9punkt - Die Debattenrundschau

Im Rhythmus der Normalität

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.07.2021. In der taz bricht Norbert Mappes-Niediek eine Lanze für Osteuropa, das nicht nur rückständig und homophob sei, sondern auch Solidarität verdiene. Außerdem huldigt sie der hartnäckigen Staatsanwaltschaft von Bologna, die auch nach 41 Jahren das Bombenattentat von 1980 weiterverfolgt. Die Welt wirft Per Leo eine Arroganz der späten Geburt vor. Die SZ vermutet, dass auch die Einsamkeit aus Menschen gefährliche Spinner macht. Und: Alfred Biolek ist tot, dem Deutschland nicht nur die gepflegte Plauderei verdankte, sondern auch die Monty Pythons.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.07.2021 finden Sie hier

Europa

In der taz wirbt der kundige Norbert Mappes-Niediek um mehr Verständnis für Osteuropa, das der Westen nicht einfach als rückständigen homophoben Rest abstempeln könne, der dazu noch von unserer Großzügigkeit lebe. Zum einen profitierten westliche Konzerne enorm von den billigen Arbeitskräften und neuen Absatzmärkten. Zum anderen hätten die kommunistischen Ländern die Homosexualität viel früher legalisiert: "Die homophobe Bewegung - die im Übrigen ihren Höhepunkt überschritten hat - kam in dem Moment auf, als im Osten das Gefühl um sich griff, benachteiligt zu werden. Mehr als ein Jahrzehnt lang war man nach 1989 als Nation erzogen, belehrt, gegängelt worden, musste nachholen, aufschließen, seine 'Hausaufgaben' machen. Brav hatte man alles gemacht. Jetzt sei man mit dem Westen gleich auf, dachte man. Aber schon kam die nächste Herausforderung, und sie griff viel tiefer als je eine kommunistische Regierung getan hatte. Familie war ja bis 1990 immer der Freiraum gewesen. Im Privaten galten noch die 'natürlichen' Verhältnisse, da war das Volk bei sich. Die Reformer unter den Kommunisten, die das beharrende Volk sonst doch ständig mit Neuerungen, Umdeutungen, Kampagnen nervten, hatten das begriffen. Vor sensiblen Themen wie Sexualität und Familie machten sie Halt."

Auch in der FAZ stört sich der ehemalige CSU-Politiker Peter Gauweiler an der Heuchelei, mit der Ungarn etwa mit dem Streit um die Regenbogensymbolik beim EM-Spiel vorgeführt werden sollte. Er betont: "Die demokratische Legitimation des gewählten ungarischen Ministerpräsidenten ist größer als die aller EU-Kommissare zusammen. Aber: Das ist noch keine Kunst. Die Unfairness der einen Seite macht auch die andere nicht automatisch unschuldig. Ungarns Politiker sind keine Waisenknaben, was sie allerdings mit den politischen Eliten anderer EU-Mitgliedsländer eher verbindet als trennt. Und auch ein justizielles Verfahren wäre verwirkt, wenn seine Ankläger fortgesetzt selbst das Recht auf ein faires Verfahren missachten. Die Brüskierung Ungarns war aber nicht nur unfair, sondern auch geschichtslos. Angela Merkel hätte das Jahr 2017 als Kanzlerin nicht überlebt, wenn Viktor Orbán nicht die Balkan-Route geschlossen hätte."

In der SZ meldet Sonja Zekri online, dass Alexander Lukaschenko jetzt auch das belarussische PEN-Zentrum auflösen lassen will, dessen Präsidentin die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch ist: "Viele Literaten veröffentlichen in den sozialen Medien, auch die Lyrikerin Sabrina Brilo, von der diese Zeilen stammen: "Der einzige Ratschlag/glaube an nichts./Die einzige Garantie - / es wird wehtun."

41 Jahre nach dem schweren Bombenanschlag von Bologna, bei dem am 2. August 1980 85 Menschen getötet und über 200 verletzt wurden, klagt die dortige Staatsanwaltschaft einen fünften Täter an. Daran sollten sich deutsche Ermittler mal ein Beispiel nehmen, findet Michael Braun in der taz: "So zäh die Fortschritte in den Ermittlungen waren - auch weil Italiens Geheimdienste in die Vorbereitungen des Anschlags verwickelt waren und hinterher systematisch falsche Spuren legten - so geduldig ging die Staatsanwaltschaft zu Werk... Sieben Wochen nach Bologna, am 21. September 1980, fand der Bombenanschlag in München statt, mit 13 Toten. Anders als ihre italienischen Kolleg_innen brachten die deutschen Staatsanwälte keinen Ermittlungseifer, erst recht keine Hartnäckigkeit auf - und die Untersuchungen verliefen im Sande. Bologna zeigt, dass es anders geht: dass die Täter selbst nach 40 Jahren keine Ruhe finden."
Archiv: Europa

Ideen

Cornel West, einer der prominentesten schwarzen Intellektuellen der USA, verlässt Harvard, meldet NPR, offenbar aus einer ganzen Reihe von Gründen frustriert, darunter seine mickrige Bezahlung, eine nur oberflächliche Diversität - und die Feindlichkeit der Universität gegenüber der palästinensischen Sache.



In der Welt reagiert Thomas Schmid mit einem bösen Verriss unter der Überschrift "Die Arroganz der späten Geburt" auf Per Leos Streitschrift gegen die deutsche Gedenkkultur ("Tränen ohne Trauer"), auch wenn er ihm zubilligt, mit seiner Kritik an den hohlen Phrasen und Stanzen der Feiertagsreden einen Punkt zu machen. Mehr aber nicht: "Per Leo reiht sich in die Schar derer ein, die dazu neigen, das Holocaust-Gedenken als einen schweren Klotz zu betrachten, der unsere Bewegungs- und Denkfreiheit einschränke. Der uns hindere, endlich ins Freie zu treten, Nationalsozialismus und Holocaust hinter uns zu lassen beziehungsweise zu historisieren und deutend einzubetten. So ist es auch kein Wunder, dass er immer wieder nah an einer Begrifflichkeit vorbeischrappt, die in rechts-reaktionärer Ecke verbreitet ist. Leo spricht zwar nicht ausdrücklich von 'Sündenstolz', er echauffiert sich auch nicht ausdrücklich über Deutschland als 'Moralweltmeister', meint das vermutlich aber. Und kommt dem auch ziemlich nahe, wenn er angesichts der Warnungen vor altem und neuem Antisemitismus die Deutschen dazu aufruft, 'nicht mehr auf jeden Dealer hereinzufallen, der unserem Gewissen seinen gestreckten Stoff als 'Antisemitismus' verkaufen will, nur weil er zu wissen meint, wie sehr wir darauf abfahren'."
Archiv: Ideen

Gesellschaft

Ob Gelbwesten, Querdenker oder Kapitolstürmer, für Nils Minkmar in der SZ ist das große Kennzeichen dieser neuen populistischen Bewegungen, dass sie sich aus einsamen Menschen zusammensetzen, die ihre politischen Meinungen nicht mehr mit anderen abgleichen, sondern vor ihrem Rechner und wie im Hobbykeller selber zusammenzimmern: "In dem sehr aufschlussreichen sechsteiligen Podcast 'Cui bono: WTF happened to Ken Jebsen?' über die Geschichte des Querdenker-Idols kann man dieses Muster gut studieren: Jebsen wurde umso radikaler, je weniger er an Institutionen, journalistische Redaktionen oder Freundeskreise gebunden war. Das war ein längerer Prozess: Vom Fernsehen wechselte er zum Radio, eigentlich wollte man ihn überall loswerden. Als sich auch enge Weggefährten abwandten, weil seine Positionen zu Israel immer abenteuerlicher wurden, als er also isoliert arbeitete, zündete er eine neue Stufe seiner Verschwörungs- und Misstrauensproduktion: Seine erfolgreichsten Videos zeigen ihn ganz allein beim flüsternden Agitieren und spiegeln damit die Rezeptionssituation seiner Anhänger. Maximale Radikalisierung klappt am besten in maximaler Isolierung."

Der Philosoph Martin Seel kann sich in der NZZ auch nicht erklären, warum sich die Menschen nach den Monaten eines quälenden Lockdowns nur nach der alten Normalität zurücksehnen: "Sich im eigenen und gemeinsamen Tun und Lassen, Wünschen und Wollen, Gelingen und Misslingen in einiger Sicherheit lebendig fühlen zu können - das macht für Kant die Norm einer unverstellten Normalität des Lebens aus. Eine Korrektur aber legt die Kur der Pandemie nahe. Denn zur Lehre aus der leeren Zeit der vergangenen anderthalb Jahre gehört, dass durch Aktivitäten gleich welcher Art angefüllte Zeiten gar nicht das allein Erfüllende sind. Man muss die eigene Lebenszeit nicht mit Vorhaben zuschütten, um sie als sinnvoll zu erfahren. Sich, die eigenen Ambitionen und Erwartungen, auch einmal sein zu lassen, ist selbst eine Spielart des Lebendigseins, ein Break im Rhythmus der Normalität, der ihm einen heilsamen Dreh verleiht. Ohne Episoden einer mit wachen Sinnen erfahrenen leeren Zeit ergibt sich keine erfüllte Zeit."
Archiv: Gesellschaft

Politik

Der im Berliner Exil lebende türkische Journalist Erk Acarer wurde in seiner Wohnung überfallen und bedroht. Hinter seinen Angreifern vermutet er die türkische Regierung, wie er in der taz schreibt: "Ich bin mir sicher, dass ich aus politischen Gründen angegriffen wurde, dass es sich um einen politischen Angriff handelte. Investigative Journalist*innen sind bei Machthaber*innen weltweit nicht sehr beliebt. Und bekanntlich auch nicht in der Türkei. Die feindliche Stimmungsmache gegen Medienschaffende hat auch den Boden für den Angriff auf mich bereitet. Schon Ende April griff mich der türkische Innenminister Süleyman Soylu auf Twitter persönlich an und bezeichnete mich aufgrund einer Meldung, die ich geteilt hatte, als 'Narren'. Und er beschuldigte mich, für den deutschen Geheimdienst zu arbeiten. Als direkte Antwort auf den Tweet des Innenministers Soylus schlug der Vorsitzende der Ethikkommission der AKP, Kemalettin Aydın, der auch Rektor einer medizinischen Hochschule ist, auf Twitter vor, mich mit Strychnin einzuschläfern."
Archiv: Politik
Stichwörter: Akp

Medien

Alfred Biolek, der Großmeister der gepflegten Fernsehplauderei, ist tot. In etlichen Nachrufen, etwa auf SpOn, würdigen die Fernsehkritiker den Menschenversteher, Musikliebhaber und Kochkünstler. Und die deutschen Folgen von "Monty Pythons Flying Circus" haben wir ihm auch zu verdanken:

Archiv: Medien
Stichwörter: Biolek, Alfred, Monty Python