9punkt - Die Debattenrundschau

Jetzt ist das Haus fast abgebrannt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.08.2021. Das Schicksal Polens in der EU ist "existenziell bedroht", warnt der polnische Verfassungsrechtler Tomasz Tadeusz Koncewicz in Zeit Online und macht der EU schwere Vorwürfe. In der Welt liest Viktor Jerofejew Putins jüngste geschichtspolitische Essays als Kriegserklärung. Die NZZ ruft dazu auf, das Bevölkerungswachstum  in Afrika als Chance zu sehen. Amerikanische Truppen stehen seit 1945 in Deutschland und Europa, konstatiert Zeit online, warum verlassen sie Afghanistan
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.08.2021 finden Sie hier

Europa

Wladimir Putin hat vor einigen Wochen in einem programmatischen Artikel die "historische Einheit von Russen und Ukrainern" beschworen (Unser Resümee). Viktor Jerofejew sieht Putins Text in der Welt als Kriegserklärung: "Meiner Ansicht nach weht in diesem Artikel ein imperialer Geist, und der Text entzieht sich einer logischen Interpretation. Wichtig sind hier nicht historische Beweise für die große tausendjährige Freundschaft zwischen Russland und der Ukraine, sondern imperiale Machtansprüche." In den zwanzig Jahren seiner Regentschaft sei Putin "de facto zu jener ewigen russischen Autokratie zurückgekehrt, ohne die weder das vorrevolutionäre Russland noch die kommunistische Sowjetunion hätten bestehen können." Der Westen habe Putin in den letzten Jahrzehnten "die einzigartige Möglichkeit geschenkt, sich straffrei zu fühlen", so Jerofejew. Interessant in diesem Zusammenhang ein Artikel von Michail Sokolow bei Radio Free Europe vor einigen Tagen - Putin lässt eine neue Kommission "zur historischen Erziehung" aufbauen, die ausgerechnet mit hohen Geheimdienstleuten besetzt ist.

Das Schicksal Polens in der EU ist "existenziell bedroht" und ein Austritt Polens aus der EU sei absehbar, sagt der polnische Verfassungsrechtler Tomasz Tadeusz Koncewicz im Zeit-Online-Interview mit Johanna Roth. Scharfe Kritik richtet er in Richtung EU: "Meine lieben europäischen Eliten, Sie haben sechs kostbare Jahre verloren, in denen Sie die Fristen verlängert und einen vermeintlich 'fruchtbaren Dialog' geführt haben, während Jaroslaw Kaczynski bereits intrigierte und die Verfassung Schritt für Schritt kaperte. Sie haben mit dem Brandstifter gespielt, während er das Haus in Brand setzte. Jetzt ist das Haus fast abgebrannt. (...) Die Kommission ist seit Jahren damit beschäftigt, Ausreden zu finden, um nicht handeln zu müssen. Sie gibt sich als Hüterin der Verträge, aber macht diese noble Aufgabe, die keine Selbstverständlichkeit ist, lächerlich. Die EU als Rechtsgemeinschaft wird nun von denjenigen ausgehöhlt, die in erster Linie dafür einstehen sollten."

Wenn das polnische Mediengesetz durchkommt, und das wird es letztlich wohl, dürfen nicht-europäische Investoren nurmehr 49 Prozent an einem polnischen Medium besitzen. Das Gesetz richtet sich direkt gegen amerikanische Medienkonzerne, erläutert Gabriele Lesser in der taz: "Marek Suski, der Initiator der 'Lex TVN', bekannte in einem Interview, dass es der PiS darum gehe, 'Einfluss auf den Inhalt der Sendungen' zu bekommen, indem sich polnische Unternehmer dort einkauften. Sollte nicht noch ein Wunder geschehen, droht TVN nun die Umgestaltung in eine PiS-Propagandaschleuder - wie zuvor schon dem ehemaligen öffentlich-rechtlichen Rundfunk." Hier Lessers Hintergrundbericht zur tumultartigen Abstimmung im Sejm am Mittwochabend.

Bülent Mumay schickt weiter seine deprimierenden und doch so toll zu lesenden Berichte über den scharfen Niedergang der Türkei an die FAZ. Nicht nur in den Wäldern brennt es dort: "Das offizielle Statistikamt veröffentlichte diesen Monat die höchste Inflationsrate der letzten zwanzig Jahre: 19 Prozent. Den Menschen auf der Straße wie auch dem von Erdogan eingesetzten Zentralbankchef kommt diese Rate gleichwohl unglaubwürdig vor: 'Sämtliche Preissteigerungen liegen über 30 Prozent..." Erdogan sagt: 'Ich bin Ökonom.' Als wäre nicht er Architekt dieser Situation, lauteten seine Statements: 'Von nun an wird die Inflation unmöglich weiter steigen.' Stieg sie doch, wechselte er umgehend den Leiter der Statistikbehörde aus."

Die Antimafia-Bewegung ist in der Krise, schreibt Ambros Waibel in der taz unter Bezug auf Danilo Chiricos Buch "Storia dell'antindrangheta". Die beherrschende Position der 'ndrangheta im Drogenhandel habe sie mit der italienischen Gesellschaft verwachsen lassen: "Durch die dort erzielten enormen Gewinne könne sie sich in alle nur denkbaren Branchen überall auf der Welt einkaufen. Die Notlage, in die viele Betriebe durch die Corona-Pandemie geraten seien, erleichtere ihr diese Diversifizierung zusätzlich. Diese ökonomische Supermacht habe dazu geführt, dass es gar nicht immer die 'ndrangheta sei, die Politiker korrumpieren und Unternehmen erpressen wolle; vielmehr gehe inzwischen die Initiative von der Politik aus, die bei der Mafia um Unterstützung bei Wahlen nachsuche, und von der Wirtschaft, die Kapital und billige Dienstleistungen nachfrage, so etwa durch die Kontrolle und Ausbeutung migrantischer Erntearbeiter durch Clanmitglieder ('caporalato')."

Die schlechte Vorbereitung auf die Katastrophe im Ahrtal war ein Fanal - der Staat versagt in seinen Sicherheitsversprechen, schreibt Bernd Rheinberg bei den Salonkolumnisten. Die Bundeswehr ist dysfunktional. Auch Polizei wurde über Jahre abgebaut, und die Zahl der Stellen wächst erst jüngst wieder, ebenso im Justizapparat. "Man könnte es auf eine an manchen Stellen zu starke neoliberale Verschlankung des Staates schieben. Aber verschlankt wurde der Staat ja nicht. Es wurde allerdings in den Ressorts jenseits der sozialen Sicherungssysteme gespart. Er ist also sozialer geworden (und liberaler), aber gleichzeitig in anderen Sicherheitssystemen dysfunktionaler. Vielleicht liegt es ja daran, dass man glaubte, die Komplexitätszunahme der liberalen Gesellschaft an viel zu vielen staatlichen Stellen abbilden, begleiten und befördern zu müssen - und gleichzeitig die 'klassischen' Aufgaben vernachlässigen zu können."
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Geschichte

In der SZ versucht Renate Meinhof zum sechzigsten Jahrestag des Mauerbaus zu verstehen, "warum es im Osten noch immer ein Gefühl von Zurücksetzung gegenüber dem Westen gibt": Im Gegensatz zum Westen glitt der Osten "von der Naziherrschaft auf direktem Weg in die nächste Diktatur. Befreier waren die Rotarmisten der Sowjetunion, auf deren Territorium Deutsche einen Eroberungskrieg gegen die 'minderwertige Rasse', die 'slawischen Untermenschen' geführt hatten. Gerade Frauen, die bei Kriegsende in den Ostgebieten und in der Ostzone aus Rache massenhaft Opfer von Vergewaltigungen wurden, waren zum Schweigen verurteilt, denn die Befreier sollten Freunde sein. Die 'unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion' wurde Staatsdoktrin. Sie vererbten das Schweigen, die Vorsicht, ihre Beklommenheit und deuteten, was ihnen widerfahren war, als Schuldzahlung für das, was Väter, Männer, Söhne im Krieg getan hatten. Auch die schwiegen."

Außerdem: Zum sechzigsten Jahrestag des Mauerbaus zeichnet Sven Felix Kellerhoff in der Welt die Zeit vor dem Mauerbau nach.

Karl Liebknechts "Tod gehört in die lange Reihe politischer Morde von rechts, in Deutschland heruntergespielt bis heute," schreibt Wilhelm von Sternburg in der FR zum 150. Geburtstag Liebknechts. Schon 1924 legte der Statistiker Emil Julius Gumbel dar, dass von 376 politisch motivierten Morden in Deutschland zwischen 1919 und 1923 354 Morde Rechtsradikale zu verantworten hatten, so Sternburg: "Im Verfassungsschutzbericht 2020 wurden vor wenige Tagen Zahlen präsentiert, die zumindest entfernt an Gumbels Untersuchungen erinnern. Im Berichtszeitraum gab es danach in der Bundesrepublik 22.357 politisch motivierte Straf- und Gewalttaten von rechts und 9.600 von links. Denkt man an die gigantische Aufrüstung, die die Sicherheitskräfte der Bundesrepublik in den Zeiten der RAF-Morde erfuhren, und vergleicht damit die zögerlichen Ermittlungen und fatalen Täterdiskussionen, die fast ein Jahrzehnt die Suche nach den Mördern aus den Reihen der rechtsradikalen NSU prägten, dann erkennt man: Berlin ist nicht Weimar, aber die Einäugigkeit bei der Verfolgung politischer Gewalttaten haben die deutschen Sicherheitsbehörden nicht verloren."
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Kulturpolitik

Im SZ-Gespräch mit Gerhard Matzig erklären Jens Thormeyer und Jochen Schulz vom Architekturbüro RKW, das ein neues Opernhaus für Düsseldorf plant, weshalb Baukosten immer wieder explodieren und was dagegen unternommen werden kann: "Um mit der Behörde anzufangen, da gibt es schon auch eine gewisse Regelungswut, die das Bauen zeitintensiver, die Planung unsicherer und die Projekte insgesamt teurer macht. Zu schweigen von Baugesetzen und Normen, die immer mehr, aber nicht immer klarer werden. Schneller bauen, das wäre in dieser Hinsicht auch: preiswerter bauen. Aber auch wir Planer können etwas tun: Wir müssen auf mehr Planungstiefe dringen."
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Stichwörter: Baukosten

Politik

Laut Demografen wird sich die afrikanische Bevölkerung bis 2050 verdoppeln, schreibt in der NZZ Fabian Urech, der darin aber nicht nur ein Problem sieht: Unbestritten sei, "dass eine wachsende Bevölkerung für viele Länder Afrikas auch Chancen bietet. In den nächsten Jahren erreichen hier Millionen von Menschen das erwerbsfähige Alter. Wenn es gelingt, deren produktive Kraft zu nutzen, winkt eine 'demografische Dividende'. Selbiges war im vergangenen Jahrhundert in Europa zur Zeit der Babyboomer und in den asiatischen Tigerstaaten zu beobachten: Die Wirtschaft brummt, das Entwicklungsniveau steigt, die Geburtenrate sinkt."

Der Abzug der US-Truppen aus Afghanistan ist ein "historisches Desaster", meint auf Zeit Online Michael Thumann, der die Gründe beim besten Willen nicht nachvollziehen kann: "US-Truppen stehen seit 1945 in Deutschland und Europa. Amerikanische Soldaten bewachen seit Jahrzehnten den Arabischen Golf und den Nahen Osten. US-Truppen sind seit 100 Jahren im Pazifik und dann in Ostasien stationiert. Hunderttausende Soldaten an 170 Standorten. Und niemand redet davon, sie abzuziehen. (…).  In Afghanistan ging es schon lange nicht mehr um große Kampfeinsätze, sondern um schlichte Präsenzdemonstrationen." In einem weiteren Artikel bei Zeit Online berichten Redakteure, wie Russland, Indien, die Türkei, Pakistan und China auf den Abzug reagieren.
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Stichwörter: Afghanistan, Afrika, Taliban