9punkt - Die Debattenrundschau

Oder auch das Pronomen frau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.09.2021. In Texas tritt heute ein drakonisches Abtreibungsgesetz in Kraft, der Supreme Court wird es nicht stoppen, berichten Guardian und hpd.de. Der Streit um jüdische Identität geht weiter: Mirna Funk wirft Max Czollek in der FAZ vor, über seine Herkunft geflunkert zu haben - nur sein Großvater ist jüdisch. Maxim Biller fragt in der Zeit, was eigentlich das Problem von A. Dirk Moses und anderen "herrenmenschelnden Postkolonialisten" mit dem Holocaust ist. Bei turi2 erklärt die Chefredakteurin der Welt, warum es "kein bisschen Verzicht" ist, wenn eine Zeitung plötzlich um acht Seiten dünner ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.09.2021 finden Sie hier

Politik

In Texas tritt heute ein drakonisches und teilweise geradezu sadistisch wirkendes Abtreibungsgesetz in Kraft, bekannt als "Heartbeat Bill". Abtreibungen sollen verboten sein, sobald der erste Herzschlag des Fötus festgestellt wurde. Wann das ist, variiert, schreibt Hella Camargo bei hpd.de. Meist ist es wohl so etwa nach sechs Wochen der Fall. Eine Frau, die abtreiben will, muss erstmal eine Ultraschall-Untersuchung über sich ergehen lassen, danach ist Bedenkzeit vorgeschrieben. "Darüber hinaus stellt das Gesetz für medizinisch begleitete und sichere Abtreibungen eine echte Gefahr dar, denn es droht eine Jagd von Privatpersonen auf Kliniken und ungewollt Schwangere: Bürger*innen sollen illegale Abtreibungen - also Abtreibungen, die durchgeführt wurden, obwohl ein Herzschlag festgestellt werden konnte - anzeigen und die Durchführenden und Helfenden verklagen dürfen. Für jede erfolgreiche Klage sollen sie 10.000 US-Dollar (knapp 8.500 Euro) und die Kosten für ihren juristischen Beistand erstattet bekommen." Der Supreme Court wird das Gesetz nicht stoppen, berichtet der Guardian heute morgen. Und die Aktivistinnen Kathryn Kolbert and Julie F Kay hoffen im Guardian auf ein neues Bündnis von Feministinnen und allen "queeren" und antirassistischen Bewegungen gegen solche nicht mehr zu stoppenden Abtreibungsgesetze.

Bei seiner Rechtfertigung des Abzugs aus Afghanistan hat Joe Biden gesagt: "Es geht darum, eine Ära großer Militäroperationen zur Umgestaltung anderer Länder zu beenden." Dieser Satz ist ein Einschnitt, meint Bernd Pickert in der taz: "Wenn das tatsächlich der neue Konsens der US-Außenpolitik wäre, dann bedeutete das wirklich das Ende einer Ära, und zwar einer überparteilichen."

Unterdessen schreitet, weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit, die dschihadistische Landnahme in den Ländern der Sahelzone fort, warnt Katrin Gänsler in der taz: "Deshalb ist es höchste Zeit, langfristige Strategien zu entwickeln, damit die Region nicht komplett verloren geht. Wie rasend schnell die Kontrolle entgleiten kann, zeigt ein kurzer Blick zurück: Noch vor sechs Jahren war es kein Problem, Burkina Faso mit dem Bus zu bereisen. Heute birgt jede Überlandfahrt ein enormes Risiko. Nach dem Putsch in Mali 2012 war man in Mopti, im Zentrum des Landes, sicher. Heute leben besonders dort die Menschen in Angst und beschreiben, wie Dschihadisten in den umliegenden Dörfern auf sie lauern."

Außerdem zum Thema Afghanistan: In der SZ kommt Sonja Zekri auf den Afghanistaneinsatz der Sowjetunion zurück, der sie ebenfalls einen am Ende scheiternden guten Willen zur Modernisierung des Landes unterstellt (dass die Sowjets eine Million Tote produzierten, erwähnt sie nicht).
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Geschichte

Der Hohenzollern-Kronprinz Wilhelm war kein unpolitischer Kopf, wie es seine Nachfahren und der von ihnen bezahlte Historiker Lothar Machtan behaupten, schreibt der Historiker Norman Domeier in der FAZ. Er weist auf die Freundschaft Wilhelms mit Karl Henry von Wiegand, dem globalen Chefkorrespondenten des amerikanischen Presseimperiums von William Randolph Hearst, hin. Dieser hielt Wilhelm schon in den frühen Zwanzigern über Hitlers Ambitionen auf dem laufenden: "Die Beispiele zeigen, dass (Ex-)Kronprinz Wilhelm keineswegs nur in den frühen Dreißigerjahren politisch aktiv war, sondern schon lange die historische Entwicklung in seinem Sinne zu beeinflussen versuchte. Auch fiel er nie bei den Nationalsozialisten in Ungnade, die seine Schwächen gut kannten und ihn durchaus bei Laune halten wollten: Wilhelm gehörte zu den Auserwählten, die den berüchtigten 'Salon Kitty' besuchen durften, das politische Bordell im Berlin der Nazi-Zeit."
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Ideen

"Das feige Leugnen" hat schon im Moment der Tat zum Holocaust dazugehört, schreibt Maxim Biller in einem wüsten, aber faszinierenden Beitrag zum Historikerstreit 2.0 in der Zeit, und er erkennt es bei A. Dirk Moses und seinen Jünger:Innen wieder. Aber das Rätsel bleibt, warum nach all den Rechten und den Linken, die sich permanent am Holocaust abarbeiten, nun auch "herrenmenschelnde Postkolonialisten plus ihre depravierten United-Colors-of-Benetton-Mandanten" nicht genug davon kriegen? Biller versucht es mit einer intellektuellen Erklärung: "Dass die Juden einen Gott erfunden haben, den es nicht gab, damit die Menschen selbst für ihre schlechten und guten Taten verantwortlich waren, hat den Nichtjuden schon immer missfallen, und das haben sie den Juden immer wieder sehr deutlich und brutal gezeigt. Aber als die Juden, berauscht und befeuert von der Emanzipation, dann auch noch das 20. Jahrhundert zu einem jüdischen Jahrhundert machten, wie der im Alter bittere, kompromisslose George Steiner einmal in einem Zeit-Interview sagte, als Männer wie Freud, Schönberg, Kafka, Wittgenstein eine atheistische Version des alten, hochmoralischen Monotheismus in eine moderne, universelle Sprache übersetzten, hatten die Gojim von ihnen endgültig genug."

Alle lieben es zur Zeit, von einer Niederlage des Westens in Afghanistan zu reden. Aber das ist Unsinn, meint in der NZZ der Autor und Filmemacher Samuel Schirmbeck: In Afghanistan ist nicht der Westen, sondern der Islam gescheitert. "Der Westen hatte nie vor, Afghanistan zu 'verwestlichen'. Insofern ist er mit seinen Werten dort auch nicht gescheitert. Er hat lediglich versucht, militärisch eine Brandmauer zwischen dem friedlich-toleranten und dem kriegerisch-jihadistischen Islam zu errichten. Denn diese Brandmauer fehlt in der islamischen Theologie bis heute."

In der Welt erinnert sich der niederländische Schriftsteller Leon de Winter an eine Umfrage des Pew Instituts vor acht Jahren: Danach wollten in Afghanistan 99 Prozent der Befragten die Scharia als "leitende Gesetzgebung" in ihrem Land. "Von diesen 99 Prozent hielten 81 Prozent Körperstrafen für unerlässlich, 85 Prozent waren der Ansicht, dass Ehebruch mit der Hinrichtung durch Steinigung zu bestrafen sei, und 79 Prozent urteilten, Apostasie müsse mit dem Tod bestraft werden. 66 Prozent lehnten die westliche Unterhaltung als unmoralisch ab. Wenn die Zahlen heute noch aussagekräftig sind, scheinen die reaktionären Taliban die Auffassungen der afghanischen Mehrheit ziemlich genau widerzuspiegeln. ... Die meisten Afghanen möchten an ihren Traditionen und ihrem Propheten festhalten, so, wie sie es in ihrer kargen Heimat seit Menschengedenken tun - ohne Erbarmen mit Mädchen, ohne Gleichberechtigung für Frauen und Schwule und ohne Drang zur Erneuerung."

In der Zeit erklärt Slavoj Zizek außerdem, wie er es schaffte, nun schon das dritte Buch zur Coronakrise vorzulegen.
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Gesellschaft

Das Gendern ist ein bürokratisches System voller Widersprüche, findet die Linguistin Heide Wegener in der FAZ: "Ein grammatisch maskulines Wort bedeute stets 'männlich'. Nach dieser Logik können als Geiseln nur Frauen genommen werden, denn die Geisel ist feminin, und kein Mann kann 'eine Koryphäe, eine Kapazität, eine Spitzenkraft', keine Frau 'ein Star' sein." Aber Wegener ist sich sicher: "Genderdeutsch erledigt sich genau wie die oben erwähnten Mittel sexistischer Hervorhebung oder auch das Pronomen frau, das völlig untergegangen ist."

Seit Maxim Biller (schon wieder) Max Czollek, einer kritischen jüdischen Stimme, vorgeworfen hat, gar nicht jüdisch zu sein, jedenfalls nicht nach der reinen Lehre (unsere Resümees), steht die Frage im Raum, wer Jude ist: auch "Vaterjuden"? In der FAZ erzählt Mirna Funk, die wie Max Czollek oder Fabian Wolff in der DDR aufwuchs, dass Biller auch ihr sagte, sie sei nach der Halacha nicht jüdisch, da nur ihr Vater Jude ist. Später begegnete sie Max Czollek auf einem Panel: "In der Pause standen wir draußen und unterhielten uns: 'Du bist doch auch aus dem Osten, wie ist deine Juden-Konstellation? Ist deine Mutter Jüdin, dein Vater oder etwa beide?', fragte ich, und Czollek antwortete: 'Beide!' Völlig überrascht sagte ich: 'Wahnsinn, in der DDR finden sich zwei Juden und verlieben sich auch noch? Das war doch, wie eine Nadel im Heuhaufen zu finden.' Er lächelte wissend und nickte 'Verrückt, oder?' Ja, verrückt." In Wirklichkeit kann Czollek, so Funk, nicht mal als Vaterjude gelten: "Der letzte halachische Jude in Max Czolleks Familie war sein Großvater." Funk erzählt auch, dass jeder, der einen jüdischen Großvater hat, nach Israel einwandern darf und dass auch in Israel erbittert über diese Fragen gestritten wird. Czollek allerdings nimmt sie sein Flunkern übel.
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Europa

Nicht nur in Polen oder Ungarn, auch in Slowenien wütet der Rechtspopulismus, über den Ales Steger in der Welt schreibt: "Für viele hat Brüssel als Feindbild die einstige Rolle der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad übernommen. Die Parallele ist klar: Auch zu kommunistischen Zeiten lag das Zentrum, wo über das Wichtigste entschieden wurde, außerhalb Sloweniens, eben in Belgrad."

Die universalistischen Ideen des Westens erodieren von innen - und zwar von links wie von rechts -, und Mächte wie China und Russland wissen davon zu profitieren, schreibt Richard Herzinger in einem Essay für die Zeitschrift Internationale Politik, der Zweifel hat, ob die USA oder die Eu dem noch etwas entgegenzusetzen haben. Joe Biden ist jedenfalls nicht der einzige Verantwrotliche: "Insgesamt zeigt das Gros der Europäer bisher keine Bereitschaft, der autoritären Herausforderung konsequenter als bisher die Stirn zu bieten. Weder die Vergiftung Alexej Nawalnys noch die Schlüsselrolle Moskaus bei der Unterdrückung der Protestbewegung in Belarus oder die immer massiveren Kriegsdrohungen Moskaus gegen die Ukraine haben die EU dazu bewegen können, schärfere Sanktionen gegen den Kreml zu verhängen. Namentlich Deutschland und Frankreich setzen sogar verstärkt auf eine 'Normalisierung' der Beziehungen zu Moskau." Am Ende seines Essays hofft Herzinger auf Impulse durch Demokratiebewgungen in autoritären Ländern.
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Medien

So heimlich sind ja inzwischen bei den Zeitungen ein paar Sachen passiert. Die Sonntagszeitung der FAZ erscheint in Wirklichkeit am Samstag. Und die Welt schrumpft ihre Wochentagsausgabe ab nächster Woche um acht Seiten. turi2 informiert dazu: "Chefredakteurin Dagmar Rosenfeld erklärt im Podcast und zeigt im Video von turi2, wie die 16-Seiten-Welt künftig aussehen wird. 'Diese Zeitung ist kein bisschen Verzicht', sagt sie. Das Gegenteil sei der Fall, 'es geht nichts an Stoff, nichts an Inhalten verloren', die Zeitung sei künftig pointierter." Wir haben herzlich gelacht.
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Stichwörter: Springer Verlag, Die Welt

Internet

Stefan Krempl zitiert bei heise.de aus Zahlen von LobbyControl und Corporate Europe Observatory (CEO) über Lobbyorganisationen in Brüssel. Die Tech-Konzerne, stellt sich dabei heraus, geben das meiste Geld aus: "Allein die zehn größten Digitalkonzerne beschäftigen in Brüssel mehr als 140 Lobbyisten und lassen über 32 Millionen Euro pro Jahr dafür springen. Google steht an der Spitze mit 5,75 Millionen Euro für Politikbeeinflussung in Brüssel, gefolgt von Facebook mit 5,5 und Microsoft mit 5,25 Millionen Euro."

Ingo Dachwitz stellt bei Netzpolitik einen Bericht der Universität Toronto zur Zensur von LGBTIQ-Inhalten durch Internetzensoren in autoritären Ländern vor. Es überrascht nicht, dass sie massiv ist: "Die Sperrungen würden dabei nicht notwendigerweise in Zusammenhang mit gesetzlichen Verboten von Homosexualität stehen, wohl aber mit dem Bestreben, die Grundrechte von LGBTIQ Menschen einzuschränken. In Ländern wie Russland und Indonesien, wo Homosexualität nicht offiziell verboten sei, werde die Zensur etwa mit Verweis 'obszöne Inhalte' oder 'homosexuelle Propaganda' begründet. Häufig sei auch eine fälschliche Markierung von LGBTIQ-Inhalten als Pornografie zu beobachten."
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