieschwach und unterhält auch innerparteilich ein robustes Verhältnis zur Macht. Da kennt sie keinen Gott und kein Vaterland. Die Intrige, die Kabale, die Täuschung und der Meuchelmord gehören fest zum Instrumentarium der beiden Parteien, die sich trauen, das C im Firmenschild zu führen."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Es ist nicht so, dass es übermäßig viele rechtsextreme Polizisten gibt, sagt Aiko Kempen, Autor des Buchs "Auf dem rechten Weg? Rassisten und Neonazis in der deutschen Polizei", im Gespräch mit Constanze Kurz von Netzpolitik, es ist nur so, dass sie sich von der Mehrheit der Polizisten nicht behindert fühlen. Und die Politik scheut das Thema: es gehe "nicht mehr darum, einzelne schwarze Schafe zu etikettieren. Es geht tatsächlich darum, wie es sein kann, dass sich Menschen mit rechten Einstellungen in der Polizei wohlfühlen können. Liegt dann die Verantwortung gar nicht mehr bei der Polizei, sondern auf einer politischen Ebene? Und dann trifft diese Verantwortung natürlich die Innenminister, die dann möglicherweise selbst in der Kritik stehen und mehr Verantwortung übernehmen müssten."

Auf Zeit online erzählt Frida Thurm an zwei Beispielen - den einen Beamten nennt sie "Müller - wie schwierig es für Polizisten sein kann, sich von rassistischen Kollegen zu distanzieren oder diese zu kritisieren. Dabei entscheide sich an kritischen Beamten, "wie mächtig rechtsradikale Kollegen im Dienstalltag werden können. Die Müllers sind überall. Wenn ein Polizist einen rassistischen Witz im Chat postet, liest Dienstgruppenkollegin Müller mit. Wenn eine Beamtin einen Schwarzen bei einer Festnahme absichtlich härter behandelt als notwendig, sieht das Streifenkollege Müller. Solche Beamte sind also entscheidend für die Prävention, sagt etwa der Antirassismustrainer Jürgen Schlicher, der auch schon die hessische Polizei coachte. Nehmen sie das unwidersprochen hin, werden die Grenzen des Sag- und Machbaren immer weiter verschoben. Schreiten sie ein, werden sie zwar die Gesinnung des Kollegen nicht ändern. Aber ein Klima schaffen, in dem er seinem Rassismus nicht freien Lauf lassen kann."

In der Welt warnt Remko Leemhuis, Direktor des American Jewish Committee in Berlin, vor dem Islamischen Zentrum Hamburg (IZH), das ein direkter Ableger des iranischen Regimes sei und den iranischen Quds-Brigaden nahe stehe. Sein Leiter werde direkt vom politischen und religiösen Oberhaupt des Iran ernannt, so Leemhuis. Deshalb ist es für ihn ein "Skandal", dass die Hamburger Regierung an ihrem seit 2012 bestehenden Staatsvertrag mit den islamischen Gemeinden und damit auch mit dem IZH festhält "und auch die anderen muslimischen Organisationen sich offenbar nicht an der Agenda des IZH stören. Im Umgang mit dem IZH geht es auch umpolitische Glaubwürdigkeit. Niemand würde in Hamburg auf die Idee kommen, mit Rechtsextremisten zu kooperieren. Warum beim IZH ein anderer Maßstab gilt, darauf bleiben die Verantwortlichen in Hamburg bisher eine Antwort schuldig."
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Wissenschaft

Mit der KI hat die Physiognomik wieder Auftrieb erhalten, gruselt sich Michael Moorstedt in der SZ. Wissenschaftler wie der polnische Psychologe Michal Kosinski behaupteten, von äußerlichen Merkmalen auf Eigenschaften von Personen schließen zu können: "Die Methoden sind Wiedergänger mit unrühmlicher Geschichte. Und ein Korrektiv wird schmerzlich vermisst. Denn auch die Wissenschaftskommunikation macht mit beim Hype um die KI-Vermessung. Kosinskis gesichterbasierte Sexual- und Politikdeutungen finden ihren Weg in renommierte Fachzeitschriften wie in die von Nature herausgegebenen Scientific Reports. Potenziert wird die Renaissance der Phrenologie durch eine Tech-Presse, die so gut wie jeden Spin für bare Münze nimmt, solange er nur aus dem Silicon Valley stammt."
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Stichwörter: Physiognomik

Geschichte

Claus Leggewie kommt in geschichtedergegenwart.ch auf die ikonische Figur des Ali La Pointe zurück, dessen Bild heute von Demonstranten in Algier hochgehalten wird, wie einst die Ikone Che Guevaras in Studentenprotesten. Eigentlich ein erstaunlicher Bezug, so Leggewie, denn der FLN-Kämpfer war eigentlich ein Kleinkrimineller, der sich sich der Befreiungsbewegung angeschlossen hatte und möglicherweise durch Verrat früh starb. In ihm konzentriert sich für Leggewie aber auch das dunkle Erbe des Algerienkonflikts: "Die fragliche Legitimität revolutionärer Gewalt im 'gerechten' Kampf um Unabhängigkeit und Entkolonialisierung, die gezielt unbeteiligte Zivilisten traf, oder auch die Omnipräsenz des Verrats und immense Rivalität in den klanartig organisierten Fraktionen des FLN und der Nationalbewegung. Dazu kommt, auf der anderen Seite, die 'Counterterrorism'-Strategie der Kolonialmacht, die in Algerien mit Terror und Folter, summarischen Exekutionen und großflächiger Vertreibung an die Grenze zum Genozid ging und der Guerillabekämpfung bis in heutige Schauplätze im Mittleren Osten Modell stand." Für die heutige Protestbewegung verkörpere Ali Lapointe den Wunsch, dass "die unvollendete Revolution von 1954ff. weitergehen - und erst gesiegt haben wird, wenn die 'Mumien' des FLN endlich gestürzt sind".
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Kulturpolitik

Wenn Kaufhäuser und Einzelhandelsgeschäfte wegen der Pandemie vermehrt pleite gehen, sollte man das als Chance betrachten, meint Till Briegleb, der den Geschäften in der SZ keine Träne nachweint. Beispielhaft findet er die Hamburger Initiative "Bündnis Stadtherz", die gern das leerstehende Karstadt Sporthaus übernehmen würde für "Kunst-, Kultur-, Bildungs-, Gesundheits- und Sportangebote" oder das "Haus der Statistik" am Berliner Alexanderplatz. Dort, "wo eine große Koalition vielfältiger Gruppen einen Stadtblock mit Hochhäusern sehr unterschiedlich neu bespielen wird, geht es nicht um den Primat der Geldvermehrung. Gerade hat das Riesenprojekt fünf Millionen Euro Förderung von Bund und Stadt erhalten, damit in den lukrativen Erdgeschosszonen nicht-kommerzielle Projekte auf Dauer bestehen können: Recyclingwerkstatt, Theater und Pilzkultur statt Zara, Starbucks und Primark." Hm, fünf Millionen Euro sind keine Geldvermehrung?
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Kaufhäuser, Alexanderplatz