9punkt - Die Debattenrundschau

Anständig zu Ende

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.08.2021. Die Entscheidung, die amerikanischen Truppen just zum Jahrestag des 11. September aus Afghanistan abzuziehen, war mutig und weise findet die New York Times. Eine der Fragen, die sich die Welt nun stellen könnte, ist allerdings: "Was für ein Verbündeter sind die Vereinigten Staaten", bemerkt NYT-Koluminst Bret Stephens. Die Bundesregierung versichert unterdessen laut Zeit online "schon seit Monaten" die Evakuierung afghanischer Mitarbeiter vorzubereiten. Außerdem: Die SZ erklärt, warum die Wähler über die Mediokrität des Personals, das kandidiert, so erleichtert sind.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.08.2021 finden Sie hier

Politik

Der Abzug der Amerikaner aus Afghanistan hat auch deshalb eine so symbolische Wirklung, weil er von Joe Biden als ein Jubiläumsevent inszeniert wurde. Zwanzig Jahre nach dem 11. September sollte der Krieg für die Amerikaner beendet sein. Die New York Times gab ihm in diesem Punkt im Sonntagseditorial recht: "Am 6. April teilte er seinen Mitarbeitern mit, dass er alle Truppen bis zum 11. September abziehen wolle. 'Ich war der vierte Präsident, der über eine amerikanische Truppenpräsenz in Afghanistan verfügte - zwei Republikaner, zwei Demokraten', sagte er später. 'Ich würde und werde diesen Krieg nicht an einen fünften weitergeben.' Es war eine Entscheidung, die Mut und Weisheit erforderte. Der Präsident wusste genau, was seine Kritiker daraus machen würden - und was sie schon jetzt daraus machen."

Auch jetzt noch könnte sich erweisen, dass Biden Recht hatte, meint New York Times-Kolumnist Thomas Friedman, der auf die gewandelten Taliban setzt: "Sie haben gerade die Verantwortung für ganz Afghanistan geerbt. Sie werden bald unter großem Druck stehen, Ordnung und Arbeitsplätze für die Afghanen zu schaffen. Und das wird ausländische Hilfe und Investitionen von Ländern erfordern, bei denen Amerika großen Einfluss hat - Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Pakistan und die Mitglieder der Europäischen Union."

Eine der Fragen, die sich die Welt nach dem überstürzten Abzug der Amerikaner (von ihren unbedeutenden Alliierten nicht zu sprechen) stellen wird, lautet: "Was für ein Verbündeter sind die Vereinigten Staaten?" Die Amerikaner hätten ebenso gut zu ihrem Engagement stehen können, meint Bret Stephens ebenfalls in der New York Times: "In den letzten Jahren haben die Vereinigten Staaten eine relativ kleine Truppe in Afghanistan aufrechterhalten, die größtenteils für die Überwachung, die Logistik und den Schutz der afghanischen Streitkräfte in der Luft zuständig war und dabei nur minimale Verluste hinnehmen musste. Jeder amerikanische Präsident hätte diese Position fast unbegrenzt beibehalten können - ohne Aussicht, die Taliban zu besiegen, aber auch ohne Aussicht, von ihnen vertrieben zu werden."

Chinesische Staatsmedien haben den Abzug der Amerikaner aus Afghanistan hämisch kommentiert, und die chinesische Führung hat die Taliban bemerkenswert früh anerkannt, notiert Fabian Kretschmer in der taz. Die Gründe liegen auf der Hand: "Beide Länder teilen eine 76 Kilometer lange Grenze, die entlang der muslimisch geprägten Krisenprovinz Xinjiang verläuft; dort also, wo China Hunderttausende Uiguren in politischen Umerziehungs- und Straflagern interniert hat. Es wäre ein Super-GAU für die Volksrepublik, wenn militante Anhänger der Uiguren nun in Afghanistan Schutz finden würden, um aus dem Exil eine Widerstandsbewegung zu organisieren. Dementsprechend früh und präventiv rollte Peking den Islamisten den diplomatischen roten Teppich aus."

Nicht nur für Amerika, auch für Deutschland ist der Abzug aus Afghanistan eine schwere Niederlage, schreibt Berthold Kohler in der FAZ: "In der deutschen Afghanistan-Diskussion spielten die strategischen Fragen nur am Rande eine Rolle. Sie beschäftigte sich, wie auch jetzt wieder, lieber mit den humanitären Aspekten. Aber auch Berlin wollte in Afghanistan etwas bekämpfen, allerdings eher mit den Mitteln des Technischen Hilfswerks als mit denen der Bundeswehr: Fluchtursachen. Jetzt aber droht eine Massenflucht, deren Ziel klar ist." Und Thomas Gutschker ergänzt ebenfalls  in der FAZ: "Die Lowtech-Kämpfer haben reiche Beute gemacht. Sie besitzen jetzt fast alles, was die afghanischen Streitkräfte eigentlich dazu befähigen sollte, die Islamisten zurückzuschlagen."

Nicht mal alle Deutschen sind aus Afghanistan evakuiert worden, es sind auch noch gut 10.000 ihrer afghanischen Helfer im Land, denen der Tod droht. Laut Zeit online hat die Bundesregierung "Vorwürfe zurückgewiesen, trotz des Vormarschs der Taliban in Afghanistan zu lange untätig geblieben zu sein. Es werde schon seit Monaten an Verfahren zur Evakuierung gefährdeter afghanischer Ortskräfte gearbeitet, sagte der Sprecher des Auswärtigen Amts, Christofer Burger."

In der SZ ist Stefan Braun fassungslos über das "monatelange Zögern" bei der Erteilung von Visa für die Ortskräfte. "Jetzt setzt sich der Eindruck fest, dass hier sehr viele nicht das Verantwortungsgefühl mitgebracht haben, um diesen Einsatz anständig zu Ende zu bringen. Anständig hätte geheißen, sich früh auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Anständig hätte geheißen, sich rechtzeitig Gedanken zur Rettung und Aufnahme der Ortskräfte zu machen. Anständig hätte bedeutet, bei diesen Ortskräften nicht zu unterscheiden zwischen denen, deren Arbeitgeber die Bundeswehr war - und all den anderen, die für zivile Organisationen gearbeitet haben. Und anständig zu sein, hätte verlangt, im Moment der Not wirklich alle bürokratischen Hemmnisse hintanzustellen, um die Menschen rechtzeitig herauszuholen. Was da alles passiert oder eher alles nicht passiert ist: Es ist zum Schämen."


In der SZ möchte sich Sonja Zekri nicht vorstellen, was Frauen und Mädchen in Afghanistan gerade durchmachen. Im Verlust ihrer Freiheit liegt auch "eine Botschaft an den Westen, die weit düsterer ist als es die Taliban-Herrschaft vor zwanzig Jahren war. Dass Frauen und Mädchen ihre alles andere als vollkommene Freiheit nur so wenige Jahre genießen konnten, dass ihnen Rechte gewährt und nun wieder genommen werden, dass sie den Befindlichkeiten launischer Herrscher so schutzlos ausgeliefert sind, das ist eine Botschaft, die die Frauen der Welt als Warnung begreifen müssen: Nichts, was sie erstritten haben, kein Recht, das sie erkämpft haben, ist unantastbar, wenn der Wind sich dreht."

Und was sagt die Linke zu dem Schlamassel? Sie hat immerhin Wahlkampf gemacht mit der Parole "Raus aus Afghanistan". In der Welt ist Ulf Poschardt auf hundertachtzig: "Genauso gut hätten sie gesteinigte Frauen und Mädchen plakatieren können. Oder die Schwulen, die nun erschlagen und gehängt werden. Auch der in vielen Teilen vulgäre Pazifismus der Grünen blendet aus, was die Konsequenz jener Wehrlosigkeit für die letzten Menschenrechtsstandards ist. Da sind diese Linken und ja leider auch viele Bürgerliche sehr nahe bei Donald Trump, der sein 'America first' ja auch als Abkehr von alten imperialen Neigungen verstand." Für Poschardt zeigt das vor allem eins: "Die intellektuellen und kulturellen Eliten haben den Denkhorizont auf die Reichweite ihres Lastenfahrrads reduziert. Wer das Erreichen von Beirut, Bagdad oder Kabul aus ökologischen Gründen sowieso für sich außer Betracht lässt, hört im Zweifel eher auf, daran zu glauben, dass das eine Welt ist."

Der Arzt Reinhard Erös betreibt seit Jahrzehnten in Afghanistan Schulen und erwartet im Gespräch mit Michael Hanfeld von der FAZ, damit auch unter den Taliban weitermachen zu können, "da wir auch in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit den regionalen Würdenträgern und den 'Religiösen', sogenannten 'moderaten Taliban', unsere Projekte abgesprochen haben und in dieser Zeit keines unserer Projekte und keiner unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ihnen bedroht wurde." Erös schlägt vor, den angeblich geläuterten Taliban nun mit Entwicklungshilfe zur Seite zu stehen.
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Europa

Der Wähler weiß nicht, was er will angesichts des flauen Personals, das ihm zu dieser Bundestagswahl angeboten wird, lernt Cornelius Pollmer (SZ) aus einem Gespräch mit dem Markt- und Medienforschungsinstituts Rheingold: "In dieser Enttäuschung schwingt jedoch bereits Erleichterung mit, nur scheinbar ein Paradox. In der wahrgenommenen Schwäche der Kandidaten ist quasi die unausgesprochene Hoffnung eingepreist, dass diese Kandidaten nach der Wahl gar nicht so furchtbar viel verändern könnten wie sie müssten. Noch anders gesagt: Mit schwachen Kandidaten lässt sich Veränderung wählen, ohne wirklich welche befürchten zu müssen."
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Ideen

Thomas Wessel startet bei den Ruhrbaronen eine kleine Artikelserie, die die theologischen Motive im neuen Historikerstreit reflektiert - denn es falle ja auf, dass A. Dirk Moses recht ostentativ mit theologischen Argumenten operiere. Ihm stellt Wessel die Reflexionen Chaim Kaplans gegenüber, der im Warschauer Ghetto ein Tagebuch führte und sich dem Ereignis einer absoluten Vernichtung gegenüber sah: "Das Mordgeschehen als perpetuum mobile, das keine Energie verliert an einen Zweck, der außerhalb läge. Dieses Morden, das sieht Kaplan klar, findet seinen Sinn in sich selbst, so hebelt es die Selbsterhaltung aus, ureigenes Motiv der Macht: Der Tod jedes einzelnen Juden wird wichtiger als ein tausendjähriges Reich zu erhalten."
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Gesellschaft

Wer einen Backlash für gegenderte Sprache befürchtet, den kann der Sprachhistoriker Horst Simon beruhigen: Man muss sie nur immer wieder wiederholen, dann schleift sie sich das ganz von selbst ein: "Sprache ist ein zentrales semiotisches Mittel, um Menschen einzuordnen; sie gibt ihnen andererseits aber auch die Möglichkeit, nach außen zu tragen, wie sie gesehen werden möchten. Jemand benutzt den Genderstern, um sich als moderner, liberaler, aufgeklärter Mensch zu zeigen - ein anderer macht das gerade nicht. Jemand sagt das N-Wort, weil er zum Ausdruck bringen möchte, dass er sich nichts einreden lasse, muss sich gleichzeitig aber gefallen lassen, dass er als diskriminierend und wenig rücksichtsvoll gesehen wird."

Vor allem die Medien haben Einfluss auf die Sprache, erklärt, ebenfalls in der SZ, Aurelie von Blazekovic. Und hier wird - außer im BR - bereits sehr viel gegendert. Zwar ist die Ablehnung dieser Sprache bei den Zuhörern und -schauern von 56 Prozent auf 65 Prozent gestiegen, doch in den Redaktionen darf im wesentlichen jeder sprechen wie er will. Viele gendern, überhaupt werde "experimentiert, reagiert, verworfen, neu probiert. Und das ist doch eine gute Nachricht für jede, jeden, für alle."

In Berlin hat die queere Partyreihe "Buttons" bekannt gegeben, dass sie künftig keine Veranstaltungen mehr im linken Nachtclub "About Blank" machen wird, weil der Verteufelungen Israels verurteilt. "Die Befreiung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transpersonen (LGBT) sei grundlegend 'mit den Träumen der palästinensischen Befreiung verbunden'", sagen die Buttons" laut Frederik Schindler in der Welt, der einmal mehr erkennt, dass Antisemitismus eine Ideologie ist, die sich nicht durch Erkenntnis entkräften lässt. "Während jährlich 250.000 Menschen auf der Pride-Parade in Tel Aviv feiern, ist daran in den arabischen Nachbarländern nicht zu denken. Außer in der libanesischen Hauptstadt Beirut gibt es keine offene LGBT-Szene. Homosexualität wird in weiten Teilen der arabischen Gesellschaften massiv geächtet und staatlich verfolgt. Der Hass auf die Schwulen geht dabei eine hässliche Koalition ein mit dem Hass auf weibliche Sexualität, Selbstbestimmung und Emanzipation. Im Gazastreifen kann gleichgeschlechtlicher Sex zwischen Männern mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden."
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