9punkt - Die Debattenrundschau

Dosenbier trinken und SUV fahren

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.07.2021. In Atlantic schöpft Yasha Mounk wieder Hoffnung für die liberalen Demokratien: Je länger Populisten regieren, umso weniger kann man von ihnen halten. In der Welt blickt Sergej Lebedew in die Schattenwelt, die mit den politischen Morden in Russland entsteht. Nach der Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moise fragt Le Monde, warum niemand die sich ankündigende Tragödie aufhielt. Die SZ blickt auf die marode Salzbachtalbrücke, deren Sperrung den Verkehr in und um Wiesbaden lahmlegt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.07.2021 finden Sie hier

Ideen

Im Atlantic schöpft Yasha Mounk wieder Hoffnung für die liberale Demokratien. Die Populisten von Donald Trump über Jair Bolsonaro, Andrés Manuel López Obrador bis zu Narendra Modi und sogar Victor Orban haben sich entzaubert, glaubt Mounk: "Zu Beginn des populistischen Aufstiegs konnte eine neue politische Garde große Versprechungen machen, denn ihnen fehlte eine Bilanz, an der man sie hätte messen können. Aber nach dem Erringen der Macht, haben sie kaum etwas einhalten können und verpfuschten den Umgang mit der Jahrhundert-Pandemie. Das hat die Wähler enttäuscht. Obwohl Populisten in der Regel eine glühende Anhängerschaft behalten, scheint ihre Fähigkeit, die Unterstützung einer Wählerschaft aufzubauen, in vielen Ländern rapide zu schwinden. Die Fähigkeit der etablierten Parteien, mit Populisten zu konkurrieren, hat sich ebenfalls verbessert. Oftmals hatten die traditionellen Parteien nicht erkannt, wie wütend ihre Wähler geworden waren und wie wenig ihre Politik noch den Präferenzen der Mehrheit entsprach. Einige haben inzwischen ihren Kurs korrigiert und gezeigt, dass sie Populisten an der Wahlurne schlagen können, wenn sie sich standhaft gegen Extremismus stellen und den Groll ihrer Wähler ernst nehmen."

Im Welt-Interview mit Andrea Seibel spricht der russische Autor Sergej Lebedew über seinen Thriller "Das perfekte Gift" und den politischen Mord in Russland: "Die ganze Geschichte des neuen Russland kann als eine des politischen Mordes betrachtet werden. Oppositionelle wie Galina Starowojtowa oder Boris Nemzow, die Journalistin Anna Politkowskaja, der Whistleblower Alexander Litwinenko, alle wurden brutal hingerichtet. Zwar beherrschte schon die Sowjetunion die heimliche Eliminierung, doch zog man Schauprozesse vor. Nun hat sich das Bild geändert: Der 'offizielle' Staat behauptet, nichts mit diesen Verbrechen zu tun zu haben - und sendet gleichzeitig eindeutige Signale, dass er hinter allem steht. Das bedroht die öffentliche Moral ungemein, denn so entsteht eine Schattenwelt, wo es keine Regeln, keine Verantwortung gibt und die Gefahr überall lauert. Die Vergiftung ist die ekelhafteste Art des politischen Mordes. Diese Fälle sind am schwersten zu beweisen. Es bleibt viel Platz für Gerüchte und für die Armee von Trollen, die sich auch noch über die Opfer lustig machen."

Die Schriftstellerin Elena Chizhova erinnert in der NZZ allerdings daran, dass die Bolschewiki schon die Zarenfamilie im Halbdunkel der politischen Lüge umbringen ließen: "Dieses Verbrechen der Bolschewiki - ein symbolisches, aber keineswegs das schlimmste Verbrechen des Sowjetregimes - wurde von Anfang an verbrämt mit eklatanten Lügen, die zu zahlreichen Gerüchten, plausiblen wie unglaubwürdigen, Anlass gaben. In den folgenden Jahrzehnten verflochten sich Fakten und Spekulationen zu einem unauflösbaren Knoten. Ohne die Tatsache der Hinrichtung an sich zu leugnen, führte die sowjetische Propaganda eine Reihe von Begründungen ins Feld, die diesen brutalen Mord als politisch gerechtfertigt erscheinen lassen sollten."
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Politik

Nach der Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moise ruft die Regierung in Port-au-Prince nach amerikanischen Truppen. Ausgerechnet, findet Le Monde: "Die neue Tragödie in Port-au-Prince zwingt die internationale Gemeinschaft und besonders die USA als größtem Geldgeber, sich einige ernsthafte Fragen zu stellen. Hunderte von Millionen Dollar, die seit Jahrzehnten ausgegeben werden, um das Land und seine Demokratie zu stabilisieren, haben nichts gebracht oder fast nichts. Haiti muss geholfen werden, aber wieder einmal ist der Moment gekommen, sich zu fragen, auf welche Weise."

Der frühere französische Botschafter auf Haiti, Didier Le Bret, sieht in Le Monde mehr noch Paris in der Pflicht: "Frankreich ist in den vergangenen Jahren seltsam still geworden. Indem es sich neben Washington stellte, das nicht aufhörte, ein ins Autoritäre abdriftende Regime zu konsolidieren, dem der Atem, die Ideen und die Legitimität längst ausgegangen war, hat unser Land den Eindruck vermittelt, seiner einstigen Kolonie wieder einmal den Rücken zuzukehren und das einzige frankophone Land in Amerika seinem Schicksal zu überlassen - taub für die Hilfsrufe der Opposition, der Verteidiger der Menschenrechte, der Intellektuellen und Schriftsteller, die uns unaufhörlich vor der sich ankündigenden Tragödie gewarnt haben."
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Gesellschaft

"Nichts freut die Gaffer mehr als die Massenkarambolage", weiß Stefan Kornelius in der SZ, um dann aber doch noch mal Annalena Baerbock um die Ohren zu hauen, wie einfallslos ihr Buch "Jetzt" im Grunde sei: "Wie kann eine Politikerin, die Bundeskanzlerin werden will und aus einem schier unerschöpflichen Sympathiereservoir schöpft, ein derart klägliches Bewerbungsschreiben abgeben?" Moritz Baumstieger trifft ebenfalls in der SZ den Plagiatsjäger Stefan Weber.

In der taz stört sich Stefan Reinecke dagegen an dem alles überlagernden Konsens-Denken der Grünen, an der Anpassung an die Mitte, die keinen Konflikt mehr kennt: "Die neue grüne Botschaft lautet: Wir sind die Mitte, unaggressiv und freundlich. Wir sind individualistisch, aber nicht zu sehr, anders, aber nur ein bisschen. Das zwischen Biedermeier und Sperrmüll-Ästhetik oszillierende Wohnzimmer mit oranger Couch, das den digitalen Parteitag möblierte, bebilderte dieses Konzept. Die zweite Botschaft lautet: Wir tun das Nötige, aber es wird nicht wehtun. Man kann die Welt retten, darf aber trotzdem Dosenbier trinken und SUV fahren, bei Tempo 130 natürlich. Volkspädagogik und Elitenkritik sind vorbei."
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Europa

Läuft in diesem Land eigentlich noch was, fragt sich SZ-Autor Nils Minkmar etwas fassungslos im Wiesbadener Hauptbahnhof. Die Bahn ist wie praktisch der gesamte Verkehr nach Frankfurt lahmgelegt, nachdem die über den Schienen verlaufenene Salzbachtalbrücke wegen akuter Einsturzgefahr gesperrt werden musste: "Vor Kurzem noch wurde das Spezialfahrzeug auf die Brücke geschickt, ein Lkw voll hochfeiner Technik, der die Struktur der ganzen Konstruktion prüfen sollte. Nach Schichtende wurde der eine halbe Million Euro teure Laster auf der Salzbachtalbrücke geparkt, um am nächsten Werktag weiter zu prüfen. Doch dazu wird es nicht kommen. Das ganze Bauwerk ist so bröselig, dass der Laster nicht mehr bewegt werden darf. Die Gewichtsverlagerung könnte zu einem Einsturz führen. Der Lkw wird nun mit der Brücke gesprengt werden. Wann? Weiß kein Mensch."
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