9punkt - Die Debattenrundschau

Wo kommt Energie her

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.04.2021. In der taz erkennt der Soziologe Hartmut Rosa nach etlichen Monaten im Home-Office: Der Beschleunigungsdruck wird uns nicht nur von außen aufoktroyiert. In Atlantic sieht Anne Applebaum das Leben von Alexei Nawalny zu einer Metapher werden. Slate fällt auf, dass prominente Newsletter-Autoren selten über Stadtratssitzungen berichten. Die SZ erklärt, wie die neue Litigation-PR der Medienanwälte funktioniert. Und ein bisschen lustlos werfen sich die Feuilletons in die Meinungsschlacht um die Video-Aktion #allesdichtmachen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.04.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

In einem sehr lesenswerten Interview mit Peter Unfried in der taz spricht der Soziologe Hartmut Rosa über den rasenden Stillstand, in den uns die Corona-Pandemie versetzt hat: "Die Zeit ist da, aber die Muße fehlt. Diese Rastlosigkeit, die wir spüren, die kommt eben nicht nur von außen, wie wir dachten. Sie kommt auch von innen, was man genau daran sieht, dass wir anstatt eine Wagner-Oper zu hören oder Thomas Mann zu lesen, doch durch die sozialen Medien surfen oder Netflix anwerfen. Wir tun also Dinge, die kurzgetaktete hohe Stimulationsdichte bei niedrigem Resonanzwert liefern... Das ist der Zwiespalt der Moderne: Der Beschleunigungsdruck kommt nicht einfach nur von außen und das Resonanzverlangen nicht nur von innen. Sofern der Kapitalismus am Hamsterrad schuld ist, ist er auch in uns. Theoretisch war mir das klar, aber ich habe es nie so deutlich erfahren wie jetzt. Aber es gibt einen anderen Aspekt, den ich früh thematisiert hatte: Es entsteht nicht nur Aggressivität, sondern eine Art von Lethargie und Erschöpfung. Ich habe gerade ein Seminar gemacht über die Frage: Wo kommt Energie her? Ich beziehe mich da stark auf den Soziologen Randall Collins. Wir haben immer geglaubt, Energie sei eine individuelle und psychische Eigenschaft."

In die große Aufregung um die Video-Reihe #allesdichtmachen steigt nur die Welt voll ein, sogar mit einem Pro und Contra. Andreas Rosenfelder jubelt: "Es ist eine Zäsur in der Kulturgeschichte der Pandemie: Ein Berufsstand, dem die Politik durch die dauerhafte Schließung von Theatern und Kinos offiziell Überflüssigkeit bescheinigt hat, meldet sich ungefragt zurück - und hält der mit sich selbst beschäftigten Krisengesellschaft den Spiegel vor." Jan Küveler findet die "süffisanten Selbstgefälligkeiten" dagegen degoutant, mit denen sich die SchauspielerInnen aus ihren Villen zu Wort meldet: "Am Anfang seines Auftritts zitiert Ulrich Tukur achselzuckend Rilke: 'Der Tod ist groß/ Wir sind die Seinen/ lachenden Munds.' Tukur sagt 'wir', meint aber die anderen."

Auch Alexander Gorkow und Willi Winkler kauen in der SZ etwas lustlos auf der verpatzten Aktion herum, für die offenbar der Berliner Regisseur Dietrich Brüggemann und der Münchner Werbefilmer Bernd K. Wunder verantwortlich zeichnen: "Die traurige, gehirnzersetzende Wahrheit hinter #allesdichtmachen ist ja viel profaner, als man denken sollte bei dem Lärm. Mitunter ist etwas nicht nationalsozialistisch, sondern nur dumm, im Sinne von richtig toll doof." Nach einigem Kopfkratzen findet Richy Müller sein eigenes Video jetzt auch ein bisschen geschmacklos, wie er auf NTV bekundet. Und im Freitag misstraut Michael Angele den allgemeinen Abwehrreflexen. Er zumindest spürte den "Kloß im Hals": "Ich habe aber immer mehr den Eindruck, dass viele Leute das nicht wahrhaben wollen. Sie versuchen lieber, den Kloß auszuspucken, als zu fragen, woher er kommt."

Ein weiterer Shitstorm hat zwei Gründer getroffen, die in der Vox-Show "Die Höhle des Löwen" pinke Einweghandschuhe zur Entsorgung von Tampons vermarkten wollten, wie uns die Schriftstellerin Nele Pollatschek in der SZ ausführt. Einfach abstoßend findet sie die Häme, die über die beiden ausgeschüttet wurde: "Was sich anfühlt wie Kampf für Feminismus und Nachhaltigkeit, ist stellvertretende Rache an zweien, die nicht die Mittel haben, sich zu wehren. In der gerechten Wut fällt der klassistische Beigeschmack kaum auf." Sie waren nicht schlimmer als die anderen, erkennt Pollatschek, die sich an einen Schulhof erinnert fühlt, nur schwächer.
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Politik

Alexej Nawalnys Leben ist auch in Russland zu einer Metapher geworden, schreibt Anne Applebaum in The Atlantic und kann sich auch Putins brutale Reaktion erklären: "Nichts wird geheimgehalten an der Vergiftung Nawalnys, dem falschen Prozess, der Internierung. Wie die vielfachen Versuche, ihn zu ermorden, spielen sich diese Dinge in aller Öffentlichkeit ab, für jeden sichtbar. Währenddessen versuchen russische Staatsanwälte Nawalnys Organisationen für ungesetzlich zu erklären, als wären investigativer Journalismus und die Verteidigung von Bürgerrechten 'extremistisch'. Putins unverhohlener Versuch, einen Opponenten zu zerstören, folgt einer Logik: Wenn Nawalny seinen Landsleuten zeigt, was Mut ist, dann will Putin ihnen zeigen, dass er nutzlos ist."

In der taz beschreibt der Historiker Alexander Friedman, wie Schwulenfeindlichkeit in Ost- und Mitteleuropa zu einer festen ideologischen Säule populistischer oder rechter Politik wird, bei allenfalls graduellen Unterschieden: "Während die Rechtsextremisten von obszönem Schwulenhass und homophoben Verschwörungstheorien besessen zu sein scheinen, agieren Rechtspopulisten und Nationalisten eher geschickt und pragmatisch." In der NZZ beobachtet Richard Herzinger eine Rückkehr leninistischer Herrschaftstechniken in Moskau und Peking.
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Medien

Die New York Times muss die Honorare für ihre prominenten Kolumnisten anheben, berichtet der Businessinsider, denn die Newsletter-Plattform Substack kann dank Unmengen von Risiko-Kapital immer mehr profilierte Autoren mit üppigen Verträgen zu sich locken. Auf Slate ahnt Will Oremus, was das für den Journalismus bedeutet: "Der Journalismus, der auf Substack Erfolg hat, ist keiner, der berichtet. Es sind Kommentare und Analysen, die auf die palavernden Klassen zielen. Führende Newsletter wie Heather Cox Richardsons 'Letter From an American', Roxane Gays 'The Audacity' oder Scott Alexanders 'Astral Codex' sind durchaus divers in ihren Themen und Perspektiven. Aber ihnen ist gemein, dass sie niemals eine Stadtratssitzung besucht haben oder den Schauplatz eines Verbrechens... Die Seite ist voll mit Autoren, die theoretisieren, kontextualisieren und diskutieren, aber sie recherchieren nicht. Klar: Zu Nachrichten gehört es, Informationen aufzudecken und an ein großes Publikum zu verbreiten, das ist mühsam und kostspielig."

Die Gerichtsreporterin Annette Ramelsberger erklärt in der SZ, wie Litigation-PR funktioniert, ein neuer Geschäftszweig für Medienanwälte, die sich darum kümmern, dass ihr Mandant in der Öffentlichkeit gut rüberkommt und Zeugen vorab diskreditiert werden: "Medienanwälte tun mittlerweile aber auch alles, damit nichts geschrieben, nichts gesendet wird: Sie schicken 'presserechtliche Informationsschreiben' an die Redaktionen, in denen sie drohen, mit allen rechtlichen Mitteln gegen die Presse vorzugehen, wenn ihre Mandantin oder ihr Mandant auch nur im Zusammenhang mit einer Straftat erwähnt werde. Das hat keinerlei rechtliche Relevanz. Aber wer das nicht kennt, knickt ein vor Schreck. So ist das auch gedacht."
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Stichwörter: Substack, Litigation-Pr