9punkt - Die Debattenrundschau

Der große Vater Westen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.08.2021. Folgt jetzt das "chinesische Jahrhundert" fragt Timothy Garton Ash im Tagesspiegel und hätte doch wesentlich lieber Amerika als Ersten unter Gleichen. Wir müssen aufhören, die Afghanen nur als Opfer ihrer Geschichte zu sehen, fordert Ulrich Ladurner in der Zeit. Bei den Kolumnisten fragt der Historiker Leonid Luks, warum sich die Russen, anders als die Deutschen, nicht aus ihrem Totalitarismus befreien konnten. Bei den Ruhrbaronen analysiert Thomas Wessel A. Dirk Moses' verräterischen Gebrauch theologischer Begriffe.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.08.2021 finden Sie hier

Politik

Was, wenn Amerika "nie wieder auf die Weltbühne zurückkommt? Was passiert dann? Das chinesische Jahrhundert? Europa als neuer Anführer der freien Welt? Oder einfach nur die alte internationale Anarchie?", bangt Timothy Garton Ash im Tagesspiegel: "China wird mit ziemlicher Sicherheit zu einer dominierenden Macht in Asien, aber nicht zur vorherrschenden Macht. Japan, Indien und Australien, ganz zu schweigen von den Vereinigten Staaten, die weiterhin im indopazifischen Raum präsent sind, werden alles daransetzen, dies zu verhindern. In China selbst werden die Widersprüche zwischen einem zunehmend leninistischen politischen System, in dem die Macht nicht nur in den Händen einer Partei, sondern eines einzigen Mannes konzentriert ist, und einer komplexen, entwickelten kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft früher oder später zu einer eigenen internen Krise führen. Die Suche nach mehr nationalistischer Legitimität durch Abenteuer im Ausland könnte die unmittelbare Folge sein: Vorsicht, Taiwan." Sein Wunsch: "Die USA müssen wieder eine führende Rolle im Kreise der Demokratien spielen, nicht mehr als Hegemon, sondern als Erster unter Gleichen."

"Wenn hier jemand jemanden verraten hat, dann haben Afghanen Afghanen verraten", meint Ulrich Ladurner in der Zeit: "Aber in der westlichen Wahrnehmung erscheinen Afghanen in der Regel nur als Opfer: Opfer der grausamen Taliban, Opfer westlicher Fehlentscheidungen, Opfer der lokalen Kriegsherren, Opfer der allgegenwärtigen Korruption. Als Akteure tauchen sie so gut wie nie auf, als Menschen, die fähig sind, Entscheidungen zu treffen, selbst in schwierigen, gefährlichen Situationen. Dieser Blick auf Afghanistan ist ein klassisches Produkt westlichen Paternalismus. Noch in der heute geübten Selbstkritik des Westens ist dieser deutlich zu erkennen: Dem mächtigen, großen Vater Westen ist es in zwanzig Jahren nicht gelungen, die afghanischen Kinder ordentlich zu erziehen!"

Anfangs hätte er dem Satz, dass unsere Freiheit am Hindukusch verteidigt werde, gar nicht zugestimmt, sagt der CDU-Politiker Norbert Röttgen im Interview mit der Zeit, aber "im Laufe der Zeit ist der Satz für mich immer richtiger geworden. Wir haben in den letzten Jahren erlebt, dass die Sicherheit Europas und unsere gesellschaftliche Stabilität von den Konflikten im Nahen und Mittleren Osten nicht zu trennen sind. Im letzten Bundestagswahlkampf gab es kein anderes Thema als die Flüchtlinge aus dieser Region. Und darum stimmt der Satz heute wahrscheinlich mehr, als er damals gestimmt hat. Außer, dass wir jetzt die Verteidigung eingestellt haben."



Auf das Versagen deutscher Geheimdienste ist Verlass, auch jetzt wieder, wo der BND laut Konrad Litschko in der taz das Vordringen der Taliban total unterschätzte: "Noch am Freitag sollen Vertreter laut Bild auf einer Sitzung des Krisenstabs der Bundesregierung einen Fall Kabuls vor dem 11. September als 'eher unwahrscheinlich' bezeichnet haben. Die Gruppierung habe an einer militärischen Übernahme der Stadt 'derzeit kein Interesse'. Zwei Tage später übernahmen die Taliban Kabul." Für Andreas Fanizadeh sind die Fehleinschätzungen der Regierung der "Sargnagel dieser Großen Koalition".

Die Taliban "sind keine wilden, gesetzlosen Krieger", sagt Susanne Schröter im Gespräch mit Evelyn Finger in der Zeit, "sondern halten sich an Gesetze, die vor ihnen schon viele Islamisten für richtig hielten. Die Taliban glauben, dass Gott den Muslimen eine klare Handlungsanleitung für den Alltag gegeben habe. Ihr idealer Staat ist ein Gottesstaat, und das machte sie schon in den Neunzigern attraktiv für viele Afghanen. Das Land war im Bürgerkrieg versunken, die Zivilbevölkerung litt. Nun versprachen die Taliban eine einheitliche Ordnung, ein Rechtssystem, letztlich Frieden. Dass der auf einer fürchterlichen Diktatur beruhte, steht auf einem anderen Blatt."

Wofür wurden Tausende Soldaten der internationalen Gemeinschaft getötet und wofür Hunderte von Milliarden Dollar ausgegeben, fragt der afghanische Exil-Journalist Noorullah Rahmani im Tagesspiegel. Die Taliban konnten ihre Siege nur erringen, "weil sie ausländische Unterstützer haben. Sie leben von der Unterstützung des pakistanischen Militärs und der Geheimdienste sowie des Korps der iranischen Revolutionsgarden. Genau hier muss die internationale Gemeinschaft ansetzen und Druck auf Pakistan und den Iran ausüben. Die Bundesregierung sollte hier voran gehen. Denn auch für Europa hätte es gravierende Folgen, wenn sich in Afghanistan wieder ein Terrorregime mit Unterschlupfmöglichkeiten für Radikale aller Art bildet und sich Millionen Menschen auf die Flucht machen. Inzwischen gibt es hier viele Afghanen mit deutscher Staatsbürgerschaft."

Einen Bildersturm, wie ihn der IS im Irak veranstaltet hat, fürchten Archäologen laut Moritz Baumstieger in der SZ weniger: "Dazu seien die Taliban 2.0 viel zu sehr auf internationale Anerkennung bedacht." Aber was ist mit den Experten, die seit 2007 an der Restauration von Überresten in Afghanistan arbeiten? "Wie andere Archäologen, die in Afghanistan gruben, fürchten auch sie nun um die Sicherheit ihrer lokalen Mitarbeiter. Viele seien 'akut von Verhaftung, Rache und Misshandlung bis hin zum Tod' bedroht, schreiben nun mehrere deutsche Archäologen-Verbände und Institutionen in einem offenen Brief, in dem sie die Bundesregierung zur Rettung der Mitarbeiter auffordern."

Kerstin Kohlenberg verabschiedet sich von ihrer Zeit als Zeit-Amerika-Korrrespondentin mit einer sorgenvollen Beobachtung: So wie Trump durch Einschüchterung gemäßigte Stimmen bei den Republikanern zum Schweigen brachte, zeigten auch die Demokraten Schwäche gegenüber radikalen Kräften, schreibt sie. Zu ihnen zählt sie die Abgeordnete Ilhan Omar, die jüngst in einem CNN-Interview sagte, jüdische Abgeordnete seien noch nie Partner im Kampf für Gerechtigkeit gewesen: "Nach dem CNN-Interview von Ilhan Omar entschied sich Nancy Pelosi, die Chefin der demokratischen Partei, sie nicht zu rügen, wie sie es nach früheren antisemitischen Äußerungen getan hatte. Im kommenden Jahr stehen die wichtigen Kongresswahlen an, und die Demokraten brauchen jede Stimme, um ihre knappe Mehrheit zu verteidigen. Die junge Linke, für die Omar ein Star ist, wird da gebraucht. Die Kritik ist verstummt."
Archiv: Politik

Gesellschaft

Max Czollek positioniert sich in der Öffentlichkeit als "kritische" jüdische Stimme. Aber ist er überhaupt jüdisch, hatte Maxim Biller in seiner Zeit-Kolumne letzte Woche gefragt (unser Resümee). Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank kritisiert Biller in einem längeren Artikel auf Zeit online dafür und fordert, dass Juden auch "Vaterjuden", deren Mutter nicht jüdisch ist, als Juden betrachten. Gerade unter den russischen Juden in Deutschland seien viele "Vaterjuden": "Deren Ausschluss durch die jüdischen Gemeinden bedeutet daher einen bewussten Verzicht auf die Hälfte der jüdischen Nachwuchsgeneration. Düstere Aussichten für die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland! Und auch eine traurige Realität in der Gegenwart: Auch dieses Jahr dürfen Kinder jüdischer Väter in den Ferien nicht mit auf die Sommercamps der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden, sie sind von den Jugendzentren der meisten Gemeinden ausgeschlossen und dürfen ihre Bat oder Bar Mizwa nicht in der Synagoge feiern."

Lothar Müller freut sich in der SZ über die Eröffnung des Europäischen Zentrums jüdischer Gelehrsamkeit in Potsdam, der ersten Hochschulsynagoge in Deutschland: "Bisher mussten Deutsche, die Rabbiner werden wollten, ins Ausland gehen. Ausbildungsstätten in Europa gibt es nur in Budapest und London, auch auf dem amerikanischen Kontinent sind sie nicht sehr zahlreich."

Die soziale Ungleichheit in Deutschland zeigt sich auch in der Lebenserwartung, sagt die Soziologin Silke van Dyk im Gespräch mit Anja Krüger von der taz: "Bei den Männern ist der Unterschied besonders ausgeprägt. Wenn man die nimmt, die weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verdienen, und mit denen vergleicht, die mehr als 150 Prozent dessen haben, liegt der Unterschied bei fast elf Jahren. Das ist die existenziellste Form der Ungleichheit, die wir uns denken können." Ebenfalls in der taz beklagt der Politologe Christoph Butterwegge "die Macht der Hyperreichen".
Archiv: Gesellschaft

Europa

Der Filmemacher Ken Loach ist von der Labour Partei rausgeschmissen worden, weil ihm vorgeworfen wird, "durch Beteiligung an ultra-linken Randgruppen von Labour die neue Führung unter Keir Starmer unterminiert und durch fortgesetzte antisemitische Stellungnahmen die Glaubwürdigkeit der Partei in Misskredit gebracht zu haben", berichtet Thomas Kielinger im Welt-Feuilleton. Starmer plane die "Amputation einer ganzen Reihe von Protestabsplitterungen am Linksaußenrand von Labour, so Kielinger: "Loach mit seinen sozialistischen Glaubensbekenntnissen und pro-palästinensischen Slogans beschädigt die Wählbarkeit von Labour ebenso wie Corbyn, der die antisemitischen Tendenzen in seiner Partei lange Zeit leugnete. (...) Als er während einer Veranstaltung während des Labour-Parteitages 2017 gefragt wurde, ob er Holocaust-Leugner unterstütze, die sich zu Wort gemeldet hatten, wich er mit der Antwort aus, 'die Geschichte steht uns allen zur Diskussion offen'".
Archiv: Europa

Ideen

Thomas Wessel schließt seine Artikelfolge bei den Ruhrbaronen über A. Dirk Moses' Angriffe auf den angeblichen "Katechismus der Deutschen" ab. Wie unreflektiert Moses mit Theologie hantiert, zeigt Wessel am Begriff der "Erbsünde", dessen Kontexte Moses gar nicht kenne. "Dazu passt Moses' dauerndes Gerede von 'Hohepriestern', die - gleichsam Handlanger des jüdischen Rachegottes - 'überwachen' und 'überführen', 'denunzieren' und 'herunterbeten' würden: Diese Figur, die er wieder und wieder durch seine Kulisse scheucht, stammt aus dem antijüdischen Arsenal der christlichen Tradition, sie stellt - mehr dazu hier - das Urbild des 'Gottesmörders' dar, des mächtigen jüdischen Strippenziehers, der Unschuldige bis hin zum Höchsten morden lässt. 'Hohepriester der Holocaust-Religion' hat die Junge Freiheit, das Organ der Neuen Rechten, vor Jahren bereits getitelt und damit - genau wie jetzt Dirk Moses - Dan Diner gemeint, den Link zur Rechtspresse erspare ich mir."
Archiv: Ideen

Geschichte

Der Historiker Leonid Luks erinnert bei den Kolumnisten an den Putsch vor dreißig Jahren, der die Sowjetunion nach der Intervention Boris Jelzins zum Kollaps brachte. Die Frage ist: Warum hat sich die Demokratie in Russland nicht gehalten, und warum haben sich die totalitären Strukturen wieder durchgesetzt. Luks vergleicht die russische mit der deutschen Erfahrung: "Wie die historische Erfahrung zeigt, ist die Überwindung eines totalitären Erbes ohne massive Unterstützung von außen schwer durchführbar. Die Tatsache, dass der westliche Teil Deutschlands nach dem wohl beispiellosen Zivilisationsbruch von 1933-1945 relativ schnell stabile demokratische Strukturen aufbauen konnte, war untrennbar mit dem Marshall-Plan und mit dem sonstigen Beistand der Staaten der freien Welt verbunden. Eine vergleichbare massive Unterstützung von außen fehlte den russischen Demokraten weitgehend. Dies war auch einer der Gründe für das Scheitern der im August 1991 gegründeten 'zweiten' russischen Demokratie."

"Mehr als 40 Prozent der Russen halten den Augustputsch laut Umfragen für ein trauriges Ereignis mit verheerenden Folgen", schreibt Silke Bigalke in der SZ zum 30. Jahrestag des Putsches gegen Michail Gorbatschow in Moskau: "Neben enttäuschter Hoffnung spricht daraus ein diffuses Gefühl von Verlust. Zwei Drittel der Russen bedauern das Ende der Sowjetunion - nicht nur, weil sie seitdem keine Bürger dieses Riesenreiches mehr sind. Damals brach auch ein Gesellschaftsentwurf zusammen, an dessen Stelle keine echte Demokratie getreten ist, sondern eine Imitation davon." In der NZZ erinnert sich Sonja Margolina sehr persönlich an den Putsch.
Archiv: Geschichte