9punkt - Die Debattenrundschau

Das nächste Nachher

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.07.2021. Jetzt ist das Humboldt Forum also eröffnet. taz und FAZ führen keine Freudentänze auf. Als Wissenschaftler kann man nur depressiv werden, wenn man sieht, wie Klimawarnungen in den Wind geschlagen werden, meint der Autor Toralf Staud in der SZ. Die Enthüllungen über die "Pegasus"-Spyware gehen weiter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.07.2021 finden Sie hier

Kulturpolitik

Das Humboldt Forum ist eröffnet. Richtig glücklich ist taz-Redakteur Ulrich Gutmair mit der Schlossattrappe nicht, aber den postkolonialen Initiativen, die schon wieder einen Abriss fordern, mag er sich nicht anschließen: "Der Zorn ist verständlich, die Forderung selbst aber führt in die Irre. Die Barockfassade Schlüters entstand lange vor der Ära des Imperialismus. Dessen Repräsentanz steht schräg gegenüber: Der protzige Berliner Dom ist das monumentale Zeugnis des Wilhelminismus und also des deutschen Imperialismus." Susanne Messmer informiert im Eröffnungsbericht der taz: "Wen es dieser Tage als Besucher*in ins Humboldt Forum verschlägt, der wird von den sogenannten außereuropäischen Sammlungen dieser Museen erst einmal nicht viel zu sehen bekommen. Die derzeit so umstrittenen Objekte des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst, die zusammen ein Drittel der riesigen Nutzfläche bespielen werden, sollen erst ab dem 22. September präsentiert werden."

Andreas Kilb führt in der FAZ auch keinen Freudentanz auf: "Im Fall des Humboldt Forums ist die Ernüchterung fundamental. Sie betrifft nicht nur den lieblosen, ebenso protzigen wie piefigen Innenausbau der Schlossreplik." Sehr kritisch betrachtet Kilb die Ausstellung "Berlin global", die mit einem Kolonial-Fresko des spanischen Künstlerduo How and Nosm eröffnet: "Der Gipfel der Allesvermischung ist ein Objekt-Ensemble im Bereich 'Grenzen', in dem ein Mauerstück, eine Halszwinge, mit der Deserteure der preußischen Armee gequält wurden, ein Stück 'Judensilber' aus den Beschlagnahmungen nach 1938 und eine Kamerun-Landkarte von 1911 zusammenkommen. Hier wiederholt sich das postkoloniale Deutungsmuster des Foyer-Bilds, denn die Aufteilung Afrikas und die Massenvernichtung der Juden erscheinen als zwei Seiten einer Medaille."

Ebenfalls in der FAZ protestiert Patrick Bahners nochmal gegen den von der Staatsanwaltschaft abgesegneten Beschluss des Düsseldorfer Stadtrats, Franz Marcs Gemälde "Füchse" aus dem Museum Kunstpalast den Erben von Kurt Grawi zu übereignen, der das Bild 1940 in New York hatte verkaufen lassen.
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Europa

Der niederländische Reporter Peter R. de Vries ist vor einigen Tagen seinen Verletzungen erlegen. Er war im Kontext eines Drogenprozesses, wo er einen Kronzeugen beriet, angeschossen worden. Die Trauerfeier wird groß sein, berichtet Jeff Renisher in der taz. Das Land wird sich erst des Ausmaßes bewusst, in dem es vom Drogenbusiness unterminiert ist: "Es mag an der starken sozialen Zweiteilung der Niederlande liegen, der Kluft zwischen der urbanen Agglomeration im Westen und den anderen Provinzen, dass man bestimmte ländliche Entwicklungen im Zentrum lange wenig zur Kenntnis nahm. Auch auf dem Land dort entwickelt sich mehr und mehr Infrastruktur des internationalen Narkomarkts. Immer häufiger wurden in den letzten Jahren Drogenlabore in Scheunen und anderen leer stehenden Gebäuden gefunden. 2020 waren es 108, 20 Prozent mehr als im Vorjahr."

Die EU-Kommission geht gegen die Diskriminierung sexueller Minderheiten in Ungarn und Polen vor, berichtet Joscha Wölbert bei hpd.de: "Der ungarischen Regierung wird unter anderem vorgeworfen, dass Literatur sowie weitere Kulturgüter, welche nicht-rollenstereotype Geschlechterbilder zeigen, mit einem Warnhinweis versehen werden sollen. In Polen geht es um den Umgang der Regierung mit selbsternannten 'LGBT-freien Zonen': Immer mehr polnische Gebietskörperschaften, welche den deutschen Bundesländern ähneln, bezeichnen ihre Bezirke als "LGBT-ideologiefrei" und unterfüttern dies mit gesetzlichen Regelungen." Beide Fälle könnten vor den Europäischen Gerichtshof kommen, wenn die Länder nicht nachgeben.
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Überwachung

Die Enthüllungen über die "Pegasus"-Spyware des israelischen Unternehmens, die von vielen Staaten eingesetzt wird, gehen weiter. Markus Beckedahl bringt bei Netzpolitik eine reich verlinkte Übersicht über alle Informationen zum Skandal: "In den veröffentlichten Dokumenten ist der Einsatz der Schadsoftware in den elf Ländern Aserbaidschan, Bahrain, Ungarn, Indien, Kasachstan, Mexiko, Marokko, Ruanda, Saudi-Arabien, Togo und den Vereinigten Arabischen Emiraten nachgewiesen. Die NSO Group unterhält mit vielen anderen Ländern Geschäftsbeziehungen."

Auch auf dem Handy des ehemaligen französischen Umweltministers François de Rugy zeigen sich Spuren der Pegasus-Sypware, berichten Angelique Chrisafis und Stephanie Kirchgaessner im Guardian. "Die Details stehen in einer durchgesickerten Datenbank, die auch Handynummern für den französischen Präsidenten, Emmanuel Macron, und die Mehrheit seines 20-köpfigen Kabinetts, zusammen mit dem damaligen Premierminister Édouard Philippe, enthält. Ein Sprecher der NSO Group sagte, Macron und andere französische und belgische Regierungsbeamte auf der Liste 'sind keine Pegasus-Ziele und waren es nie. Es handelt sich nicht um eine Liste von Zielen oder potenziellen Zielen der Kunden von NSO', fügten sie hinzu. Nachforschungen des Pegasus-Projekts legen nahe, dass Marokko das Land war, das sich für Macron und sein hochrangiges Team interessiert haben könnte, was Befürchtungen aufkommen lässt, dass die Telefone von einem der engsten diplomatischen Verbündeten Frankreichs ausgewählt wurden. Ein Élysée-Beamter sagte: 'Wenn dies bewiesen werden kann, ist es eindeutig sehr ernst. Diese Medienenthüllungen werden alles Licht ins Dunkel bringen. Einige französische Opfer haben bereits angekündigt, dass sie Klage einreichen werden, so dass gerichtliche Untersuchungen eingeleitet werden.' Insgesamt tauchen in der Datenbank 14 amtierende Mitglieder der französischen Regierung auf."
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Wissenschaft

Einfach weitermachen wie vorher, aufbauen und die Böden wieder versiegeln, das geht eigentlich nicht nach den Überschwemmungen, lernt Gerhard Matzig, der für die SZ mit der Bauingenieurin Lamia Messari-Becker telefoniert hat: "Das Wissen um die Bodenbewirtschaftung verdampft - und Messari-Becker sagt: 'Es gibt kein kollektives Katastrophengedächtnis. Wir müssen baulich und räumlich auf Naturkatastrophen und den Klimawandel reagieren. Wir müssen lernen, uns anzupassen.' Stattdessen gibt es jetzt die Forderung, in den betroffenen Gebieten alles so schnell wie möglich 'wieder aufzubauen'. Damit es bald wieder so ist wie 'vorher'. Es ist exakt dieses Vorher, das uns das nächste Nachher beschreibt."

Als Wissenschaftler kann man nur depressiv werden, meint im Interview mit der SZ der Autor Toralf Staud, wenn man sieht, wie wenig die Warnungen vor den Folgen des Klimawandels ankommen: "Ich wundere mich beim Gang durch die Stadt jeden zweiten Tag darüber, dass wieder irgendein Gebäude mit riesigen Fensterflächen fertig wird. Das wird ja 2050 noch stehen, und da werden sich dann in jedem Sommer die Innenräume total aufheizen. Oder in Brandenburg, all die Häuser, die nahe am Rand der Kiefernwälder stehen, obwohl klar ist, dass es häufiger Waldbrände geben wird. Ich stolpere darüber, dass in Tiefgaragen Notstromaggregate stehen und in Wissenschaftsinstituten und Behörden die Serverräume im Keller liegen, obwohl völlig klar ist, dass da bei Hochwasser das Wasser reinlaufen wird und dann die Netze ausfallen."
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