9punkt - Die Debattenrundschau

Die Unterschiede auflösen und überwinden

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.05.2021. Nordirland wird hundert. Kevin Rooney, Betreiber eines neuen Referendums für Nordirland, erzählt in Spiked online, warum er eine Vereinigung zwischen Nordirland und der Republik näherrücken sieht. Neben dem Staat trägt vor allem eine Bevölkerungsgruppe die Kosten der Corona-Pandemie, die Sebständigen - der Regisseur Achim Michael Hasenberg schlägt darum in der taz einen Solibeitrag vor. In der SZ erklärt der afroamerikanische Publizist Thomas Chatterton Williams, warum er anders als die Antirassisten an der Idee der Farbenblindheit festhält. Die Welt repliziert auf Tagesspiegel-Artikel über die Aktion #allesdichtmachen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.05.2021 finden Sie hier

Europa

Kobili Traoré befand sich in einem "Wahnsinnsschub", den er selbst durch Drogen erzeugen half, als er Sarah Halimi folterte und unter "Allahu Akbar"-Rufen aus dem Fenster warf, weil sie Jüdin war. Dem bedauerlichen Islamisten ist darum vom Pariser Kassationsgerichts die Prozessfähigkeit abgesprochen worden. Bernard-Henri Lévy geht in seiner Kolumne nochmal auf den Fall ein. "Die Kobili Traorés der Zukunft werden es sich gesagt sein lassen, ob man es will oder nicht: ein Wahnsinnsschub, diagnostiziert von einem Trupp angeblicher Psychiater, kann Straflosigkeit bedeuten. Und die Sarah Halimis, ihre Schwestern, alte Damen, die in einer feindlichen Umgebung in Paris oder Rambouillet leben, ob jüdisch oder nicht, können es sich auch gesagt sein lassen: Das französische Recht, so wie es heute verfasst ist, schützt sie nicht in Gänze, falls sie umgebracht werden, und schützt nicht mal ihr Gedächtnis und ihre Würde."

Nordirland wird hundert. In einem faszinierenden Text für das Magazin Spiked online legt Kevin Rooney, Betreiber eines neuen Referendums für Nordirland, dar, warum er glaubt, dass eine Vereinigung der Republik Irland und Nordirlands wahrscheinlicher wird. Einerseits haben sich aus demografischen Gründen die Mehrheitsverhältnisse in der Region verändert, die Unionisten drohen in die Minderheit zu geraten, obwohl sie bei der Gründung der Union die Wahlkreise so zugeschnitten hatten, dass ihnen die Mehrheit für ewig sicher schien. Aber der Brexit beschleunigt den Prozess durch seine Widersprüche noch. "Das Nordirland-Protokoll im Brexit-Abkommen, Zeugnis der Weigerung der Republik, Änderungen am Grenzregime zwischen Nord und Süd zu dulden, ist einfach der praktische Effekt des Karfreitagsabkommens. Es existiert, weil das Karfreitagsabkommen Britannien nicht erlaubt, in Nordirland nach seinem Gutdünken zu handeln. Erst jetzt, zwanzig Jahre nach dem Karfreitagsabkommen, wird klar, wie sehr die Union zwischen Nordirland und Britannien geschwächt worden ist."
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Wissenschaft

Ralf Bönt begibt sich in Zeit online auf die Spur der Wissenschaftsskepsis in der Coronakrise, deren Protagonisten nicht selten andere Akademiker sind: "Vermutlich nicht zufällig sind es oft Großdenker anderer Disziplinen, gerne Philosophen und Historiker, die die Leistungen der sogenannten exakten Wissenschaften relativieren und letztlich diskreditieren wollen. Pikanterweise geben sie sich dann als etwas aus, das sie kaum sein können: Experten des Infektionsschutzes."
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Stichwörter: Coronakrise, Bönt, Ralf

Gesellschaft

Neben dem Staat trägt vor allem eine Bevölkerungsgruppe die Kosten der Corona-Pandemie - die Selbständigen, schreibt der Filmregisseur Achim Michael Hasenberg in der taz. Den Festangestellten wurde dagegen kein Haar gekrümmt. Anders als im ersten Lockdown gibt es auch sehr viel weniger Kurzarbeit. Der öffentliche Dienst gönnte sich mit Hinweis auf seine Systemrelevanz sogar eine Gehaltserhöhung von fünf Prozent. Hasenberg schlägt einen Soli für Selbständige vor: "Gerechter wäre es, wenn jede und jeder Erwerbstätige, egal ob Angestellte oder Selbstständiger, sich prozentual gleich an den Kosten der Pandemie beteiligen und einen niedrigen einstelligen Prozentsatz vom Einkommen abgeben würde. Dieser Pandemiebeitrag würde über die Steuererklärung abgerechnet. Wer starke Verluste während der Pandemie erlitten hat, zahlt einen geringen Prozentbetrag, bekäme aber aus dem gemeinsamen Topf einen größeren Anteil zurück, bis in einer Höhe von 90 Prozent des Einkommens aus dem Jahr 2019 und bis zum Erreichen eines gewissen Gesamteinkommens. So würde verhindert, dass ein gering verdienender Angestellter eine sehr gut verdienende Selbstständige finanziert."

Das islamische Kopftuch ist nicht neutral, darauf besteht Ahmad Mansour im Tagesspiegel: "Nicht immer verbirgt sich ein drohender Vater, Bruder oder Ehemann hinter der Entscheidung für die Verhüllung. Aber immer ein strafender, patriarchaler Gott. Sollte eine Frau bewusst entscheiden, ihr Kopftuch abzulegen, drohen Ausgrenzung und manches Mal der Kontaktabbruch. Dass Religionsfreiheit auch die Freiheit von Religion bedeutet, wird in diesem Kontext häufig vergessen. Das ist mit den Grundprinzipien einer aufgeklärten Gesellschaft, mit dem Recht auf Selbstentfaltung nicht vereinbar."

Der Tagesspiegel hat kürzlich ganze vier Reporter angesetzt für eine lange, aber niemanden wirklich dinghaft machen könnende Recherche in alten Twitterfeeds und Facebookeintragungen der "Hintermänner" und Beteiligten von #allesdichtmachen. Am Sonntag hat er mit einem zweiten, fast ebenso langen Artikel über "Verwerfungen innerhalb der Filmbranche und einen ominösen Drahtzieher aus dem Querdenker-Milieu" nachgelegt. Geschrieben haben das Andreas Busche, Hannes Soltau und "Journalist:innen des Recherchenetzwerk Antischwurbler". Mit dem "Drahtzieher" ist wohl Paul Brandenburg gemeint, der am 20. März bei "Kaiser TV" saß, "einem YouTube-Talkformat des Autors Gunnar Kaiser. Unter dem Sendungstitel 'Es ist eine Katastrophe!' sprechen sie über die 'Lust an Grundrechtseinschränkung' in der Pandemie. Was wie ein netter Plausch unter Gleichgesinnten wirkt, ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Aktion #allesdichtmachen von langer Hand geplant war und von Beginn an eine politische Agenda verfolgte. Brandenburg ist Notfallmediziner, Unternehmer und Begründer der Initiative '1bis19', zu deren Hunderten von Unterstützer:innen auch der Schauspieler Volker Bruch und Regisseur Dietrich Brüggemann gehören. Sein Gesprächspartner Kaiser gibt auf Facebook mit Suggestivfragen schon mal einen scharfen Ton vor: 'Haben ältere Menschen, die das (Anm.: die Corona-Maßnahmen) hinnehmen und freudig akzeptieren für ein paar eigene Lebensjahre mehr, diese Lebensjahre dann verdient?' Auf diesen Punkt läuft es bei Kaiser und Brandenburg oft hinaus: Menschenleben werden gegen Freiheitsrechte ausgespielt."

In der Welt ist Regisseur Thomas Bohn sichtlich angewidert von dieser Art der Berichterstattung, die ihn an die McCarthy-Ära erinnert: In dem Artikel reihe sich "eine Vermutung an die andere. Von 'Verwerfungen' in der Branche ist die Rede, von 'munkeln' über 'größere Namen', die beteiligt seien, wird berichtet. Aber 'niemand möchte namentlich genannt werden', weil sich eben 'niemand traut'. Dafür traut sich aber der Tagesspiegel. Um Moritz Bleibtreu 'verdichten sich die Hinweise', dass er 'zu einem frühen Zeitpunkt in die Aktion eingebunden war'. Und dann erzählt eine geheime 'Quelle' dem Tagesspiegel wirklich Böses: Nämlich dass es niemand in der Szene wagen würde, Bleibtreu als 'aktiven Rekrutierer' der Aktion zu nennen. Begründung: 'Der lässt dich dann eventuell aus dem nächsten Projekt kicken, wo er besetzt ist.' So etwas nennt man im Volksmund Rufmord."

In netzpolitik meldet Daniel Laufer: Babylon-Star Volker Bruch habe einen Mitgliedsantrag bei der Querdenkerpartei "Die Basis" gestellt. "netzpolitik.org konnte eine auf Mitte April datierte Mitgliederliste einsehen, die vorläufige Mitgliedsnummer des Schauspielers endet auf '967'. Als Eintrittsdatum wird der 13. März 2021 genannt. Laut dem Medienbeauftragten der Partei David Claudio Siber ist Bruchs Eintrittsverfahren noch nicht abgeschlossen, da seine Identität noch entsprechend einem parteiinternen Prozess verifiziert werden müsse. Neumitglieder müssten demnach zunächst ihren Personalausweis vor einer Webcam zeigen. Es klingt, als sei das bei Bruch aber eher eine Formalie. Siber sagt, man könne bereits mit Gewissheit sagen, dass es sich bei dem Antragsteller tatsächlich um den Schauspieler handele. Die Mitgliederliste stammt aus einem massiven Leck, das im vergangenen Monat bekannt wurde."

In der Welt unterhalten sich außerdem der Beamte Gunnar Kaiser und seine Schwester, die Unternehmerin Heike-Melba Fendel auf einer ganzen Seite über die Corona-Maßnahmen (sie sind da geteilter Meinung) und auch über #allesdichtmachen. Fendel sagt in wenigen Sätzen alles, was dazu gesagt werden muss: "Ich halte die Aktion für eitel und dumm und in ihrer verunsichernden Wirkung für äußerst destruktiv. Nicht allein für meine ohnehin hysterieaffine Branche, sondern auch für eine Gesellschaft, die bereit ist, Prominente ernster zu nehmen, als es deren intellektuelles Format erlaubt."
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Geschichte

Stefan Reinecke liest für die taz die kürzlich freigegebenen FBI-Berichte über Rudi Dutschke, die zeigen, wie intensiv die Behörde unter dem fanatischen J. Edgar Hoover Dutschkes Werdegang verfolgte und die letztlich darauf hinausliefen, dass man Dutschke trotz seiner amerikanischen Ehefrau kein Visum für die Einreise erteilte. "Kurzum: Weil Dutschke eine Bedrohung ist, dürften 'humanitäre Gründe und familiäre Zusammenhänge' keine Rolle spielen. Der SDS-Mann aus Westberlin wird, so die Befürchtung, in den USA zum 'neuen Führer der Neuen Linken' aufsteigen."
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Dutschke, Rudi, Westberlin

Ideen

Im Interview mit der SZ spricht der afroamerikanische Publizist Thomas Chatterton Williams über die Rassismus-Debatte in den USA und in Europa, die er puritanisch, um nicht zu sagen religiös findet. Und schlimmer, so Williams, der an Martin Luther Kings Ideal einer farbenblinden Gesellschaft festhalten will: Die progressive Antirassismus-Bewegung "beginnt, dieselben Ansichten zu spiegeln, die auch wahre Rassisten haben, womit ich Rechtsextreme meine, also Menschen, deren gesamtes Weltbild auf der Existenz verschiedener 'Rassen' aufbaut. Nun soll man neuerdings auch von der progressiven Linken aus race für das wichtigste Identitätsmerkmal eines Menschen halten, für das eine Detail, von dem alles abhängt. Das ist rassistisches Denken. Martin Luther King, dessen Position ich als liberal bezeichnen möchte, wollte die Unterschiede zwischen Schwarzen und Weißen auflösen und überwinden, wollte Toleranz und individuelle Freiheit stärken."

John McWhorter, ein anderer Dissident des Antirassismus, erzählt in der New York Times eine Etymologie des Wortes "Nigger", das er tatsächlich in den Spalten dieser Zeitung hinschreiben darf (einige Monate nachdem ein Redakteur gefeuert wurde, weil er das "N-Wort" in einer Diskussion mit Studenten über eben dieses Wort ausgesprochen hatte, unsere Resümees). Der Text ist eine Übernahme aus einem neuen Essayband McWhorters. Das Wort habe noch 2002 ein Buch des afroamerikanischen Rechtswissenschaftlers Randall Kennedy betitelt. Heute ist es selbst in der Kontextualisierung tabu. Nur ein Jahr nach Kennedys Buch "soll ein Mitarbeiter der medizinischen Fakultät der Universität von Virginia gesagt haben: 'Ich kann nicht glauben, dass es in der heutigen Zeit eine Sportmannschaft in der Hauptstadt unserer Nation gibt, die 'Redskins' heißt. Das ist für Natives genauso abwertend wie es ein Team namens 'Nigger' für Schwarze wäre." Der Leiter der 'National Association for the Advancement of Colored People' (NAACP), Julian Bond, schlug vor, diese Person solle ein obligatorisches Sensibilitätstraining absolvieren, und sagte, sein Bauchgefühl sei, dass die Person es verdiene, einfach gefeuert zu werden. Die Idee war, dass das Wort unaussprechlich war, unabhängig vom Kontext. Ein heutiger Mitarbeiters würde das Wort nicht mehr auf diese Weise verwenden."
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Politik

Mit dem Abzug der Amerikaner aus Afghanistan werden die Taliban übernehmen. Vielleicht wird das nicht von Dauer sein, hofft Herfried Münkler mit Blick auf Vietnam, das sich inzwischen aus Furcht vor China den USA zugewandt habe, in der NZZ. Doch die Idee einer globalen Weltordnung mit universalen Werten ist gestorben, glaubt er: "Die Religion und die ihr verbundenen Traditionen haben sich als stabile Widerstandsbastion erwiesen. Die liberalen Werte des Westens werden auf absehbare Zeit nur im Westen und in den ihm zugehörigen Räumen gelten. Die Idee einer globalen Ordnung mit gemeinsamen Werten ist definitiv aufgegeben worden - auch wenn sie in der Rhetorik der Nichtregierungsorganisationen nach wie vor bespielt werden wird. Bei den Militäreinsätzen an der Peripherie der westlichen Welt wird es hinfort nur noch um politische Stabilisierung und nicht mehr um menschenrechtliche Veränderungen gehen."
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