9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Art Demokratie-TÜV

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.04.2021. Die Behauptung, Politik, sei durch wissenschaftlichen Rat getrieben, ist auch oft genug eine Schutzbehauptung von Politikern, die Verantwortung scheuen, sagt Juli Zeh in der Zeit. Wissenschaftsskepsis findet sich jedenfalls nicht nur rechts, schreibt Natalie Grams in hpd.de mit Blick auf die Homöopathie-Anhänger. Die SZ freut sich, dass Deutschland nun über die Rückgabe der Benin-Bronzen diskutieren will. In Indien wüten neue Mutanten des Coronavirus auch deshalb so ungehemmt, weil Narendra Nodi riesige religiöse Feste zuließ, konstatiert der Indienforscher Axel Michaels in der FAZ. In der SZ fleht der schottische Schriftsteller Misha Glenny: "Nehmt uns zurück!"
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.04.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Thea Dorn, Juli Zeh und Daniel Kehlmann unterhalten sich in der Zeit, moderiert von Adam Soboczynski, über Politik und Wissenschaft. Alle drei sehen die Behauptung, die Politik lasse sich in der Coronakrise von Wissenschaft leiten, skeptisch. Kehlmann sagt: "Als Gesellschaft treffen wir doch ständig kollektive Vorentscheidungen, welche Maßnahmen wir überhaupt für diskutabel halten. Es ist unbestritten, dass Männer häufiger an Covid-19 sterben als Frauen. Man würde die Pandemie schneller besiegen, wenn man erst die Männer, dann die Frauen in jeder Altersgruppe impfen würde. Aus nachvollziehbaren gesellschaftlichen Gründen wird das in keinem demokratischen Land auch nur diskutiert." Und für Juli Zeh ist Wissenschaft oft nur eine Schutzbehauptung: "Die Politik ist verantwortungsscheu geworden, das geht schon lange so. Sie arbeitet im Absicherungsmodus. Das zeigt sich in der Bürokratieverliebtheit, die uns ausbremst - bloß keinen Fehler machen, alles kleinteilig regeln! Aber es zeigt sich auch darin, politische Entscheidungen als wissenschaftliche Zwangsläufigkeiten zu präsentieren. Letzteres ist enorm problematisch."

In der FR schlägt die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr vor, durch Corona-Bürgerräte einen "Ausgleich zwischen einem Durchregieren der politischen Exekutive und einem Populismus zu finden, der sich selbst zur Stimme des Volkes und die Medien zum Sprachrohr des Kanzleramts erklärt. Beide haben in den unterschiedlichen Phasen der Corona-Krise immer aufs Neue die Grundlagen unserer liberalen Demokratie untergraben."

Natalie Grams, eine Kritikerin "alternativer" Medizin, fordert bei hpd.de viel mehr Aufklärungskampagnen zu Corona. Die Coronaskepsis verortet sie inzwischen vor allem rechts, aber nicht nur: "Hierzulande ist die Homöopathie ein sehr prominenter Zweig der Wissenschaftsleugnung - des hartnäckigen Bestreitens längst unbestreitbarer wissenschaftlicher Evidenz oder des 'denialism', wie man in den USA sagt. Die Szene schert sich nicht darum, dass ein überwältigender wissenschaftlicher Konsens Homöopathie als spezifisch unwirksame Scheintherapie einstuft, die in der medizinischen Versorgungspraxis eines öffentlichen Gesundheitswesens nichts verloren hat."

Andrea Dernbach fürchtet im Tagesspiegel, dass Beamtinnen künftig kein Kopftuch tragen dürfen. "In aller Stille" sei das Bundesgesetz "zur Regelung des Erscheinungsbilds von Beamtinnen und Beamten" erlassen worden - mit dem Ziel, "dass Polizisten oder Richterinnen nicht zum Beispiel Tattoos verfassungsfeindlichen Inhalts tragen und womöglich sogar zeigen. Doch das federführende Bundesinnenministerium hielt die Gelegenheit offenbar für günstig, das alte Projekt weiterzutreiben und gleich auch 'nicht neutrale' religiöse Kleidung von Staatsdienerinnen und -dienern in den Entwurf zu schreiben. Im Text geht es auch ums christliche Kreuz und die jüdische Kippa, in der GroKo schwört man, das sei - nach acht Ländergesetzen - keine Lex Kopftuch bundesweit, und es sei ja auch klargestellt, dass Religiöses nur verboten sei, wenn es 'objektiv' neutrale Amtsführung gefährde." Aber das besänftigt Dernbachs Zorn nicht. Die "Anti-Kopftuch-Front" habe dazu gelernt: "Heute anerkennt man die Religionsfreiheit im Grundgesetz, erwähnt die Urteile und führt die Attacke versteckt, ohne Plenardebatte, unter einer Flagge, unter der sich alle sammeln können. Geht doch um Nazi-Tattoos, wer wollte dagegen sein?"

Es ist überhaupt nicht rassistisch zu benennen, dass Menschen mit Migrationshintergrund häufiger von Corona betroffen sind, sagt die CDU-Politikerin Serap Güler im Gespräch mit Reiner Burger von der FAZ: "Wir müssen das Phänomen im sozialen Kontext sehen. In sozial schwachen Gegenden leben mehr Menschen auf beengtem Raum. Viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte arbeiten zudem in der Industrie oder in der Pflege, als Reinigungskraft, als Kassiererin, sie können sich nicht ins Homeoffice zurückziehen. Die Einwanderungsgeschichte ist also nicht der entscheidende Faktor, vielmehr geht es vor allem um die soziale Herkunft."

Der Tagesspiegel hat vier Autoren auf #allesdichtmachen angesetzt (Unsere Resümees) - mit der Frage, wer genau hinter der ihrer Ansicht nach "perfiden" Aktion steht. Es sind neben dem Filmproduzenten Bernd Katzmarczyk die (Tatort-)Regisseure Dietrich Brüggemann und Thomas Bohn, die im eigenen (Tatort-)Umfeld "rekrutierten", so der Tagesspiegel. Katzmarcyk sei durch Querdenker-Sprüche aufgefallen, Bohn und Brüggemann wollten sich gegenüber dem Tagesspiegel nicht äußern. Aber gerade Brüggemann gerate immer wieder in die Nähe der Querdenker, so die vier in ihrer kilometerlangen Recherche: "Bis vor kurzem fand sich auf Soundcloud noch ein Song mit den Zeilen 'Steckt euch euren Polizeistaat in den Arsch, steckt euch eure Maskenpflicht in den Arsch …'- inzwischen ist er gelöscht. Das Stück stammt von Brüggemann, der unter dem Pseudonym Noisy Nancy produziert."
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Kulturpolitik

Für den heutigen Donnerstag hat Monika Grütters Museumsleute, Kulturminister und das Auswärtige Amt geladen, um über die Rückgabe der Benin-Bronzen zu diskutieren, melden Jörg Häntzschel und Sonja Zekri, die in der SZ die Debatte resümieren und sich freuen, dass es nun endlich voran geht: "Lange hatten die ehemaligen europäischen Kolonialmächte das Feld anderen überlassen: China hat Senegal in Dakar das Musée des civilisations noires gebaut, das Museum für schwarze Zivilisationen. Südkorea hat das Nationalmuseum in Kinshasa in der Demokratischen Republik Kongo finanziert. Erst Ende 2017 wachte Europa auf: Frankreichs Präsident Macron kündigte an, er wolle innerhalb von fünf Jahren die Voraussetzungen für die Rückgabe von geraubtem Kulturgut aus den Kolonien schaffen. Auch den Deutschen wurde klar, dass es außer um historisches Unrecht auch um politischen Einfluss geht." In der taz berichtet Susanne Memarnia.
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Ideen

Die Erinnerung an den Holocaust wird aus unterschiedlichen Richtungen relativiert, einerseits vom postkolonialen Denken, das den Holocaust im Namen einer vermeintlich übergreifenden Unheilsgeschichte einkassieren will (mehr hier), aber auch von der Historikerin Hedwig Richter und Bernd Ulrich, die neulich in der Zeit behaupteten, Deutschland stehle sich mit der "Sonderwegs"-Behauptung aus aktueller Verantwortung (unser Resümee). Die beiden Historiker Riccardo Bavaj und Martina Steber finden das in der taz absurd. Die aktuellen geschichtspolitischen Streitigkeiten betreffen für sie den Westen insgesamt: "Diesseits wie jenseits des Atlantiks ähneln sich inzwischen die Frontlinien der Ideenkämpfe um den Westen. Heute geht es weniger um den Abstand zwischen Deutschland und dem Westen als vielmehr um eine Statusbestimmung des Westens selbst."

Außerdem: Julia Spinola resümiert für die NZZ ein Symposion über Wagner und Marx am Deutschen Historischen Museum in Berlin.
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Religion

In Indien wüten neue Mutanten des Coronavirus auch deshalb so ungehemmt, weil Narendra Nodi riesige religiöse Feste zuließ, schreibt Axel Michaels, Professor am Südasien-Institut der Universität Heidelberg, in der FAZ: "Seit seinem Amtsantritt als Premierminister hat Modi systematisch ein Glaubenssystem verbreitet, das sich bewusst gegen wissenschaftliche Erkenntnisse stellt oder diese zu vereinnahmen versucht. Yoga, Astrologie oder vedische Mathematik wurden zu anerkannten akademischen Fächern an den Universitäten, den Staatsbeamten wurde sogar Yoga-Praxis verordnet."
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Medien

Immer mehr Journalisten verlassen ihren Beruf, konstatieren  Philipp Albrecht und Dennis Bühler in republik.ch in einer längeren Recherche zumindest für die Schweiz: "Journalismus ist nicht mehr der Traumjob von einst. Vor zehn Jahren noch drängten mehr junge Menschen in den Beruf, als Ausbildungsstätten und Redaktionen aufnehmen konnten. Heute ist das anders: Die großen Redaktionen haben Mühe, fähigen Nachwuchs zu finden. An den Journalistenschulen schrumpfen die Jahrgänge."

Ende letzten Jahres hatte die Bundesregierung der Printpresse (aber nicht anderen Mediengattungen) 220 Millionen Euro Subventionen versprochen, um ihr Geschäftsmodell abzustützen (mehr hier). Dass diese Förderung nun erstmal gestoppt ist, wurde gestern bekannt (unser Resümee). In der taz berichtet Erica Zingher über Reaktionen: "Die Verlegerverbände, die weiterhin vor allem klassische Printverlage vertreten, nennen das vorläufige Scheitern des Programms hingegen 'schockierend'… Zuletzt habe das Wirtschaftsministerium eine Umwidmung der Haushaltsmittel in eine Coronasoforthilfe für die Verlage vorgeschlagen. 'Unverständlich' sei, warum der Haushaltsausschuss dem Vorschlag nicht gefolgt sei." Wo man so ein schönes neues Etikett gefunden hatte.
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Europa

"Nehmt uns zurück", fleht in der SZ der schottische Schriftsteller Misha Glenny, der nicht nur leise auf ein zweites Unabhängigkeitsreferendum hofft, sondern auch mit prominenten "Autoren, Künstlern, Politikwissenschaftlern und Aktivisten aus ganz Europa, darunter Daniel Kehlmann, Ian McEwan, Elena Ferrante, Roberto Saviano and Colm Tóibín, einen offenen Brief unterzeichnet (hat). Wir fordern die EU dazu auf, Schottland ein Schnellverfahren zur Wiederaufnahme anzubieten. Eine Kampagne wird folgen, die zeigen soll, dass der Brexit ein Ausnahmeereignis war und dass die Anziehungskraft der EU für uns noch immer die Hauptantriebsfeder für Fortschritt und Sicherheit darstellt. EU-Politiker, die behaupten, dass die Unterstützung Schottlands politisch unmöglich sei, sollten sich bitte zwei Dinge vergegenwärtigen: Schottland war bis vor Kurzem noch Mitglied, deshalb erfüllt es alle regulatorischen, rechtlichen und finanziellen Anforderungen für die Mitgliedschaft. Zweitens gibt es Präzedenzfälle, zum Beispiel die Aufnahme der DDR nicht nur in die Bundesrepublik, sondern auch in die EU." Mehr zu den schottischen Wahlen in der taz.

Danke, den Parteistiftungen, die in Berlin in repräsentativen Bauten im Botschaftsviertel residieren, geht's prächtig. Friedrich-Ebert-Stiftung, Adenauer-Stiftung, Naumann-Stiftung, Böll-Stiftung und Luxemburg-Stiftung erhalten zusammen gut 580 Millionen Euro jährlich. Nun droht aber auch die AfD mit ihrer Desiderius-Erasmus-Stiftung in das von den anderen Parteien so prächtig bereitete Bett zu schlüpfen, berichtet Hasso Suliak in der Legal Tribune Online: "Verhindern will das nun die Initiative für ein 'Wehrhafte-Demokratie-Gesetz', das vor wenigen Tagen von der Bildungsstätte Anne Frank vorgestellt wurde. Bei dem Vorschlag, der vom ehemaligen Bundestagsabgeordneten und früheren Rechtspolitiker der Grünen, Volker Beck, ausgearbeitet wurde, geht es nicht nur darum, die staatliche Finanzierung der Stiftungen nach den bisherigen Kriterien auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen. Gefordert wird vielmehr auch eine Art 'Demokratie-TÜV', den jede Stiftung zu durchlaufen hat."

Perfekt wie aus der Retorte verkörpert Annalena Baerbock für Zeit-Autor Thomas E. Schmidt einen neuen Typus politisch-medialer Symbiose: "Mit Laschet als Kontrahent steht die Dramaturgie fest: Die junge Frau wird sich jeden Tag dem Paternalismus des teddyhaften Unionisten entziehen, und jeden Tag wird Laschet dabei ein bisschen älter aussehen. Sobald er die Grüne angreift, greift er eine Frau an. Die ist längst ein Muster des heutigen Feminismus und will es sein. Und nur als dieser Leitstern nützt sie auch den Medien. Medien werden durch Konsens belohnt und vergrößern sich mithilfe der neuen Universalität der Grünen: Dort rast der Trend, den man entdeckt hat und verstärkt."

Im FR-Gespräch mit Peter Riesbeck attestiert der Politikwissenschaftler Thomas Bierbricher dem christ-demokratischen Konservatismus eine "inhaltliche Erschöpfung": "Das letzte konservative Identifikationsmerkmal war die schwarze Null. Die ist mit der Pandemie vorerst Geschichte." Konservative müssen neue Themen besetzen, meint er: "Der Umgang mit Technologien wie Künstlicher Intelligenz wäre ein Feld, auf dem sich der Konservatismus bewähren könnte. Um der Zukunft zugewandt zu sein, braucht es eine Verwurzelung in der Vergangenheit. Das ist ein klassisches konservatives Motiv. Das Thema lässt sich aber nicht allzu einfach besetzen, wenn man an kapitalistisch getriebenen Innovationen festhalten will. Denn um Wohlstand und Arbeitsplätze zu sichern, gibt es aus wirtschaftspolitischer Sicht eine große Affinität der Konservativen zu neuen Technologien."

Außerdem: Richard Herzinger warnt in seinem Blog nach dem jüngsten Abzug von der ukrainischen Grenze, dass Putin mit seiner Politik der Destabilisierung nicht aufhören wird - entgegen den frommen Wünschen der deutschen Außenpolitik.
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