9punkt - Die Debattenrundschau

Bestimmt eine Frage der Ehre

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.04.2021. Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention ist ein Schlag für die türkischen Frauen, sagt Asli Erdogan in der FAS. In der FAZ erklärt Armin Pfahl-Traughber, warum er die Begriffe "Islamophobie" und "antimuslimischer Rassismus" zu ideologisch findet, als dass sie tatsächliche Diskriminierungen beschreiben könnten. Die SchauspielerInnen von #allesdichtmachen "spalten die ohnehin aufgeregte Gesellschaft", fürchtet die SZ. Der "Tatort"-Regisseur Dietrich Brüggemann, einer der Organisatoren der Aktion, hält aber laut ntv.de und Netzpolitik an seiner Position fest.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.04.2021 finden Sie hier

Europa

In der FAS spricht Asli Erdogan mit Karen Krüger über den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention und den Rückschlag, den dieser Schritt für türkische Frauen bedeutet: "Wichtig ist, dass sie in eine Familie eingebunden ist, nur so soll sie existieren. Die Istanbul-Konvention bedroht dieses Konzept, indem sie vom Staat verlangt, jede Frau vor Gewalt zu beschützen - ganz gleich ob sie verheiratet ist oder nicht. Ich denke, das geht Erdogan gewaltig auf die Nerven. Für ihn ist es bestimmt eine Frage der Ehre, den Austritt durchzuziehen."
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Urheberrecht

Die Umsetzung der EU-Urheberrechtsreform geht in die Zielgerade. Bis zum 7. Juni soll alles unter Dach und Fach sein. Die Lobbyverbände erhöhen den Druck. Nun wollen auch Sportverbände Bagatellregeln für Zitate von Schnipseln aus Sportereignissen kippen, berichtet Julia Reda bei heise.de. Solche Scnipsel wären dann etwa bei Youtube nicht mehr erlaubt.: "Als wären Bundesligaspiele besonders schützenswert. Dass es hierbei um knallharte wirtschaftliche Interessen geht und nicht um den Schutz von Kreativen, liegt auf der Hand. Sportveranstaltungen sind überhaupt nicht urheberrechtlich geschützt, da es sich bei ihnen um keine künstlerischen Werke handelt. Lediglich an den Fernsehaufnahmen, die Sendeanstalten von Sportevents aufzeichnen, besteht ein Leistungsschutzrecht." Bei heise.de resümiert auch Stefan Krempl eine Diskussion bei den Grünen zum Stand bei der Umsetzung der Reform.
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Ideen

Auf der Gegenwart-Seite der FAZ erklärt der Soziologe Armin Pfahl-Traughber, warum er die Begriffe "Islamophobie" und "antimuslimischer Rassismus" zu ideologisch findet, als dass sie tatsächliche Diskriminierungen beschreiben könnten. Zwar seien sich die Anhänger des Begriffs "antimuslimischer Rassismus", bewusst, dass der Islam keine "Rasse" ist, aber die Beobachtung, dass sich der Streit aufs kulturelle Feld verschoben habe, reiche nicht aus. "Diese Beobachtung geht indessen mit einem Denkfehler einher: Ethnische Besonderheiten können nicht aus der Position einer Verteidigung von Menschenrechten kritisiert werden, was bei kulturellen Besonderheiten, die sich zum Beispiel in Antisemitismus, Frauendiskriminierung oder Homosexuellenfeindlichkeit äußern, sehr wohl möglich ist. Gerade diesen Unterschied verwischt jedoch der Begriff 'antimuslimischer Rassismus'." In der Folge warnt Armin Pfahl-Traughber vor jenem Schulterschluss, der in Frankreich mit dem Begriff "Islamogauchisme" belegt wird: "Die Identitätslinke und Islamisten und der von ihnen betriebene Diskurs sind von einem antiindividualistischen Menschenrechtsrelativismus geprägt."

In der NZZ antwortet der Politikwissenschaftler Felix Heidenreich auf seinen Kollegen Jan-Werner Müller, der kürzlich die Klagen über Cancel Culture als wehleidige Übertreibung beschrieben hatte, die Liberale und Konservative gerne nutzten, um nicht über die viel größere ökonomische Ungleichheit reden zu müssen. Auch Heidenreich findet die Konzentration auf Einzelfälle der Cancel Culture völlig übertrieben. Er glaubt aber, dass Konservative und Reaktionäre (die Liberalen fallen in diesem Teil seines Artikels unter den Tisch) sich vor allem darüber ärgern, dass ihnen die Moral aus den schwitzenden Händchen gewunden wird: "Aber war das Einklagen von 'korrektem Verhalten', von Höflichkeit, Anstand, Sitte, ja von Moral früher nicht genau die Kernkompetenz des Konservativismus? 'Das gehört sich nicht!', 'So etwas sagt man nicht!', 'Achte auf deine Ausdrucksweise!' - das waren Sätze, die man im Adenauer-Deutschland wohl recht oft zu hören bekam. Und nun soll das Einklagen moralischer Standards, der Appell an Höflichkeit und Rücksicht, ja 'Correctness' plötzlich eine schändliche Moralisierung sein? Eigentlich kann es doch für echte Konservative gar nicht genug Moral geben", spottet Heidenreich.

In der Welt wundert sich Tobias Käufer nach dem Abgang des gern als "Reformer" beschriebenen Raúl Castro, wie wenig sich die Linke für unterdrückte Minderheiten in Kuba wie Homosexuelle, Aktivisten, Künstler und Blogger interessiert: "Kubas Menschenrechtsverletzungen werden bis heute von der globalen Linken akzeptiert und toleriert. Das zum Beispiel unterscheidet Sozialdemokratie und Grüne von der Linkspartei: das kategorische Nein zum Schießbefehl-Sozialismus, in dem Mord, Folter, Repression und Massenvertreibung billigend mit eingepreist sind. Während im Mittelmeer Aktivisten afrikanische Bootsflüchtlinge zu retten versuchen, sind bis heute Tausende kubanische Bootsflüchtlinge auf offener See beim Versuch, in die USA zu fliehen, ertrunken. Einsam, anonym, vergessen, von den Castros auch mal als arbeitsscheues Gesindel diffamiert. Wie viele, das weiß niemand, und es interessiert auch niemanden."

Außerdem: In der NZZ stellt Hans Ulrich Gumbrecht Peter Sloterdijk als den "heitersten aller Philosophen" vor. Und im Interview mit Zeit online denkt die Technikphilosophin Jessica Heesen über Grundregeln für die KI nach.
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Gesellschaft

Die Frage, ob tatsächlich mehr Menschen mit Migrationshintergrund erkranken, wird von den Medien kaum thematisiert, obwohl sich eine Bemerkung Lothar Wieles vom Robert-Koch-Institut so verstehen ließ. Auch bei einer Analyse der möglichen Gründe wird zu kurz gegriffen, findet Ahmad Mansour in der taz: "Aspekte wie die engen Familienstrukturen, die in normalen Zeiten Rückhalt geben, sich nun aber zum Nachteil entwickeln können, wurden nicht beleuchtet. Natürlich kann man hier nicht verallgemeinern, allerdings mehren sich Berichte aus Krankenhäusern, die dramatischer nicht sein könnten. Auch in Israel war beispielsweise während der Pandemie deutlich zu beobachten, dass die Hälfte der schwersterkrankten Covid-19-Patienten arabischer Herkunft waren, obwohl nur etwa 20 Prozent der Israelis arabisch sind. Ebenso zeigen sich statistisch relevante Unterschiede in Bezug auf Vorerkrankungen wie Diabetes und Adipositas, die bei bestimmten Communitys öfter auftreten, aufgrund ihres Essverhaltens und bewegungsarmen Lebensstils."

Den "Tatort"-Regisseur Dietrich Brüggemann identifiziert Daniel Laufer bei netzpolitik.org als den Spritus Rector der shitumstormten #allesdichtmachen-Aktion, von der sich ein Drittel der beteiligten Schauspieler inzwischen distanziert habe. Brüggemann habe viele Texte der Videos geschrieben. Und er bleibt bei der Sache: "Brüggemann dagegen teilt gegen Kritiker:innen weiter aus. Er schimpft, die Leute verlören jedes Maß, im Prinzip sei es ein Lynchmob, der sich da zusammenrotte, und Leute privat und beruflich fertigmachen wolle. 'Das ist in der Struktur faschistoid.' Auf Twitter teilte er die Behauptung, '#allesdichtmachen' sei viel weniger Kritik an den Maßnahmen und der Regierung, als an denen, die laut und entrüstet bellten."

Auf der Seite der Aktion gibt es inzwischen ein etwas unklares Statement zur Aktion und zum gewaltigen Shitstorm, der über sie hinwegfegte: "Nicht alle in dieser Gruppe sind Gegner eines wie auch immer gearteten Lockdowns. Einige schon. Aber darum geht es nicht." Und übrigens: "Wenn Videos von dieser Seite verschwinden, dann heißt das nicht zwingend, dass die jeweiligen Leute sich distanzieren. Es kann genausogut bedeuten, dass jemand sich einfach nicht in der Lage sieht, diesen Shitstorm auszuhalten, oder seine Familie schützen will."

Von dem Vorwurf der AfD-Nähe will er sich nicht einschüchtern lassen, sagt Brüggemann im Interview mit Nicole Ankelmann von ntv.de: "Das heißt doch, dass wir dieses Thema der AfD dringend wieder wegnehmen müssen. Die Diskussion, wie viel Lockdown verhältnismäßig ist und wie viel wir kaputt machen in unserer Gesellschaft - das kann man doch nicht der AfD überlassen. Und den Prozess dann stigmatisieren und jedem, der protestiert, sagen: 'Du vertrittst jetzt hier AfD-Positionen.' Das ist doch totalitär. Damit ist das ganze Thema im Keim erstickt."

In der SZ fragt Cerstin Gammelin, warum ausgerechnet ein Schauspieler wie Jan Josef Liefers, der bei der Demo am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz großen Mut bewiesen hatte, sich jetzt an der Aktion #allesdichtmachen beteiligt hat: "Sein Beitrag und die anderen Videos von #allesdichtmachen haben, trotz aller Ironie, die sie verwenden, eine ganz andere Wirkung. Sie spalten die ohnehin aufgeregte Gesellschaft, weil sie Wissenschaftler, Ärzte und Medien mit dem Prädikat regierungstreu versehen und gegeneinander ausspielen. Er sei doch bei den Verunsicherten, Eingeschüchterten, Verstummten, legte Liefers auf Twitter nach. Echt jetzt? Tatsächlich ähnelt der Ton, den er gerade draufhat, eher dem von Professor Boerne, der sich kurz aufregt, bevor er zum Golfen oder Tauchen abgeholt wird. Ja, das nervt. Gerade bei jemandem, der erlebt hat, was Diktatur ist. Ein Aufruf zum Miteinander wie 1989 wäre dagegen eine feine Sache gewesen."

In der Welt geht Andreas Rosenfelder die unisono geäußerte Kritik an der Aktion zunehmend auf die Nerven: "Wer, wofür es gute wissenschaftliche Gründe gibt, an Notwendigkeit und Wirksamkeit der autoritären Regierungsmaßnahmen zur Pandemiebekämpfung zweifelt, der wird behandelt, als wolle er Menschen sterben lassen. Aus dieser absurden Logik gibt es keinen Ausweg, sie verunmöglicht Kritik."
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Medien

Philipp Gollmer unterhält sich für die NZZ mit Max Biederbeck und Guido Bülow, die bei Facebook für die Faktenchecks mitverantwortlich sind, deren Ergebnisse dafür sorgen können, dass Inhalte mit einer Warnung versehen oder in ihrer Sichtbarkeit beschränkt werden. Biederbeck schildert seine Arbeit, spricht über die Kriterien, die sie anlegen, und erklärt seine Prämisse: "Wir dürfen in der Sache keine eigene Meinung haben. Unser Job ist nicht Gerechtigkeit, unser Job sind Fakten. Das ist wichtig, weil Gerechtigkeit eine bestimmte normative Aufladung hat. Und nur weil uns etwas nicht gefällt, heißt das nicht, dass es nicht da draußen sein darf und soll. Tatsachen und Meinungen, die uns privat nicht gefallen, sind nicht unser Job. Sie sollten nicht unsere Aufgabe sein, sie können nicht unsere Aufgabe sein, und wir wollen auch nicht, dass sie unsere Aufgaben sind."
Archiv: Medien
Stichwörter: Facebook, Faktenchecks