9punkt - Die Debattenrundschau

Hierzulande erst mal abgeschaltet

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.07.2021. Asne Seierstad erzählt in der Welt, wie ein Polizist vor zehn Jahren Viljar Hanssens Hirn in den Schädel zurücksteckte und ein Tuch darum band. Hanssen war auf Utoya von Anders Breivik angeschossen worden.  "Antirassisten" wie A. Dirk Moses wollen nicht Rassismus bekämpfen, sondern Israel, schreibt Thomas E. Schmidt in der Zeit. Joe Biden hat Nord Stream 2 durchgewunken - und die Ukraine im Stich gelassen, fürchten die Medien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.07.2021 finden Sie hier

Europa

Meist wird bei Terror-Attentaten über die Toten gesprochen (falls die Öffentlichkeit überhaupt ein Interesse für sie aufbringt), viel seltener über die Überlebenden wie Viljar Hanssen, der vor zehn Jahren von Anders Breivik angeschossen wurde. Asne Seierstad, Autorin des Buchs "Einer von uns - Die Geschichte des Massenmörders Anders Breivik" erzählt in der Welt, wie der junge Hanssen in Utoya von ankommenden Polizisten aufgefunden wurde: "'Gerade hat er noch gesungen ...!', rief da ein junges Mädchen. Teile von Viljars Gehirn lagen offen, einiges davon außerhalb seines Schädels. Seine Augen waren eine einzige blutige Masse. Der Polizist fand einen Puls, legte das Gehirn des Jungen zurück in seinen gebrochenen Schädel und wickelte ein Tuch darum. Er bat einen Überlebenden, der von einem Boot gerettet worden war, Viljars Kopf in seinen Schoß zu legen und ihn 'am Leben zu halten'. Zehn Tage später erwachte der Siebzehnjährige aus dem Koma, ihm fehlten ein Auge, die Finger, die er sich im Kugelhagel vor das Gesicht gehalten hatte, Teile seiner Schulter und viele Freunde."

In der taz unterhält sich Barbara Oertel mit Laila Gustavsen, ehemalige Abgeordnete der norwegischen Arbeiterpartei, über das Attentat auf der Insel Utoya vor zehn Jahren, bei dem der Rechtsextremist Anders Breivik auch ihre Tochter Marte schwer verletzte. Ihrer Meinung nach ist das Attentat in Norwegen noch nicht wirklich aufgearbeitet worden: "Die knallharte Tatsache ist doch, dass Breivik einer von uns ist. Er ist Norweger, ein weißer Mann, der im Westen von Oslo aufgewachsen ist. Der letzte Terrorakt (der Anschlag erfolgte im August 2019, Anm. d. Red.), als ein Mann seine chinesischstämmige Adoptivschwester getötet hat und in einer Moschee Menschen erschießen wollte, folgte demselben Muster. Bis jetzt ist jeder Terroranschlag in Norwegen aus der rechten Ecke gekommen. Das muss immer betont werden. Wie übrigens auch der Umstand, dass Breiviks Ziel die Sozialdemokratische Partei war. Das ist in der Debatte der letzten zehn Jahre komplett untergegangen."

Die USA und Deutschland haben im Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2 durch die Ostsee einen Kompromiss gefunden, den Johanna Roth und Jurik Caspar Iser bei Zeit online erläutern. So soll das bisherige Transitland Ukraine weiterhin Transitgebühren bekommen. Außerdem sollen die Deutschen in der Ukraine in erneuerbare Energien investieren, was die Ukraine "enger an die EU binden und unabhängiger von Russland machen soll. Und drittens drohen sie Strafmaßnahmen an, sollte Russland sich gegenüber der Ukraine oder anderen Partnerländern gegenüber feindselig verhalten und die Pipeline so zur geopolitischen Waffe machen. Dabei werden sie allerdings nicht so deutlich, wie Kritiker des Projekts es sich wünschen."

Vor allem die Ankündigung möglicher Sanktionen, falls Russland nicht so nett zur Ukraine ist, lässt Richard Herzinger in seinem Blog bitter auflachen: "Kann man wirklich glauben, dass Berlin, das sich weder wegen der Vergiftung Nawalnys und der Ermordung eines tschetschenischen Oppositionellen im Berliner Tiergarten, noch wegen der Federführung des Kreml bei der Repression in Belarus oder der russischen Cyberkriegsoperationen gegen westliche Demokratien zu Sanktionen durchringen konnte, nunmehr mutig und entschlossen reagieren wird, sobald Putin sein Gas zu Erpressungmanövern nutzt?" Im Tagesspiegel kommentiert Juliane Schäuble ähnlich skeptisch.

Deutschland hat sich im Katastrophenschutz sträflich arrogant verhalten, weil es eine Technologie wie "Cell Broadcast" nicht nutzte, schreibt Sascha Lobo in seiner Spiegel-online-Kolumne. Cell Broadcast ermöglicht es, auf alle Handys innerhalb einer Funkzelle eine  Nachricht zu schicken. Die Technik funktioniert sogar bei überlasteten Handynetzen, muss nicht aktiv installiert werden und benötigt keine Smartphones. In vielen Ländern wird diese Technik zum Katstrophenschutz eingesetzt. Aber nicht hier: "Anfang des Jahrtausends wurde die Technologie hierzulande erst mal abgeschaltet. Weil sie zum Standardinstrumentarium des Mobilfunks weltweit gehört, wären die Funkmasten auch in Deutschland Cell-Broadcast-fähig. Aber hier setzte man statt auf Cell Broadcasts für Katastrophenfälle lieber auf Smartphone-Apps wie 'Nina' - obwohl die erstens ein Smartphone, zweitens die Installation und drittens durchaus eine gewisse Sachkunde voraussetzen."

"Soll so die Sprache unserer Gesetze aussehen?", fragt sich in der FAZ mit Grausen der Sprachwissenschaftler Horst-Haider Munske, nachdem er das gegenderte Wahlprogramm der Grünen gelesen hat: "Die Umpolung des Suffixes -in(nen) von einer Markierung des femininen Genus zu einer generischen (mit Genderstern) führt sofort zu Problemen, wenn eine Singularform auftaucht. So ist von der Wahl die/der nächst*en Präsident*in der EU-Kommission die Rede. Die Grünen gehen Singularformen aus dem Weg. Dieses Beispiel lässt ahnen, warum. In der Wirklichkeit des Sprachverkehrs sind Singularformen wie der Schüler, der Soldat, der Polizist unentbehrlich. Der Text des Wahlprogramms nährt den Verdacht, dass es diese Wörter künftig nicht mehr geben soll."

Unter der Überschrift "Eine nationale Schande" kritisiert Stefan Rebenich in der FAZ scharf den Umgang der deutschen Regierung mit den afghanischen Hilfskräften, die nach dem Abzug der Bundeswehrtruppen den Taliban ausgeliefert sind: "Mit Sonntagsreden ist diesen Menschen nicht mehr geholfen. Sie bedürfen zum einen des persönlichen Schutzes und der materiellen Unterstützung. Zum anderen aber ist allen, die es wollen, der rasche Erwerb des deutschen Bürgerrechts zu ermöglichen, das - wie unser historisches Beispiel nahelegt - die beste Voraussetzung für soziale und kulturelle Integration darstellt." Rebenich verweist in seinem Artikel auf ein Safe House in Afghanistan, das vom Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e.V. und dem Zentrum für politische Schönheit für Helfer eingerichtet wurde. Spenden sind herzlich willkommen.
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Ideen

Ist der Westen unrettbar rassistisch? Die Postkolonialisten behaupten das, aber es geht ihnen nicht um Rassismus, wie die von A. Dirk Moses ausgelöste Debatte zeigt, es geht immer um Israel, glaubt Thomas E. Schmidt in der Zeit. "In Deutschland fordern bis jetzt nur Rechtsextreme, dass Israel von der Landkarte verschwinden solle." Das hat sich geändert, wie Schmidt bei einer Diskussionsveranstaltung der Postkolonialen im Haus der Kulturen der Welt erkannte. "BDS ist der weiße Elefant in diesem Diskursraum. BDS ist die Lizenz, sich ideenpolitisch mit der Sache der Palästinenser zu solidarisieren, und zwar in einem Rahmen, den die palästinensischen Kampforganisationen gezogen haben. Dieser Rahmen eröffnet die Möglichkeit, die Kritik an der israelischen Politik mit einer Infragestellung des Staates Israel zu verschleifen, sie vielleicht auch nur in Kauf zu nehmen. Und dies ist nur im Zusammenhang mit einer postkolonialistischen Argumentation möglich: Die jüdische Landnahme stellt dann den letzten großen Fall in der modernen Geschichte der Kolonisierung dar, Israel die derzeit skandalöseste Gestalt westlicher Nationalstaatlichkeit im 'rassistischen Jahrhundert' (Moses). Originär ist dann nicht die Schoah, sondern die Gründung des Judenstaates."
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Wissenschaft

Die Wissenschaften dürfen sich nicht den Mund verbieten lassen, auch nicht von woken Wissenschaftlern oder Studenten, mahnt Bernhard Kempen, Jurist und Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, in der FAZ. Studenten haben Rechte, aber subjektive Empfindlichkeiten gehören nicht dazu, auch Trigger-Warnungen auszusprechen sei nicht Aufgabe einer Universität, stellt Kempen klar: "Die Universität ist kein geschützter Raum, ganz im Gegenteil, sie ist eine Risikozone. In ihr besteht fortwährend die Gefahr, dass ein Student mit der Ausübung der Wissenschaftsfreiheit durch andere konfrontiert wird. In ihr bewahrheitet sich ganz besonders, dass das Wesen der grundrechtlichen Freiheit in einer Zumutung liegt: in der Zumutung, den Freiheitsgebrauch der anderen Grundrechtsträger ertragen zu müssen."
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Religion

In vielen islamischen Staaten ist es Frauen zwar faktisch oder real verboten, ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit herumzulaufen, laut Jan Assmann wurde das Kopftuch aber erst durch Verbote in säkularen Gesellschaften zum religiösen Symbol. Im Gespräch mit Dominik Erhard von philomag.de sagt er: "Nur das Verbot gibt ihm einen status confessionis. Das Verhüllen des Kopfs bei Frauen ist eine antike Sitte, seit alters bezeugt in Mesopotamien, Griechenland und Rom, und hat mit Religion nichts zu tun, sondern eher mit gesellschaftlichem Status, Würde und Zurückhaltung. Zum religiösen Symbol scheint das Kopftuch erst geworden zu sein, nachdem es im Zuge radikaler Modernisierungsbestrebungen in der Türkei und im Iran zeitweise verboten wurde."
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