9punkt - Die Debattenrundschau

Im Wasser treibend

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.07.2021. Der Klimawandel richtet Verwüstungen an. Der New-York-Times-Kolumnist Ezra Klein fragt: Warum macht die Menschheit nicht Weltrevolution? Der kubanische Regimekritiker Michel Matos erklärt in der taz, warum die Unruhen in Kuba zu Bürgerkrieg führen könnte. taz und SZ fragen, ob der jüngste Streit zwischen der EU und Polen nicht zum "Polexit" führen muss. In der Welt warnt Susanne Schröter vor der Zusammenarbeit mit islamistischen Organisationen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.07.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

In Deutschland sind über achtzig Menschen bei einer Unwetterkatastrophe umgekommen, die allgemein mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht wird. Die Meldung ist auch in der New York Times oder im Guardian ziemlich weit oben (hier und hier). Ezra Klein träumt in der New York Times von der Revolution: "Ich habe das Wochenende mit der Lektüre eines Buches verbracht, mit dem ich mich in der Öffentlichkeit nicht ganz wohl gefühlt habe. Andreas Malms 'How to Blow Up a Pipeline' ist nur leicht unpassend benannt." Und er zitiert aus Malms Buch: "'Hier ist, was diese Bewegung der Millionen tun sollte, um erstmal anzufangen', schreibt Malm. 'Verbote verkünden und durchsetzen. Neue CO2-emittierende Maschinen beschädigen und zerstören. Setzen Sie sie außer Betrieb, nehmen Sie sie auseinander, demolieren Sie sie, verbrennen Sie sie, sprengen Sie sie. Lassen Sie die Kapitalisten, die weiter in das Feuer investieren, wissen, dass ihre Grundstücke vernichtet werden.'"

Gestern hat die Polizei Räume des Peng-Kollektivs, einer sich als künstlerisch verstehenden Aktionsgruppe, durchsucht, berichtet Markus Reuter bei Netzpolitik: "Die Durchsuchung gegen die Aktionskünstler:innen steht im Zusammenhang mit der Webseite TearThisDown.com, die Peng gemeinsam mit der 'Initiative Schwarze Menschen' in Deutschland veröffentlicht hat. Die Webseite zeigt eine Karte von Orten, an denen der Kolonialismus weiterlebt - und ruft zu Aktionen gegen diese auf. Einer der Anlässe war wohl dieser Text auf der Website: 'Wer wird da eigentlich wofür geehrt? Verbrecher für Verbrechen, das geht nicht! Kopf ab, Runter vom Sockel, Farbe drauf, Schild drüber - die Möglichkeiten sind vielfältig. Aber markieren reicht nicht, wir suchen andere Formen. Vieles kann ein Denkmal sein und im Zweifelsfall macht es sich im Wasser treibend auch ganz gut.'"

Der Publizist Reinhard Mohr fragt sich in der NZZ, ob es nach den Wahlen in Deutschland wieder eine offene, kontroverse, aber nicht von "Tugendfuror" geprägte Debatte geben kann: "Ja, es könnte so einfach sein. Wenn man nur wollte. Wenn man die eingeübten Reflexe, links wie rechts, endlich ablegen könnte. Wenn der allgegenwärtige strukturelle Moralismus nicht mehr als Ersatzreligion, als Lückenbüßer für Selbstbewusstsein und Staatsräson gebraucht würde, obwohl er mit nationalistischem Größenwahn mehr gemeinsam hat, als einem lieb sein kann."
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Politik

Der kubanische Dokumentarfilmer und Regimekritiker Michel Matos glaubt im Gespräch mit Knut Henkel von der taz, dass sich die Proteste in Kuba - die größten seit der Revolution - zu einem Bürgerkrieg ausweiten könnten. Die Führung um Präsident Miguel Diaz-Canel hält er nicht für reformfähig: "Die kubanische Regierung, die noch vor wenigen Wochen die sozialen Proteste in Kolumbien und Chile begrüßt hat, behauptet, dass die gleichen Proteste im eigenen Land von den USA gesteuert würden, und diffamiert die Protestierenden als Verbrecher. Diese Ignoranz wird in Kubas Geschichte eingehen. Fortan gibt es ein Vorher und ein Nachher - der 11. Juli ist eine historische Zäsur. Auf der einen Seite hat die Bevölkerung ihre Angst verloren, auf der anderen Seite zeigt die revolutionäre Regierung ihr zynisches und brutales Gesicht."

Jenseits politischer Ideologien beobachtet der Schweizer Politologe Enzo Nussio in den Ländern Lateinamerikas vor allem eine strukturelle Ähnlichkeit: die Bürger lieben ihre Länder, aber nicht ihre Staaten, schreibt er in der NZZ: "Der Graben zwischen Staat und Gesellschaft besteht schon lange, nicht zuletzt wegen frappanter Ungleichheiten, ausufernder Korruption und des schweren Erbes der Kolonialgeschichte. Eine sichtbare Folge davon ist die Privatisierung zentraler Güter, die der Staat allen zur Verfügung stellen sollte. Wer es sich leisten kann, benutzt private Kliniken und engagiert private Sicherheitsdienste."
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Europa

Der EuGH hat gestern ein vernichtendes Urteil über die polnische Justizreform, besonders die zur Gleichschaltung dienende Disziplinarkammer gefällt (Hintergrund). Noch aber hat die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen Polen kaum sanktioniert, kommentiert Gabriele Lesser in der taz: "Die polnischen Nationalpopulisten forcieren seit Jahren den Rechtsstreit mit der EU, markieren im eigenen Land den starken Max und nehmen die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen schlicht nicht ernst. Bislang hat die Kommission ja auch nie von ihrem Recht Gebrauch gemacht, mit Finanzstrafen die Einhaltungen des EU-Rechts in Polen durchzusetzen."

Der Konflikt führt letztlich Richtung "Polexit", kommentiert Florian Hassel in der SZ: "Eine Frage ist, ob Warschau diesen Weg in den nächsten Monaten und Jahren zu Ende gehen will - eine andere, wie die EU auf diesen beispiellosen Tabubruch reagiert, der an ihren Grundlagen rüttelt."

Glauben Sie nicht, dass die Kreuzfahrtschiffe nun nicht mehr in die Lagune von Venedig einfahren dürfen, ruft die Krimiautorin Petra Reski, die in Venedig lebt, in der FAZ: "Richtig ist, dass die italienische Regierung keineswegs ein Einfahrverbot für die Kreuzfahrtschiffe in die Lagune verhängt hat, sie sollen lediglich einen anderen Weg nehmen, über den Kanal für Erdöltanker einfahren und im Industriehafen von Marghera anlegen. Das ist eine kleine kosmetische Veränderung, die an der Zerstörung der Lagune nichts ändert - aber der italienischen Regierung hilft, ihr Gesicht gegenüber der Unesco zu wahren. Denn die hat damit gedroht - übrigens nicht zum ersten Mal -, Venedig auf die rote Liste des bedrohten Weltkulturerbes zu setzen, ranggleich mit vom Krieg zerstörten Städten wie Damaskus und Timbuktu."

Susanne Schröter, Leiterin des Forschungszentrums "Globaler Islam", spricht im Interview mit der Welt über ihr neues Buch "Allahs Karawane", das die Ablösung synkretistischer Formen des Islam durch die von den Saudis und der Türkei mit viel Geld geförderte rigide Islamform beschreibt. In Europa gibt es jedoch immer noch viel mehr liberale Muslime, als die islamischen Verbände glauben machen, ist sie überzeugt: "Man sollte von Seiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht nur mit den großen Verbänden kooperieren, die einen rigiden Islam vertreten. Man müsste die Breite der Muslime besser sichtbar machen. Dann würde auch die allgemeine Islamfeindlichkeit zurückgehen. Davon bin ich überzeugt. Man sollte die Bevölkerung aufklären, was Islam alles sein kann - eben nicht nur Scharia-orientiertes Hardlinertum, sondern auch Spiritualität und Barmherzigkeit und vieles mehr. Ich glaube, eine differenziertere Wahrnehmung des Islam könnte viel bewirken. Solange die Politik aber festhält an ihrer Kooperation mit der DITIB, mit Milli Görus oder den Vertretungen der Mullahs, muss man sich nicht wundern, wenn das Islambild in Deutschland negativ bleibt.

Außerdem: Die SZ bringt wieder eine der zornigen, aber irgendwie unkonzentrierten Suadas von A. L. Kennedy über britische Zustände: "Johnsons England ist besessen von Reinheit, Paranoia, magischem Denken und narzisstischer Gier."
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