9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.06.2021. In Belarus sind 454 Aktivistinnen und Journalisten in Haft, weil sie Demokratie fordern, die taz stellt einige von ihnen vor. Ebenfalls in der taz spricht der Historiker Ulrich Herbert über den Abschluss der  Quellensammlung zur "Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden". Das Blog The New Fascism Syllabus arbeitet unermüdlich weiter an der Durchsetzung von A. Dirk Moses' neuem "Katechismus". In der Deutschen Welle spricht die die nigerianische Journalistin Tobore Ovuorie über die Bedeutung von Twitter in ihrem Land. Die SZ warnt junge Menschen vor akademischen Karrieren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.06.2021 finden Sie hier

Europa

In Belarus sind mindestens 454 politische Gefangene in Haft, weil sie gegen das Lukaschenko-Regime und seine gefälschten Wahlen protestierten. Gaby Coldeway porträtiert einige von ihnen für die taz: "Am 21. Mai 2021 starb der 50-jährige Oppositionspolitiker Witold Aschurok nach fünf Monaten Lagerhaft - angeblich an Herzstillstand. Der 18-jährige Dmitri Stachowski, angeklagt wegen 'Beteiligung an Massenunruhen', beging am 25. Mai in der Haft Suizid. 'Wenn der moralische Druck auf mich nicht weitergegangen wäre, hätte ich es nicht gewagt, eine so schreckliche Tat wie Selbstmord zu begehen. Aber meine Ausdauer war erschöpft', schrieb er in einem Abschiedsbrief. Einige der Gefangenen sind noch nicht einmal volljährig, wie Nikita Solotorew der im vergangenen August als 16-Jähriger verhaftet und im Februar zu fünf Jahren Jugendstrafkolonie verurteilt wurde."

Heute treffen sich Joe Biden und Wladimir Putin. Während Biden einigermaßen klare Ansagen macht, versteckt sich Deutschland seit Jahren hinter einer Ethik des Hinterzimmerdialogs und überlässt die Ukraine ihrem Schicksal, notiert Richard Herzinger in seinem Blog: "Doch die langjährige deutsche Politik der 'Zurückhaltung' hat nicht zur Besänftigung Putins geführt. Er betrachtet diese im Gegenteil als ein Zeichen der Schwäche und als eine Einladung zu immer dreisteren Verstößen gegen das internationale Recht und die europäische Friedensordnung. Berlin und die gesamte deutsche Öffentlichkeit müssen endlich begreifen, dass die Ukraine mit dem Kampf für ihr Recht auf demokratische Selbstbestimmung auch die europäischen Demokratien insgesamt verteidigt, die Putin mit allen Kräften zu unterminieren und zu zerstören versucht."

In der NZZ glaubt auch die Politikwissenschaftlerin Gerlinde Groitl nicht mehr an den Spruch vom Wandel durch Handel. Am Beispiel Chinas sehe man, dass es so nicht läuft: "Wohlstandsgewinne können Diktaturen stabilisieren, während der Frust von Globalisierungsverlierern in Demokratien politische Sprengkraft besitzt. ... Ein Kernproblem der Engagement-Politik war von jeher das Fehlen von Zielmarken und Verbindlichkeit. Wenn man sich darauf beschränkt, 'im Dialog zu bleiben' und 'den Gesprächsfaden nicht abreissen zu lassen', regiert das Prinzip Hoffnung. Das wohlige, aber irreführende Gefühl, einen langfristigen Plan zu verfolgen, verleitet zu Trägheit und dem Ausverkauf eigener Interessen. Es ist schon lange klar, dass die Volksrepublik sich nicht zur Marktwirtschaft entwickelt, keine politische Öffnung durchläuft und stattdessen die Welt sicher machen will für die eigene Parteidiktatur. Trotzdem musste Peking bis in die jüngere Vergangenheit kaum Konsequenzen fürchten."

Der (auch aus Arte) bekannte Philosoph Raphaël Enthoven hatte sich in einem Tweet gefragt, für wen er stimmen würde, wenn er nur die Wahl zwischen der rechtspopulistischen Marine Le Pen und dem linkspopulistischen Jean-Luc Mélenchon hätte - und hatte dann für Le Pen optiert. Darauf folgte der übliche Shitstorm tugendhafter Empörung. Nun veröffentlicht Enthoven in L'Express eine nicht unelegante Entschuldigung: "Mein Irrtum war, ein tragisches Dilemma (Mélenchon oder Le Pen) mit einer Logik des geringeren Übels zu verknüpfen (Pest oder Cholera). Aber diese beiden Denkmodi sind inkompatibel: Die Terminologie des geringeren Übels funktioniert bei einem solchen Dilemma nicht, und diese Verschränkung hat die wild negativen Reaktionen bei wohlmeinenden Freunden ausgelöst. Der Alternative (Pest oder Cholera) lässt sich nur gerecht werden, indem man nicht wählt. Es gibt hier kein geringeres Übel."

Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt erzählt bei taz online, welches Chaos zustandekam, als er bei einer Diskussionsveranstaltung mit der Organisation "Palästina spricht" auftreten sollte. Das ist eine Organisation, die schon mal Demos vor Synagogen anmeldet, um gegen Israel zu protestieren. Anlass war das Freiburger Festival mit dem schönen Titel "Dear White People". Das Festival hat in unübersichtlicher Reihenfolge mal die einen, mal die anderen aus- und wieder eingeladen. Interessant aber klingt die Begründung für die Wiedereinladung nach der Ausladung von "Palästina spricht": "Die Kritik an 'Palästina spricht' galt plötzlich nur noch als Ausdruck weißer Vorherrschaft. Konkret verkündeten die Organisator*innen, sie würden sich '(...) nicht von weißen deutschen hegemonialen Bestrebungen, Schuld zu tilgen, in einseitige und dominante Diskurse drängen' lassen. Die Klage über eine vermeintliche deutsche Schuld, die getilgt werden muss, kennen wir eigentlich aus einer anderen politischen Ecke."
Archiv: Europa

Internet

Natalie Mayroth porträtiert für die taz den Karikaturisten Manjul, der wegen seiner Zeichnungen kaum noch für Zeitungen arbeiten kann und sich darum per Patreon über seine Leser finanziert. Wegen dieses Tweets

hat die Regierung Modi im Juni Strafanzeige gegen ihn gestellt: "In vier Bildern ist zu sehen, wie sich der Regierungschef vor der zweiten Coronawelle versteckt und erst nach deren Abklingen wieder auftaucht.Twitter Indien erklärte, dass es keine Maßnahmen gegen Manjuls Account ergriffen habe: Das Unternehmen sei überzeugt, 'die Stimme unserer Nutzer zu verteidigen und zu respektieren'."

Pressefreiheit, Internet und die so unbeliebten sozialen Medien - das hängt irgendwie zusammen. Gestern erhielt die nigerianische Journalistin Tobore Ovuorie einen Preis der Deutschen Welle für ihre Verdienste um die Pressefreiheit. Bei ihrer Rede kritisierte die Preisträgerin laut DW "auch die unlängst verhängte Twitter-Sperre in Nigeria. 'Ich nutze diese Gelegenheit, um die verschiedenen Regierungen der Welt aufzufordern, auf die nigerianische Regierung einzuwirken, das Twitter-Verbot zu beenden. Demokratie sollte vom Volk und für das Volk sein - und nichts weniger', sagte sie." Ovuorie erläutert im Gespräch auch die wirtschaftliche Bedeutung, die Twitter in Nigeria hat: "Es sind nicht nur Journalisten, die die Auswirkungen dieses Verbots spüren werden. Ich weiß von jungen Nigerianern, die lange keinen Job finden konnten. Also haben sie kleine Unternehmen gegründet. Ich war sogar schon Kunde bei einigen dieser jungen Menschen. Ich gehe auf Twitter und sehe dort ihre Produkte und Angebot. Wenn mir etwas gefällt, gehe ich einfach auf die Webseite, bestelle etwas und bekomme es geliefert."
Archiv: Internet

Gesellschaft

Im Interview mit Zeit online versichert die Klimaökonomin Christina Roolfs, dass ein erhöhter CO2-Preis Haushalte mit geringem Einkommen nicht belasten wird. Sie rechnet vor: "Im Alltag zahlen die Menschen bei einem höheren CO2-Preis einen höheren Preis beim Heizen oder an der Zapfsäule, abhängig vom individuellen Verbrauch. Bei einem CO2-Preis von 50 Euro würden die einkommensschwächsten 20 Prozent der Haushalte im Durchschnitt mit 120 Euro im Jahr belastet und die einkommensstärksten 20 Prozent mit 350 Euro im Jahr. In der Rückerstattung bekommt jede Person rund 125 Euro pro Jahr. Die ärmsten 20 Prozent der Haushalte würden bei einem solchen Modell im Durchschnitt um gut 100 Euro pro Jahr entlastet werden."

In der NZZ warnt Josef Joffe vor einer "woken" oder politisch korrekten Sprache, die den Spielraum fürs Denken einschränkt. Gerade sie kann helfen, Ungerechtigkeiten zu verfestigen: "Im umzäunten Taburaum der Sprache verkommt nicht nur die Rede- und Meinungsfreiheit, sondern auch die soziale Gerechtigkeit. Die wird seit Jahrhunderten im nimmer endenden Disput errungen. Wie sonst hätten denn Frauen das Wahlrecht, Amerikas Schwarze die Gleichstellung - ohne Pamphlete, Proteste und Demonstrationen - errungen? Sie haben Freiheit und Gleichheit gegen die verordneten angeblichen Wahrheiten erkämpft."

Die meisten antisemitischen Straftaten werden in Polizeistatistiken bisher dem Rechtsextremismus zugeordnet - auch wenn die Täter unbekannt sind. Diese Polizeistatistik ist häufig kritisiert worden und soll nun vielleicht durch die neue Kategorie "nicht zuzuordnen" ergänzt werden, berichtet Frederik Schindler in der Welt. Die bisherige Statistik widerspricht einer Umfrage, die im Auftrag des Bundestags bei der jüdischen Bevölkerung durchgeführt wurde, so Schindler: "Nach antisemitischen Erfahrungen gefragt, gingen nach Einschätzung der befragten Juden 62 Prozent der Beleidigungen und 81 Prozent der körperlichen Angriffe von Muslimen aus. Zwar war die Datenbasis relativ klein, aber eine Tendenz lässt sich durchaus ablesen. Und die Diskrepanz zu den Zahlen der Statistik des Bundeskriminalamts ist so gravierend, dass zumindest geschlossen werden kann, dass die Perspektive der Betroffenen dort nicht ausreichend abgebildet wird."
Archiv: Gesellschaft

Wissenschaft

Wer planbaren Berufsweg, Festanstellung und Eigenheim wünscht, sollte keine Karriere als Akademiker anstreben, bescheidet in der SZ Marlene Knobloch jungen Menschen, die unter dem Hashtag  "#ichbinhanna" gerade an ihrer prekären Situation als wissenschaftliche Mitarbeiter in befristeten Stellen verzweifeln. Gewiss, das System hat auch seine ausbeuterischen Seiten, aber die Karriere als Wissenschaftler war schon immer eine höchst unsichere Angelegenheit. Und nicht nur dort: "Künstler networken von Ausstellung zu Ausstellung, Verlagen ging es schon mal besser, Schriftsteller, in den Feuilletons gefeiert, mit prekärem Einkommen, ziehen freiwillig monatelang nach Rottweil, um dort als Stadtschreiber zu arbeiten. Liest man die Bitterkeit der jungen Akademiker, scheint ein befristeter Arbeitsvertrag mit Mitte 30 ein Zeugnis des Scheiterns zu sein, des Nicht-geschafft-Habens. Aber seit wann müssen wir mit 35 das Karriereziel erreicht haben? Was soll dieser Wohlstandsdruck?"
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Ideen

An französischen Universitäten ist die Stimmung vor allem in den Geisteswissenschaften offenbar noch um einiges hysterischer als hierzulande, berichtet Jürg Altwegg in der FAZ. In Grenoble mussten neulich zwei Wissenschaftler wegen kritischer Äußerungen unter Schutz gestellt werden (unsere Resümees). Beide Seiten, die modische Linke und die Säkularen kämpfen mit harten Bandagen - physische Bedrohungen haben allerdings meist mit islamistischem Kontext zu tun: "Mit der 'Dekadenz' der Universitäten in Amerika befasst sich Arnaud Lafferière im Sommerheft der Zeitschrift Commentaire. Schwerpunkt des Heftes: 'Islamophobie et Islamogauchisme'. Nathalie Heinich beschreibt Exzesse des Feminismus, der Philosoph Philippe Raynaud analysiert den 'Islam-Gauchismus'. Er ist der neue Herausgeber der von Raymond Aron begründeten Zeitschrift. Raynaud erinnert an die Hegemonie des Marxismus und das linke Engagement der Studenten in den sechziger Jahren. Doch damals habe es 'relativ stabile akademische Institutionen' gegeben."

Unermüdlich arbeitet das Historiker-Blog New Fascism Syllabus weiter an der Durchsetzung von A. Dirk Moses' "Neuem Katechismus". Heute schreibt Kate Davison vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung: Die "Mbembe-Affäre ist, wie schon andere vor gesagt  haben, nur die jüngste dieser Affären, aber allein die Tatsache, dass sie eine so große Aufmerksamkeit erregte, ist meiner Ansicht nach ein Zeichen für ein stärkeres Tauwetter tief im Permafrost des 'Deutschen Katechismus'. Die vorhersagbare künstliche Empörung ('pearl-clutching') als Reaktion auf Moses' doch eher milde wissenschaftliche Provokation, ganz zu schweigen auf die Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer, erscheint mir eher trostlos als abschreckend, manchmal grenzt es an einen intellektuellen Sturm in einer Meißner Teetasse, der wenig mehr als schwachen schwarzen Tee über das neueste Feuilleton zu verschütten droht."

Außerdem: In einer beim Merkur veröffentlichten Petition nehmen einige Autoren Carolin Emcke gegen den Vorwurf des Antisemitismus in Schutz. Sie hatte beim Parteitag der Grünen vor Verschwörungstheorien gegen Juden und Klimaforscher gewarnt (unser Resümee).
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Geschichte

Ulrich Herbert hat zusammen mit Susanne Heim und Götz Aly die monumentale Quellensammlung zur "Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945" herausgegeben, die nun nach 16 Bänden abgeschlossen sind (aus drei davon haben die Herausgeber Vorabdrucke im Perlentaucher gebracht, hier, hier und hier). In der taz spricht Herbert mit Stefan Reinecke über die Edition. Auf die Frage, ob es noch weiße Flecken auf der Forschungslandkarte der Judenvernichtung gebe, antwortet er: "Ja. Vor allem in Südosteuropa, in Griechenland, Rumänien, in der Ukraine. In den letzten Jahren wird der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Interessen und Vernichtungspolitik verstärkt diskutiert und erforscht - in Deutschland und in den einst besetzten Ländern. Der Holocaust war auch und vielfach sogar in erster Linie ein systematischer, staatlich organisierter Raubmord."

Susanne Gaschke unterhält sich in der Welt mit dem Hohenzollernprinz Georg Friedrich, der die Rolle seiner Familie fürs Zustandekommen des Naziregimes nicht völlig herunterspielt: "Ich selbst habe mehrfach betont, dass die Jahre von 1930 bis 1935 in politischer und moralischer Sicht der Tiefpunkt unserer fast tausendjährigen Familiengeschichte waren." Aber das Kaiserreich sei doch auch eine gute Sache gewesen, sagt er dann im Hedwig-Richter-Sound und schafft es glatt seinen Vorfahren ein Verdienst an der Entstehung der Sozialdemokratie zuzurechnen, weil es ja "auch positive Entwicklungen gab, zum Beispiel unabhängige und erfolgreiche Wissenschaften. Eine fortschrittliche Sozialpolitik, die zwar ursprünglich den Sozialdemokraten das Wasser abgraben sollte, sie aber unter dem Strich stark machte."
Archiv: Geschichte