9punkt - Die Debattenrundschau

Doch die größte Gruppe fehlt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.06.2021. Die Welt freut sich trotz allem über die Regionalwahlen in Frankreich:: "Die Ränder schrumpfen wieder, die Mitte wächst." Bei Persuasion verteidigt der Politologe Jonathan Rauch die Wahrheit, auch gegen alle, die behaupten, ihre Identität entscheide. Die SZ berichtet über die Autorin Kathrin Schmidt, die sich den Coronaskeptikern angeschlossen hat und trotzdem Stadtschreiberin in Dresden ist. Götz Aly verabschiedet sich mit einer letzten Kolumne von den Lesern der Berliner Zeitung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.06.2021 finden Sie hier

Europa

Natürlich ist es bedenklich, wenn zwei Drittel der Franzosen die Regionalwahlen ignoriert haben. Aber man sollte das nicht überschätzen, meint Martina Meister in der Welt. Denn erstens sind diese Wahlen verhältnismäßig neu und ihre Bedeutung vielen Wählern unklar. Und zweites zeige sich: "Die Ränder schrumpfen wieder, die Mitte wächst", wie man am schlechten Abschneiden von Marine Le Pens Rassemblement National sehen könne. Auch die Linke habe gerade mal "ihren Gang ins Nichts" stoppen können. "Die konventionellen Konservativen der Partei der 'Republikaner', Les Républicains, feiern sich als Wahlsieger, mögen ihre Ergebnisse auch noch weit hinter alten Erfolgen zurückbleiben. Sie haben 38 Prozent der Stimmen im ganzen Land erzielt, sieben Regionen verteidigt, und vor allem haben sie vermutlich etwas für die Zukunft gelernt: Ihre Kandidaten sind dann erfolgreich, wenn sie die Themen Le Pens nicht scheuen, sondern offensiv besetzen." Und selbst Macron sendeten die Wahlen, trotz des schlechten Abschneides seiner Partei, eine positive Botschaft: "Was immer sich während dieser Wahlen gezeigt hat - Wechselstimmung war es nicht."

Schon vor zwei Tagen hat der Grünen-Politiker Ralf Fücks auf Wladimir Putins Zeit-onlineText zum achtzigsten Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion geantwortet, ein Meisterstück politischer Manipulation, so Fücks: "Die Grundmelodie des Putin-Texts ist fein auf Deutschland abgestimmt. Sein Plädoyer für ein 'Europa von Lissabon bis Wladiwostok' zielt darauf ab, uns endlich von den USA abzukoppeln und die Westbindung gegen eine Allianz mit Moskau einzutauschen. Dafür gibt es in Deutschland seit jeher einen fruchtbaren Boden, von ganz links bis ganz rechts. Teile der deutschen Wirtschaft hängen noch immer an der Idee einer strategischen Allianz, in der Russland die Rohstoffe und Deutschland die Hochtechnologie liefert. Nord Stream 2 steht in dieser Tradition."
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Ideen

Anti-Vaxxers oder postmoderne Professoren haben ein Problem mit der Wahrheit. Der Politologe Jonathan Rauch hat das Buch zur Stunde über diese Problematik geschrieben: "The Constitution of Knowledge - A Defense of Truth" (bestellen). Wir müssen darauf bestehen, dass Wahrheit nur genannt werden kann, was einer Prüfung nach rationalen Kriterien standhält, legt Rauch in Yascha Mounks Blog Persuasion dar. Persönliche Standpunkte und Gefühle sind zum Beispiel kein Garant für Wahrheit: "Aussagen über persönliche Stellung und Interessen beeinflussen das Gespräch, aber sie kontrollieren, entscheiden oder beenden es nicht. Die Regel akzeptiert bis zu einem gewissen Grad, dass die sozialen Positionen und die Geschichte von Menschen eine Rolle spielen. Aber sie fordert ihre Anhänger auf, sich nicht in ihre sozialen Identitäten zu vergraben und sie nicht als rhetorische Trümpfe auszuspielen, sondern sie in das größere Projekt der Wissensbildung einzubringen und sie dadurch zu transzendieren."
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Gesellschaft

Die Öffentlichkeit rätselt noch, ob der Attentäter von Würzburg, der drei Frauen mit Messerstichen umgebracht hat, ein islamistisches Motiv hatte. Aber ein Motiv ist klar und seltsamerweise kaum benannt, konstatiert Emma in einem nicht gezeichneten Kommentar: "Beim Motiv 'Frauenhass' .. existiert offenbar immer noch ein blinder Fleck. Und das ist kein Zufall. Bei allen Gesetzen, die den Hass auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ahnden sollen, fehlen sie, die Frauen. Egal, ob bei der 'Volksverhetzung' oder bei den 'Hassverbrechen'. Oder auch jetzt wieder beim Gesetz gegen 'verhetzende Beleidigung', das der Bundestag in der vergangenen Woche verabschiedete. Nationale oder ethnische Herkunft, Religion, Behinderung, sexuelle Orientierung - alle diese Gruppen sind als schützenswert im Gesetz aufgeführt. Doch die größte Gruppe fehlt: die Frauen."

Die renommierte Autorin Kathrin Schmidt (Buchpreis 2009 für "Du stirbst nicht") ist der Partei "Die Basis" beigetreten und vertritt Gaga-Positionen zu Corona, berichten Cornelius Pollmer und Marie Schmidt in der SZ. In einem Essay zur Frage, ob Kinder gegen Corona geimpft werden sollen, "stellt sie eine Assoziation zu Experimenten an Menschen in der NS-Medizin her . ...'Es liegt mir fern, das heutige Impfgeschehen mit den NS-Menschenversuchen gleichzusetzen', heißt es weiter, doch die argumentative Struktur des Essays widerlegt seine Autorin." Vorher war Schmidt zur Stadtschreiberin von Dresden ernannt worden, weshalb sich die SZ-Autoren jetzt die Frage stellen, ob "eine Autorin, die einem durch keine Vernunft mehr einzuholenden Teil des Meinungssprektrums zuneigt, in einem solchen Renommier-Posten erträglich" ist? Muss man aushalten, meinen die beiden am Ende, zum Glück gibt es in Dresden ja auch die Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch von der Linkspartei, die sagt, "die Empörungswelle, die dort vor Schmidts Antrittslesung ausbrach, habe sie animiert, diese Lesung erst recht zu besuchen und dort auch eine Rede zu halten."

Die Delta-Variante zeigt, dass die Coronakrise keineswegs zu Ende ist. Sie grassiert besonders in Großbritannien, wo sich auch doppelt Geimpfte anstecken (allerdings keine schweren Symptome entwickeln). Und gleichzeitig werden heute zum Klassiker Deutschland-England 60.000 Fans ins Wembley-Stadion gelassen, notiert Michael Hanfeld in der FAZ: "Es ist nicht nur suboptimal, was die Uefa da treibt, es ist verantwortungslos und gefährlich, man darf sagen, verbrecherisch. Während für den Herbst mögliche Schulschließungen zur Debatte stehen, lässt der Uefa-Chef Aleksander Čeferin 2.500 Fußballbonzen ins Wembley-Stadion einfliegen und fordert die britische Regierung auf, dass die VIPs auf Quarantäne-Vorschriften pfeifen dürfen."
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Medien

Götz Aly verabschiedet sich von den Lesern der Berliner Zeitung, für die er jahrelang eine Kolumne schrieb - zuletzt protestierte er gegen die Umbenennung der Mohrenstraße. Zum Abschluss schlägt er nochmal die Brücke von West nach Ost: "Als Süddeutscher war ich 1968 nach Westberlin geflohen. Dort, im Schatten der Mauer, genossen wir Achtundsechziger parasitäre Freiheiten - auf Kosten westdeutscher Steuerzahler und vor allem auf Kosten jener, die hinter der Mauer saßen. 1986 stand ich mit meinem aus Olbernhau stammenden Freund Klaus Hartung (1940-2020) am Potsdamer Platz und fragte ihn zweifelnd: 'Meinst du, wir erleben es noch, dass diese Mauer fällt.' Er: 'Gut möglich, und, lieber Götz, es wird die spannendste Zeit in unserem Leben werden.' Klaus hatte Recht, und so kam ich zur Berliner Zeitung."
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Internet

Immer öfter werden Computer von Behörden oder öffentlichen Einrichtungen und Unternehmen gehackt, verschlüsselt und dann nur gegen Zahlung eines Lösegelds wieder freigegeben, berichtet Kai Biermann auf Zeit online. Das betrifft auch Polizei, Krankenhäuser oder Bürgerämter. Dennoch "gibt es in Deutschland keine gemeinsame Strategie, um etwas dagegen zu unternehmen. Dabei hat das Bundeskriminalamt Ransomware in seinem Bundeslagebild Cybercrime 2020 als 'die Bedrohung für öffentliche Einrichtungen und Wirtschaftsunternehmen' beschrieben und das 'die' in dem Satz unterstrichen. Doch es gibt, wie die Antworten der Bundesländer zeigen, nicht einmal den Versuch, sich einen Eindruck über die Größe des Problems zu verschaffen. Im Bereich Cybercrime bestehe für Betroffene keine Meldepflicht gegenüber staatlichen Stellen, das gelte auch für Ransomware, antwortet das Bundesinnenministerium auf entsprechende Fragen. Daher existiere keine solche Statistik auf Bundesebene." Vor allem die Kommunen fühlen sich allein gelassen mit dem Problem.
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Stichwörter: Ransomware, Erpressung, Kommune