9punkt - Die Debattenrundschau

Ich bin erstens keine Jungfrau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.10.2021. Bei Dlf Kultur erklärt der Historiker Stephan Malinowski, wie die Hohenzollern als Clan agierten, und wie sie alle auf die Nazis hofften, und warum der Kronprinz Gründe hatte, Mussolini zu lieben. Die Idee der Kunstfreiheit wurde gegen den Staat entwickelt - heute wird sie aus der Gesellschaft attackiert, sagt Peter Raue in der SZ. Bei Zeit online entwickelt Andreas Rödder gar nicht so konservative Ideen für einen neuen Konservatismus. Die FAZ zeigt, wie die russischen Behörden über das Ausmaß der Corona-Pandemie lügen. Bei hpd.de erklärt Natalie Grams-Nobmann den Coronagegnern, dass sie ein Recht auf Unvernunft haben - aber nur die eigene.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.10.2021 finden Sie hier

Geschichte

Es reicht nicht, auf den Kronprinzen zu schauen, sagt der Historiker Stephan Malinowski, Autor von "Die Hohenzollern und die Nazis - Geschichte einer Kollaboration", im Gespräch mit Stephan Karkowsky von Dlf Kultur. Fast der gesamte Clan der Hohenzollern, die aktiven Prinzessinnen inklusive, bewegten sich in radikalen rechtsextremen Kreisen und setzten sehr wohl Hoffnungen auf die Nazis. Und der Kronprinz selbst hatte ein gutes Exempel parat, um den Nazis Vorschub zu leisten: "Natürlich spielt für den Kronprinzen und auch für den gefallenen Kaiser in Holland immer noch die Vorstellung eine Rolle, man könne den Thron wieder errichten, man könne eine Monarchie wieder errichten, vielleicht nach dem italienischen Modell. Seit 1922 ist in Italien ja der Faschismus in Form einer Monarchie, die kombiniert ist mit einem faschistischen Führer, vorhanden als Gebrauchsanweisung, auf die auch im Adel mit großem Interesse geschaut wird. Also der Kronprinz ist fasziniert von Mussolini, begeistert vom italienischen Faschismus, hat auf seinem Schreibtisch auch ein Bild des Duce und ist begeistert von der, wie er es nennt, genialen Brutalität, mit der in Italien die Linke ausgerottet wird - so nennt er das."
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Ideen

Die Idee der Kunstfreiheit wurde gegen staatlicher Zensur entwickelt, nun aber kommt die Zensur aus der Gesellschaft, sagt der Anwalt und Mäzen Peter Raue im Gespräch mit Peter Laudenbach von der SZ. Er illustriert das mit der immer weiter verbreiteten Forderung, dass nur Schwarze Schwarze, Berhinderte Berhinderte und so weiter spielen sollen: "Wenn Charlie Chaplin oder Bruno Ganz so gedacht hätten, hätten sie Hitler nicht spielen können. Und Robert De Niro nicht den 'Taxi Driver'. Und der angemalte Peter Sellers nicht Hrundi V. Bakshi in 'Der Partyschreck'. Und Louis de Funès nicht den Rabbi Jacob... Bruno Ganz hätte den Faust nicht spielen können, weil der sich gegenüber dem Gretchen wirklich übel benimmt. Und die Gretchen-Schauspielerin sagt dann: Ich bin erstens keine Jungfrau und zweitens nicht so naiv, das transportiert ein Frauenbild, das mir und meinen Followern auf Instagram nicht passt, also spiele ich das Gretchen nicht. Der Schauspieler spielt aber nicht sich selbst, sondern Figuren, auch fürchterliche."
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Kulturpolitik

Das Oral-History-Projekt "Archiv der Flucht" im HKW bündelt Fluchterfahrungen nicht nur der jüngsten Zeit in vielen Formaten. Das Thema sei bisher kaum bearbeitet worden, sagen die Kuratorinnen Carolin Emcke und der Wissenschaftlerin Manuela Bojadžijev im Gespräch mit Hanno Hauenstein von der Berliner Zeitung. Über mangelnde Unterstützung können sie sich laut Emcke jedoch nicht beklagen: "Es ist einfach so ein gigantomanisches Projekt! Wir haben fünf Jahre daran gearbeitet. Es hat irrsinnig viel Geld gekostet, wir sind unterstützt worden von der Kulturstiftung des Bundes, von der Bundeszentrale für Politische Bildung und eben vom HKW. Das war nötig fürs Filmemachen, Schneiden, dafür eine Website zu bauen, Transkripte in verschiedene Sprachen zu übersetzen. Dafür braucht es einfach eine große Institution."
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Europa

In der FAZ gibt Reiner Burger Erkenntnisse über den 16-jährigen J. wieder, der zu Jom Kippur einen Anschlag auf die Synagoge von Hagen vorbereitete. Der Fall bestätige die Vermutung, dass "es einen neuen islamistischen Tätertypus gibt, bei dem es sich nur scheinbar um Einzeltäter handelt. Systematisch durchkämmen zumeist unerkannt aus dem Ausland agierende IS-Aktivisten das Internet nach jungen Leuten, die anfällig für ihre Botschaft sein könnten. Besonders interessieren sie sich für Personen, die Bilder von Terror oder Hinrichtungen posten. Sie werden von den IS-Instrukteuren gezielt angesprochen und dazu motiviert, Anschläge zu begehen."

Im Gespräch mit Ferdinand Otto von Zeit online fordert der Historiker Andreas Rödder Ideen von einer inhaltlich komplett entleerten CDU. Konservativer müsse die Partei überhaupt nicht werden: "Gleichberechtigung, die proaktiv von individuellen Chancen ausgeht, statt Gleichstellung, die auf kollektive Ergebnisse zielt; in diesem Sinne: eine neue Bildungsoffensive als Chancenoffensive für diejenigen, denen Aufstieg durch Bildung bisher nicht möglich war; ein weltoffener Patriotismus als Grundlage positiver Integrationspolitik; eine nachhaltige Euro-Reform, mit der sowohl Nord- als auch Südländer leben können; eine substanziierte Klimapolitik, die wirklich marktwirtschaftlich, technologieoffen und international vorgeht - mir fiele so viel ein."

Nach wie vor wütet die Pandemie in Russland, berichtet Friedrich Schmidt in der FAZ. Aber die Behörden lügen über die Zahlen: "Wie viele Opfer die Pandemie in Russland wirklich fordert, dürfte am ehesten die Übersterblichkeit zeigen. Der Datenanalyst Dmitry Kobak von der Universität Tübingen kommt anhand der offiziellen Zahlen für Russland auf eine Übersterblichkeit von 624.000 von Beginn der Pandemie bis Ende Juli; seither dürften nach Kobaks Schätzung weitere 150.000 Tote dazugekommen sein. Mehr sind es demnach insgesamt nur in den Vereinigten Staaten und Brasilien, die beide deutlich bevölkerungsreicher als Russland sind. In Demokratien wäre die Verschleierung ein Skandal; in Russland riskieren die wenigen, die derlei thematisieren, viel."

FAZ-Korrespondentin Karen Krüger hat sich mit dem römischen Schriftsteller Nicola Lagioia getroffen. In Rom stehen Bürgermeisterwahlen an, unter der Bürgermeisterin Virginia Raggi von den Fünf Sternen hat sich wenig bewegt, aber sie hat auch keine überzeugende Konkurrenz. So etwas wie Kulturpolitik sei in der Stadt kaum vorhanden: "Im Ranking der renommierten Tageszeitung Il Sole 24 Ore zur Lebensqualität in italienischen Städten ist sie inzwischen auf Platz 32 abgerutscht, weit abgeschlagen hinter ihren Konkurrentinnen Mailand und Turin, wo sich, anders als in Rom, immer Gelder auftreiben lassen, um künstlerische Projekte zu realisieren. 'Man kann nicht sagen, dass Rom unter Raggi schlecht regiert wurde', sagt Lagioia. 'Es ist eher so, dass sie gar nicht regiert hat. Ihre Anwesenheit war nicht zu spüren. Viele waren wirklich verblüfft, dass sie die Chupze hat, abermals bei den Wahlen anzutreten.'"
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Politik

Wäre es denkbar, dass sich der Westen mit den Taliban verbündet, um den IS in Afghanistan zu stoppen? In der NZZ hält Bassam Tibi das für eine Illusion: die beiden sind sich viel zu ähnlich. "Der politische Islam erhebt den Anspruch, eine Alternative zur säkularen Nation zu bieten. Diese heißt Scharia-Staat. Die Taliban sprechen vom Islamischen Emirat Afghanistan. Es ist wichtig zu verstehen, dass es beim Islamismus nicht vorrangig um Terror, sondern um politische Ordnung geht. Afghanistan ist nur ein Exempel dafür. Obwohl die Taliban und Isis-K bis aufs Blut verfeindet sind, sind sie sich einig in Bezug auf ihre Ideologie. Sie wollen den Unglauben, 'kufr', bekämpfen. In der Ideologie des Islamismus verkörpert die moderne Ordnung von Staat und Welt nach den westfälischen Prinzipien den Unglauben 'der westlichen Zivilisation'."
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Gesellschaft

Coronagegner argumentieren gern, dass die Solidargemeinschaft Gesundheitsrisiken gemeinsam trägt. Warum sollen sie sich also impfen lassen, während Raucher einfach weiter rauchen dürfen? Aber das Argument sticht nicht, schreibt Natalie Grams-Nobmann bei hpd.de: "Im Solidarsystem bleibt notgedrungen ein Recht auf Unvernunft. Aber eines ist dabei ganz entscheidend: Dies betrifft stets nur das Recht auf eigene Unvernunft und den eigenen Schaden. Das Rauchen in Kneipen ist zum Beispiel verboten, weil auch Nichtrauchende dadurch gefährdet werden. Genauso gefährdet man mit der Infektionskrankheit Covid-19 andere: durch ein hochinfektiöses Virus, das vielfältige Krankheitssymptome verursacht und gerade bei älteren Personen oder Menschen mit Vorerkrankungen zu schweren Verläufen und mitunter dem Tod führen kann. Hier ist auch bei einer liberalen Einstellung eine Grenze überschritten; es kann nicht 'jedermanns Recht' sein, unter Verzicht auf vernünftige Maßnahmen andere lebensbedrohlicher Gefahr auszusetzen."
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