9punkt - Die Debattenrundschau

Talente des Versteckens, Täuschens und Tricksens

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.09.2021. Vor dreißig Jahren brannten die Flüchtlingsheime in Hoyerswerda, erinnert die taz: Seitdem ist in Ostdeutschland Rechtsextremismus normal geworden. Im Guardian sorgt sich Timothy Garton Ash um die Auswirkungen der Wahlen in Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien auf die EU. Die SZ fordert eine Entschädigungsverpflichtung Deutschlands für die Opfer des Kolonialismus. Die Afghanen lehnen westliche Werte nicht ab, sie wollen nur nicht dafür getötet werden, schreibt der Rechtswissenschaftler Idris Nassery In der FAZ. Warum weiße Suprematisten die Taliban lieben, erzählt Slavoj Zizek in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.09.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Vor dreißig Jahren brannten die Flüchtlingsheime in Hoyerswerda. Der Rassismus, der sich dort artikulierte, glüht immer noch, meint David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus beim Magdeburger Verein Miteinander e. V. in der taz. "Das, was das Wesen der 'Baseballschlägerjahre' ausmachte - die sichtbare, schiere Omnipräsenz rechtsextremer Gewalt und Dominanz in Ostdeutschland -, mag vorbei sein. Nicht vorbei aber ist die Gewalt, die Diskriminierung und die oft subtile Demütigung, die von Neonazis und rechten Wutbürgern ausgeht. In den westdeutschen Metropolen, auch in Leipzig, Jena und Potsdam kann dem, wer will, aus dem Weg gehen. In Chemnitz, Köthen und Pasewalk ist das schwieriger. Die Schläger von damals sind nicht verschwunden. Sie sind heute Familienväter, Unternehmer für die rechte Bewegung oder AfD-Wähler. Wer sich ein Bild vom Ausmaß der Normalisierung der extremen Rechten in Ostdeutschland machen will, sehe sich Wahlkampfveranstaltungen der AfD auf den Marktplätzen an. Das sind keine Massenevents. Aber dort stehen rechte Wutbürger, Neonazis und normale Leute, die glauben, ihre Meinungsfreiheit sei in Gefahr, einträchtig nebeneinander und lassen sich von AfD-Politiker*innen einreden, sie lebten in einer DDR 2.0."

In einer Glosse für die Zeit ist Jens Jessen ganz angetan von der Vorstellung, bald von mehr Verboten umringt zu werden. Das fördert die Kreativität, freut er sich: "Der ganze kriminelle Sektor der Gesellschaft, einschließlich unserer hochinnovativen Wirtschaftskriminalität, verdankt seine Blüte dem Verbotswesen. Wo blieben die gewaltigen Gewinne im Drogenhandel, wenn er gesetzlich gestattet wäre? Wo die Talente des Versteckens, Täuschens und Tricksens, die ja auch in der Automobilindustrie blühen"?

Böswillig findet Gerrit Bartels im Tagesspiegel die Diskussion um Max Czollek, die für ihn keine innerjüdische, sondern eine Debatte zwischen links und rechts ist. In der taz macht sich Erica Zingher keinerlei Sorgen um Czollek, der als Publizist viel beachtet werde und somit "eine privilegierte Position" habe. Viel wichtiger sei der verschleppte Konflikt um die "Vaterjuden" von denen die meisten in Deutschland als Kontingentflüchtlinge in den 90ern aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert seien: "Die Erfahrung russischsprachiger Jüdinnen und Juden ist eben eine besondere. Sie ist geprägt durch Ausschlüsse. Einerseits als vermeintlich defizitäre Juden, weil sie säkular leben, und anderseits als Zuwanderer:innen, die von alteingesessenen Juden und der Mehrheitsgesellschaft oftmals nur als Migrant:innen wahrgenommen wurden. Im deutschen Diskurs findet diese Problemdarstellung selten Platz. Dabei bilden sie, die postsowjetischen Jüdinnen und Juden, die Mehrheit einer Minderheit. Sie bleiben, mal wieder, unsichtbar."
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Europa

Auch in Brüssel blicken alle auf die Wahlen in Deutschland, schreibt Timothy Garton Ash im Guardian: "Kann die Demokratie liefern? Genauer gesagt: Kann das europäische Modell des Wandels durch demokratischen Konsens, für das Deutschland ein Paradebeispiel ist, die Maßnahmen anstoßen, die Europa dringend braucht, um im 21. Jahrhundert bestehen zu können?" Ash hofft auf eine Ampelkoalition, die ihm für Europa das beste erschiene. Aber Deutschland ist ja nicht Europa. Was, wenn Emmanuel Macron im nächsten Frühjahr Marine Le Pen unterliegt? "Es ist zu hoffen, dass er sich durchsetzen wird. Aber nachdem ich kürzlich einige Zeit in Frankreich verbracht habe, spüre ich ein nagendes Unbehagen. Das populistische Hexengebräu, das die Themen Einwanderung, Islam, Terrorismus und Kriminalität zu einem einzigen angstauslösenden Narrativ verbindet, ist in Frankreich sehr mächtig. Ein unvorhergesehenes Ereignis, wie ein Terroranschlag am Vorabend der Stichwahl, könnte das Undenkbare möglich machen. Europa ist auch darauf angewiesen, dass Italiens 'Super-Mario' Draghi Premierminister bleibt und nicht zum Präsidenten des Landes wird, was möglicherweise eine Wahl auslösen würde, bei der auch nationalistische Populisten gut abschneiden könnten. Und es braucht eine vernünftige Regierung, um in Spanien an der Macht zu bleiben. Dann, und nur dann, hätte man Mitte nächsten Jahres die notwendige Ausrichtung für eine dynamische europäische Reformperiode nach Covid."
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Ideen

Weiße Suprematisten mögen die Muslime in den USA hassen - mit den Taliban kommen sie gut klar, erzählt in der NZZ der Philosoph Slavoj Zizek, sich auf einen Bericht der NGO Site Intelligence Group berufend: Danach werde "der Sieg der Taliban als 'eine Lektion in Liebe für die Heimat, die Freiheit und die Religion' gefeiert. Außerdem beglückwünschen amerikanische Neonazis die Taliban für ihren Antisemitismus, ihre Homophobie und die Einschränkung der Freiheitsrechte für Frauen. Ein Post der Proud Boys auf Telegram lautete so: 'Wenn weiße Männer im Westen ebenso mutig wären wie die Taliban, würden wir nicht von Juden beherrscht.' Die mit den Taliban sympathisierenden amerikanischen Rechtsextremen ahnen ja gar nicht, wie sehr sie unfreiwillig ins Schwarze treffen. Was wir in Afghanistan sehen, entspricht in der Essenz dem, was Populisten anstreben, nur ins Extreme getrieben. Es liegt darum auf der Hand, was den westlichen und den islamischen Fundamentalismus verbindet: Ablehnung der globalen Elite, welche angeblich die Gender-Ideologie und den Multikulturalismus verbreitet und die traditionelle Lebensweise lokaler Gemeinschaften untergräbt. Damit aber verliert sich der Gegensatz zwischen rechtem Populismus und islamischem Fundamentalismus."

Frauen müssen aufhören nett sein zu wollen, legt Leila Slimani nach ihrer Eröffnungsrede für das Literaturfestival in Berlin (unser Resümee) nochmal im SZ-Gespräch mit Christiane Lutz nach. Aber das Problem sei nicht nur das innere Bedürfnis von Frauen: "Auch das, was Frauen sich selbst auferlegen, ist ein Beweis für die patriarchalen Strukturen, in denen wir leben. Die Annahme etwa, dass Frauen weicher, verständnisvoller seien. 'Frauen sind wunderbar, ach, wenn nur mehr Frauen an der Macht wären, wäre die Welt besser' - das ist doch Blödsinn. Es gibt genauso schreckliche, faschistische gewalttätige Frauen. Diese Vorstellung der Frau als Engel ist sehr gefährlich und misogyn."

Außerdem: Thomas Ribi hat für die NZZ im Philosophie Magazin den Aufsatz Jürgen Habermas' zum neuen Historikerstreit um die Thesen von A. Dirk Moses gelesen und stellt fest, dass dessen Argumente für die Singularität des Holocaust nicht mehr ganz so streng sind wie noch im Streit mit Ernst Nolte.
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Kulturpolitik

Deutschland war nur ein "Zwerg" unter den Kolonialmächten. Deutschland hat die Afrikaner nicht als "Sklaven", sondern höchstens als "Untertanen" geknechtet. Und Deutschland "hat die Opfer seines Kolonialismus jetzt immerhin so großherzig entschädigt wie kein Staat je zuvor" - alles Lüge!, schimpft Ronen Steinke in der SZ und schaut vor allem auf die von der Bundesrepublik zugesagten 30 Millionen Euro, die Nambia pro Jahr "zur Versöhnung" erhalten soll: "Das Papier, das die Regierungsdelegationen beider Länder Ende Mai unterzeichnet haben, ist eines, in dem Deutschland sich nicht zu Zahlungen verpflichtet, sondern sie lediglich in Aussicht stellt. Von den Regierungen wird dieses Papier weiterhin unter Verschluss gehalten. Aber von der Organisation 'Mission Lifeline' ist das sechsseitige Dokument gerade geleakt worden. 'Germany commits herself', heißt es da: Deutschland binde sich selbst. Juristen wissen, was das heißt. Die Formulierung 'is obliged to', mit der Staaten echte Pflichten eingehen, ist auffällig abwesend."

Unumstritten waren die an ermordete Juden erinnernden Stolpersteine nie, auch weil ihr Erfinder Günter Demnig ein Unternehmen daraus machte, schreibt Alan Posener in der Welt: Die Steine müssen bei Demnig beantragt werden, ein Stein wird per Hand gefertigt und kostet 120 Euro plus Auslagen. Nun weitet Demnig sein Konzept aus, im luxemburgischen Lunglinster erinnern jetzt elf Stolpertsteine an Gemeindemitglieder, die im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht zwangsrekrutiert wurden, so Posener weiter: "Ob junge Männer, die zum Militär zwangseingezogen wurden, in derselben Weise als Opfer zu betrachten sind wie etwa Studenten, die wegen eines Flugblatts mit dem Fallbeil hingerichtet, geistig behinderte Kinder, die in Heilanstalten vergast, Sinti, Roma und Homosexuelle, die in KZ zu Tode gearbeitet und gequält, jüdische Frauen, die nackt mit ihren Kindern in baltischen Sandgruben erschossen wurden - das darf man denn doch fragen, zumal die Luxemburger in der Wehrmacht den gleichen Sold erhielten und die gleichen Beförderungschancen hatten wie die deutschen Soldaten."
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Politik

Jeff Montrose, ehemaliger Offizier im Irakkrieg, bevor er aus Gewissensgründen den Dienst quittierte, blickt in der NZZ mit Verbitterung auf die Kriege im Irak und Afghanistan, die seiner Ansicht nach nie hätten geführt werden dürfen. Fast genauso schlimm findet er aber den Abzug der Truppen, bevor wieder eine Art Stabilität in beiden Ländern hergestellt war. Drei Jahre nach dem Abzug aus Irak eroberte der IS das Land: "Meine Feindseligkeit wurde zu bitterem Groll, als Isis Tausende von irakischen Soldaten, die sich ergeben hatten, erschoss. Mit vielen von ihnen hatte ich während meiner Zeit im Irak zusammengearbeitet. Als Veteran des Irakkrieges fühlte es sich an wie ein Verrat an allem, was wir dort geopfert hatten. Auch die Taliban haben nun die Afghanische Nationalarmee mühelos aus dem Weg geräumt. Dafür sind die vielen Soldatinnen und Soldaten und zigtausend Zivilisten sicher nicht gestorben. Aber sollten die ausländischen Truppen im Land bleiben, nur weil schon so viele Menschen ihr Leben verloren haben? So zynisch es klingen mag: Das ist kaum ein Grund, um einen ewigen Krieg zu führen."

Auch für den in Deutschland lebenden afghanischen Rechtswissenschaftler Idris Nassery ist der Einmarsch in Afghanistan die eigentliche Ursünde, die zum jetzigen Schlamassel geführt hat. "Letztlich war es nicht kulturelle Sympathie oder Antipathie und erst recht keine Ablehnung westlicher Werte, was die zunehmend leidende Landbevölkerung in die Arme der Taliban drängte", schreibt er in der FAZ, "sondern der exzessive Militäreinsatz der NATO-Truppen", der zum Teil "ganze Dörfer auslöschte. Das ist das Wesen des Kriegs gegen den Terror in Afghanistan. Dieser hat nicht nur die Armut und das Leid vergrößert, sondern zugleich die seit vier Jahrzehnten ununterbrochene Verrohung der afghanischen Seele. ... Sie auf eine 'archaische Stammesgesellschaft ohne Pluralismustradition' zu reduzieren, deren 'Islam afghanischer Prägung nicht mit modernen Gleichberechtigungskonzepten harmonisiert', wie dies Buchsteiner behauptet [unser Resümee], ist zynisch."
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