9punkt - Die Debattenrundschau

Die Zeit der großen Freiheit ist wohl vorbei

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.05.2021. In der FR blickt Soziologe Sighard Neckel leicht amüsiert auf das bürgerliche Publikum, das sich plötzlich von zu viel Staat gemaßregelt sieht. In der FAZ erzählen die Historiker Stephan Lehnstaedt und Daniel Brewing, wie die polnische Regierung den Begriff des "Genozids" für die polnische Geschichte mobilisiert, um aktuelle politische Ansprüche zu untermauern. Die NZZ freut sich, dass soziale Medien jetzt von der Politik wohl doch stärker kontrolliert werden sollen. In Afghanistan ziehen die westlichen Truppen ab. Und in Kabul wird eine Mädchenschule in die Luft gejagt. Die taz fragt nach den möglichen Tätern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.05.2021 finden Sie hier

Politik

Die westlichen Truppen in Afghanistan ziehen ab und überlassen das Land den Dschihadisten. Das Attentat vom Wochenende, bei dem 68 Menschen starben, vor allem Schulmädchen von 11 bis 15 Jahren, schockierte selbst die bei solchen Meldungen schon abgestumpfte Weltöffentlichkeit. Dass Islamisten westliche Schulbildung haram finden, ist bekannt, schreibt Thomas Ruttig in der taz. Er weist aber auch darauf hin, dass sich das Attentat in einem schiitischen Stadtteil Kabuls ereignete: "Der war bereits mehrfach Ziel ähnlicher Anschläge mit mehreren Dutzenden Toten. Im vergangenen Mai griffen Bewaffnete die Mütterstation eines Krankenhauses an und brachten gezielt Neugeborene, Schwangere und medizinisches Personal um. Im Oktober 2020 und im Dezember 2017 sprengten sich Selbstmordattentäter in einem Tutorenzentrum und einem soziokulturellen Zentrum in die Luft. Im September 2018 traf es einen Ringerklub; anschließend zündeten die Attentäter eine Autobombe unter den Fliehenden. Zu einigen dieser Anschläge bekannte sich der afghanische Ableger des 'Islamischen Staates', genannt IS-Khorasan-Provinz (ISKP), andere blieben ohne Bekennererklärung." Bisher hat sich laut Ruttig niemand zu dem jüngsten Attentat bekannt, ISKP habe aber kürzlich vor neuen Attentaten gewarnt.
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Ideen

Christan Geyer antwortet in der FAZ auf einen Artikel zweier Rechtsprofessoren im Verfassungsblog zum Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts. Die Autoren fragen, ob es nun ein "Grundrecht auf Generationengerechtigkeit" gebe. Geyer lehnt das ab: "Ein solches Grundrecht, so versteht man die Richter, kann es aus rechtssystematischen Gründen nicht geben, da künftige Generationen als solche vor Gericht nicht als Kläger auftreten können, wie jene dies befugt sind zu tun, die 'gegenwärtig, selbst und unmittelbar' (Erster Senat) in ihren Freiheitsrechten betroffen sind und diese auch 'intertemporal', also in zeitlicher Erstreckung, geltend machen können."

In der Welt protestieren die Wirtschaftsphilosophen Michael Esfeld und Philip Kovce heftig gegen eine Politik der "staatlichen  Zwangsbeglückung" - egal ob bei der Terrorbekämpfung, dem Klimawandel oder der Coronabekämpfung -, die die Freiheiten einzelner einschränkt. "Die freie Entfaltung der Persönlichkeit scheint kaum mehr ein Grundrecht, vielmehr ein Bedrohungsszenario zu sein, das nur Terroristen, Klimasünder, Virenschleudern kennt, denen das Handwerk gelegt werden muss. Um das zu tun und dafür zu sorgen, dass der freie, allzu freie Mensch seiner Verantwortung für das einzig Wahre, Schöne und Gute gerecht wird, treten mediale Moralapostel, akademische Besserwisser und politische Sittenwächter auf den Plan. Sie meinen, uns anleiten und überwachen zu müssen, damit wir von der Freiheit korrekt Gebrauch machen."

Auch der Soziologe Sighard Neckel kennt diesen Groll gut, der vor allem jetzt in der Pandemie blüht, wie er im Interview mit der FR erklärt: "Gerade in bürgerlichen Kreisen ist ein Groll auf den Staat gewachsen, der einem jetzt dauernd Vorschriften macht. Das ist man hier nicht gewohnt. Regierungspolitik erfuhr man meist zum eigenen Vorteil, und ansonsten wollte man in seinem Privatleben in Ruhe gelassen werden. Entsprechend geht es dem bürgerlichen Milieu auf den Wecker, dass der Staat sich jetzt überall einmischt. In Kreisen von Rechtsanwälten, Ärzten, Steuerberatern, Universitätsprofessoren und Unternehmern wird das sehr offen kommuniziert. In anderen Milieus hingegen gehörte die Einmischung des Staates schon immer zur Lebensrealität. Jetzt grollt das Bürgertum, weil es sich genauso behandelt sieht wie die Sozialschichten unten."

Viel retweetet wird ein Artikel der jüdischen Studentin Pamela Paresky in dem Magazin Sapir, die erzählt, was sie in einem Reader der Uni, wo sie gerade anfängt zu studieren, alles über "Mikroaggressionen" lernte: "Ich erschauere, als ich lese, dass es eine Mikroagression ist zu sagen, 'es gibt nur eine Rasse, die menschliche Rasse'. Das sagt meine Großmutter immer. Ihr Vater, der mehrere Konzentrationslager überlebte, hatte das auch immer gesagt. Sie sind keine Rassisten. Aber laut dieser Liste ist es ja eine Mikroaggession zu sagen, dass man kein Rassist sei. Ich frage mich, ob es auch als Mikroaggression gilt, seinen Antisemitismus zu leugnen. Ich suche nach  in der Liste nach Mikroaggressionen gegen Juden. Aber da ist keine."

In der NZZ überlegt der Philosoph Gernot Böhme, welche Auswirkung die Digitalisierung auf unsere Lesekompetenz hat. Sozialwissenschaftler, die unter Lesen vor allem Informationsaufnahme verstehen, helfen nicht, die Veränderungen zu begreifen, meint er und erklärt mit Gottlob Frege, Kant, Bühler und Bergson, warum richtiges Lesen immer hermeneutisch-kompetentes Lesen ist: "Es kann durchaus Texte geben, deren Zweck allein in der Mitteilung von Sachverhalten besteht. Texte, an denen die Lesekunst der Hermeneutik entwickelt wurde, etwa die Bibel, philosophische und literarische Texte gehen weit darüber hinaus. Es geht da beim Lesen nicht nur darum, Sachverhalte festzustellen. Es geht um das Verstehen von Sinn."
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Internet

"Die Zeit der großen Freiheit ist wohl vorbei", jubelt Urs Saxer in der NZZ, heilfroh, dass die sozialen Medien jetzt in den USA, Britannien und Europa an die Kandarre genommen werden. Dazu gehören neue Verordnungsentwürfe der EU, die "diverse wettbewerbsbehindernde Praktiken vor allem gegenüber den gewerblichen Nutzern für illegal erklärt werden. Die Kommission soll umfassende Befugnisse für Marktuntersuchungen erhalten. Ein Überwachungs- und Sanktionskatalog rundet diesen Vorschlag für eine umfassende Sonderregelung des Wettbewerbs auf den Onlinemärkten ab." Außerdem sollen die Nutzer mehr Rechte erhalten: Darauf hingewiesen, müssen die Plattformen illegale Inhalte zwar zügig löschen, dies aber künftig schriftlich begründen und Schiedsgerichte einsetzen: "Aus Gründen der Transparenz haben sie offenzulegen, ob verpönte Inhalte automatisiert gefunden wurden und ob die Entscheidung automatisiert erfolgte. All dies stärkt die Grundrechte der Nutzer enorm."

In der SZ empfiehlt Michael Moorstedt die Software-Tools Fawkes und Lowkey, mit deren Hilfe KI-Modelle zur Bilderkennung in die Irre geführt werden können. Einsetzen kann man sie beispielsweise, um die KI am Wiedererkennen von Selfies in sozialen Medien zu hindern: "Data Poisoning, Vergiftung der Daten, nennen es die Forscher. Die vergifteten Selfies aber sind für jeden Einzelnen ein Mittel, wieder ein bisschen mehr Herr über seine Daten zu werden. Unter lowkey.umiacs.umd.edu und dev.scrb.ai können Nutzer die Störfeuer-Software selbst ausprobieren. Laut Angaben der Forscher ist sie gegen alle gängigen großen Bilderkennungsmodelle wirksam, etwa Amazons Rekognition oder auch Microsofts Azure-Plattform."
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Gesellschaft

In der NZZ rollt der Philologe Stefan Stirnemann die Augen über gendergerechte Sprache: "Gottfried Keller schrieb im 'Grünen Heinrich' von 'Regierungspersonen'. Dass dieses Wort damals Männer meinte und dass es heute für Frauen und Männer steht, das liegt an der Wirklichkeit, nicht am Wort. Es gibt zwei Typen von Mensch: Der eine will die Welt ändern, der andere schont seine Kräfte und regelt die Sprache."

Oliver Rautenberg wirft in seinem Anthroposophie.blog einen Blick auf einige neue Kleinparteien, die im Kontext der "Querdenker"-Bewegung entstanden sind. Nicht wenige von ihnen sind anthroposophisch beeinflusst - etwas die Partei "Die Basis": "Die Satzung der Partei ist in vielen Punkten esoterisch geprägt: 'Dem Menschen wohnt eine Schöpferkraft inne, die für eine Erneuerung in der Politik genutzt werden soll. Was dem Leben, der Liebe und der Freiheit dient, muss aufgebaut, gefördert und geschützt werden'."
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Europa

In Polen wird Raphael Lemkin wieder entdeckt, der Schöpfer des Begriffs "Genozid", der im damals polnischen Lemberg geboren worden war und dessen Begriffsprägung in eine UN-Konvention nach dem Krieg einging. Diese Wiederentdeckung hat aktuelle politische Gründe, schreiben die Historiker Stephan Lehnstaedt und Daniel Brewing auf der Gegenwartsseite in der FAZ. Die Warschauer Regierung wolle nämlich Polen selbst als Genozidopfer in die internationale Wahrnehmung rücken und sich selbst damit legitimieren. Drei genozidale Verbrechen benennen sie: Den Überfall durch Stalins Truppen 1939 mit seiner Auslöschung polnischer Eliten, die Massaker durch ukrainische Nationalisten in Wolhynien im Sommer 1943 und natürlich die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg: "Als argumentativer Eckpfeiler dient dabei insbesondere der Verweis auf den Generalplan Ost, den der Berliner Agrarwissenschaftler Konrad Meyer 1941 im Auftrag Heinrich Himmlers erstellt hatte. Darin wurde die Vertreibung von mehr als 30 Millionen Menschen avisiert, deren Verelendung und Hungertod bewusst einkalkuliert wurden. Das Ziel war es, 'menschenleere Räume' in Osteuropa zu schaffen, die dann von deutschen Siedlern dauerhaft 'germanisiert' werden sollten." Auch in anderen Kontexten, so die Autoren, werde der Genozidbegriff heute zu einem "wesentlichen Element heutiger Identitätssuche".

Die Zensur greift in der Türkei immer weiter um sich, erzählt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Es gibt zum Beispiel das drängende Problem, dass Türken emigrieren wollen - tausend Türken verlassen täglich legal ihre Land -, aber der türkische Pass macht es ihnen schwer, denn ohne Visum kommen sie nirgends rein: "Zwei junge Leute, die einen lustigen Clip über den mangelnden Nutzen des türkischen Passes drehten und in den sozialen Medien teilten, wurden kurzerhand in Polizeigewahrsam genommen. Sie kamen zwar bald wieder frei, allerdings unter der Auflage, das Land nicht zu verlassen. Jetzt haben sie nicht einmal mehr einen Pass, über den sie sich lustig machen könnten."
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