9punkt - Die Debattenrundschau

Dinge, die nicht entstehen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.07.2021. "Wir haben nicht verdient, geopfert zu werden!", ruft der kubanische Schriftsteller und Regimegegner Ángel Santiesteban in der FAZ an die Adresse all der Kuba-Romantiker im Westen. Die SZ staunt, dass die Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher es schafft zu gehen, ohne dass einer bemerkte, dass sie da war. Nach dem Iran will nun auch die Türkei die sozialen Medien regulieren, berichtet Bülrent Mümay in der FAZ. Selten war ein deutscher Wahlkampf so "öde", notiert die NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.07.2021 finden Sie hier

Politik

Paul Ingendaay ist es gelungen den kubanischen Schriftsteller und Regimegegner Ángel Santiesteban, der zur Zeit im Versteck leben muss (unser Resümee), telefonisch zu interviewen. Er nimmt kein Blatt vor den Mund. Die Situation auf der Insel schildert er in düsteren Farben: "Jüngst haben sie verfügt, dass jeder, der innerhalb des Landes Dollar besitzt und damit Lebensmittel kaufen will, das Geld auf der Bank deponieren muss, Bezahlung nur mit Karte. Das ist plumpe Erpressung, so greifen sie ihren Landsleuten auf der Insel unverfroren in die Tasche. Um zu überleben, musst du Verwandte im Ausland haben, die dir Geld überweisen. Die Krankenhäuser sind marode, es gibt keine Medikamente, die Menschen sterben wie die Fliegen. Gleichzeitig erreichen uns Fotos von Kindern und Enkeln führender Regierungsmitglieder irgendwo im Ausland, wo sie ein Leben in Saus und Braus führen. Der Umgang mit der Pandemie ist ebenfalls katastrophal." An die Adresse westlicher Linker, die Kuba immer noch romantisieren, sagt er: "Wir haben nicht verdient, geopfert zu werden."

Im von der Zeit online nachgereichten Interview mit Jonathan Fischer verteidigt der als Master Soumy bekannte malische Rapper Ismaila Doucouré die beiden Militärputsche in Mali: "Ich wehre mich ganz grundsätzlich gegen diese moralische Bevormundung aus dem Westen. Als ob sie besser wüssten als wir, was Demokratie bedeutet. In Timbuktu wurde bereits im 12. Jahrhundert eine der ersten Menschenrechtschartas der Welt verfasst. Wir haben in Mali eine lange Tradition des Ausgleichs und der demokratischen Diskussion. Viel eher leiden wir unter den unvorteilhaften Verträgen, die einst unsere Eliten mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich ausgekungelt haben."
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Kulturpolitik

Wenig Bedeutendes wurde unter Regula Lüscher in ihrer nun nach 14 Jahren endender Amtszeit gebaut, noch weniger wurde das jetzt in der Berliner Tagespresse thematisiert, konstatiert Peter Richter in der SZ. Allein die Berliner Zeitung hatte in einem anonymen, hinter Paywall stehenden Artikel unter dem Motto "Danke für nichts" die Frage gestellt, "ob Regula Lüscher von Berlin am Ende nicht deutlich mehr hatte als Berlin von Regula Lüscher", weiß Richter, dem auch nicht viel von Lüscher in Erinnerung bleiben wird: "Die Dinge, die unter Lüscher entstanden sind, machen noch nicht wirklich Lust, neue Architekturführer zu drucken. Da ist eine Schulbauoffensive mit Typenentwürfen, die ihre Funktionalität erst in der Praxis erweisen müssen, und da ist die sogenannte Europacity am Hauptbahnhof. Wer schon diesen Namen einfallslos findet, sollte sich die Sache lieber gar nicht erst anschauen. Gemessen an dem, was Berlin war, ist, sein möchte und werden könnte, ist diese Ansammlung von mit wenigen Ausnahmen solide langweiligen Wohn- und Bürokisten ohne wirklichen Anschluss an die Nachbarschaft und ohne nennenswerten Platz für Kultur eine vertane Chance."
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Stichwörter: Lüscher, Regula

Gesellschaft

Eine Impfpflicht wäre ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in die Freiheitsrechte, erwidert Ulf Poschardt seinem Kollegen Olaf Gerstemann, der ebenfalls in der Welt gestern über eine Impfpflicht nachdachte (Unser Resümee): "Der mündige Bürger ist ein Ideal der Aufklärung, und dieses Ideal verpflichtet die liberalen Demokratien, die Übergriffigkeiten des Staates auf ein Mindestmaß zurückzuführen. Davon kann in der Bundesrepublik schon lange nicht mehr die Rede sein. Aber Menschen zur Impfung zu zwingen, würde die sowieso gereizte Stimmung in der Gesellschaft ins Vorbürgerkriegliche kippen lassen. Alleine darüber nachzudenken ist gespenstisch. (…) Und sollten die Deutschen wirklich so 'irre' sein, eine Impfpflicht zu beschließen (was ich nicht glaube), wie gehen wir dann mit Touristen, Migranten oder Dienstreisenden um, wie mit Pendlern aus dem benachbarten Ausland?"

In der FR geht Harry Nutt auch mit Blick auf die Corona-Maßnahmen in einer kleinen Kulturgeschichte seit den Siebzigern der "neuen Wut auf die Macht des Staates" nach: "Während die westdeutsche Linke erst in Gestalt der rot-grünen Koalition von 1998 eine Art nachholenden Frieden mit dem lange bekämpften Parlamentarismus zu schließen in der Lage war, scheint die sich in den ostdeutschen Ländern artikulierende Staatsfeindschaft untergründig noch immer von einer lange verordneten Staatstreue geprägt."

In der Welt packt Sara Rukaj die Wut, wenn sie auf die Kreativen und vorgeblich Progressiven blickt, die sich im Frankfurter Bahnhofsviertel, aber auch in anderen Problembezirken unter die Junkies, Prostituierten und Obdachlosen und die Kriminellen und Salafisten begeben, um aus dem "Elend Profit zu schlagen": "Die bunte Diversity-Gesellschaft, die den progressiven Zeitgeist betont, solange sie die soziale Frage nicht antastet, wird allerorts blind und ohne Reflexion auf die realen Verhältnisse gefeiert. Der Gedanke, dass diese Gesellschaft nicht die verwirklichte Vernunft, sondern ein Herrschaftszusammenhang sein könnte, scheint geradezu unerträglich. Elendsaffirmation ist eine Möglichkeit, auf dieses Unbehagen zu reagieren, indem die Abgehängten wahlweise als Maskottchen für die gute Sache herhalten müssen. Gerade weil man sich um die Erfahrungen der Drop-outs nicht schert, möchte man sie stets in Sichtweite haben, um durch Genuss der Differenz zwischen ihnen und dem eigenen Leben sich selbst besser spüren zu können."
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Internet

Zwei von Facebook gelöschte Hetz-Kommentare müssen nach einem BGH-Urteil wieder hergestellt werden: Facebook hätte die Betroffenen informieren müssen, entschied der BGH. Für Thomas Kaspar ist das Urteil in der FR ein "Schlag ins Gesicht all jener, die gegen die Hassrede ankämpfen". Das Urteil dürfe "kein Freibrief für Hetzerinnen und Hetzer sein, die sich deswegen im Recht wähnen." Anders sieht das Wolfgang Janisch in der SZ. Wichtig für die weitere Diskussion sei die zweite Aussage im Urteil, "wonach auch auf Facebook die Grundrechte zum Ausgleich zu bringen sind. Denn die Leitlinie für den Meinungsaustausch kann nur das Grundgesetz sein. Im Detail ist das kompliziert, eine schwierige Aufgabe für Gerichte und Gesetzgeber. Entscheidend ist: Der Spielraum für Facebook & Co. muss möglichst gering sein."
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Europa

In der Welt legt eine Reportergruppe eine längere Reportage zur Israelboykottbewegung BDS in Deutschland vor. Einer ihrer prominentesten Aktivisten ist der Oldenburger Lehrer Christoph Glanz, der mehrfach klagte, wenn der Gruppe keine städtischen Säle für ihre Veranstaltungen zur Verfügung gestellt wurden, unter anderem in Bayern. Meistens hatten seine Klagen Erfolg: "Wegen der grundsätzlichen Bedeutung ließen die obersten Verwaltungsrichter des Freistaates Revision zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zu. Die Stadt München hat den Fall inzwischen bei der höchsten Instanz anhängig gemacht. Das Urteil wird wegweisend sein. Bislang war der Tenor in den Entscheidungen stets gleich: Gemeinden seien nicht befugt, irgendwelchen Gruppen - wie auch BDS - den Zugang zu öffentlichen Einrichtungen allein wegen zu erwartender unerwünschter Meinungsäußerungen zu verwehren."

Die viel gescholtenen sozialen Medien sind in nicht demokratischen Regimes durchaus ein Ventil der freien Öffentlichkeit. Im Iran sollen sie gerade abgeschafft werden (unser Resümee). In der Türkei wirft Tayyip Erdogan ein Auge auf sie, wie Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne berichtet: "Nicht ohne Grund versucht der Palast, Medieneinrichtungen, die er nicht kontrollieren kann, finanziell abzuwürgen. Kleinere Medien, die sich dank der Unterstützung aus verschiedenen Fonds über Wasser halten, sind der einzige Bereich, in dem die Opposition zu Wort kommt. Nicht zu vergessen die sozialen Medien, eine Arena für die unter Medienboykott stehende Opposition. Erdogan hat sie nicht vergessen. Er kündigte ein neues Gesetz für die sozialen Medien an."

Selten war der deutsche Wahlkampf so "öde" und anders wird es unter Armin Laschets Kanzlerschaft, an der Hansjörg Friedrich Müller in der NZZ keinen Zweifel hat, auch nicht weitergehen: "Auffällig ist die depressiv-defaitistische Stimmung, die über dem Land liegt. Dabei steht Deutschland nach sechzehn Jahren Merkel-Regierung trotz manchen Versäumnissen so schlecht nicht da: Zwar hinkt das Land bei der Digitalisierung ebenso hinterher wie beim Katastrophenschutz, doch sind dies Mängel, die sich beheben lassen, sofern der politische Wille dazu vorhanden ist. Ständige Schwarzmalerei mag Aufmerksamkeit und Klicks bringen, doch verstellt sie mit der Zeit auch den Blick auf die Realität und führt dazu, dass sich ein Mehltau des Missvergnügens auf alles legt."

Außerdem: Für seine Wahlprogramm-Serie liest Hans Hütt in der SZ heute den bürokratisch "labernden" Text-Klotz der Grünen: "Schon ergreift tiefe Müdigkeit den Leser, der bei diesen frommen Zeilen hier wieder erwacht: 'Wir fördern Alternativen zu kritischen Rohstoffen wie seltene Erden und deren menschenrechtskonforme Gewinnung.' Wie müssen wir uns diese Verhandlungen mit den Taliban über die Wahrung der Menschenrechte in Afghanistan vorstellen?"
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Kulturmarkt

Der Verlag C.H. Beck wird bekanntlich seine juristischen Standardwerke, den "Palandt" und den "Schönfelder", nach Dutzenden Auflagen umbenennen. Beide Gesetzeskommentare sind nach Nazijuristen benannt. Helmut Ortner kommentiert bei hpd.de diesen Schritt und erzählt nebenbei nochmal die Geschichte des nach Heinrich Schönfelder benannten "Schönfelder": "Schon 1935, damals bereits in der 5. Auflage, bejubelte Schönfelder, dass es ihm gelungen sei, die 'zwölf wichtigsten Gesetze der Regierung des Führers' darin aufzunehmen, darunter selbstverständlich auch die 'Nürnberger Gesetze'. Alle Gesetze sind durchnummeriert. Das erste trägt aber nicht die Nummer 1, sondern die Nummer 20. Warum? Weil der Herausgeber seinerzeit mit dem NSDAP-Parteiprogramm begann, dann folgten einige Rassengesetze, etwa unter Nummer 12a das 'Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre'. Und so beginnt der Schönfelder bis heute das BGB erst mit der Nummer 20."
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