9punkt - Die Debattenrundschau

Unsichtbare Spuren der wahren Genies

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.10.2021. In der SZ wettert Bernard-Henri Lévy gegen Eric Zemmour. In der Welt sprechen sich Gabriele von Lutzau, Flugbegleiterin der 1977 von der RAF entführten "Landshut"-Maschine, und der FDP-Politiker Till Mansmann vehement für ein Gedenken des "Deutschen Herbstes" aus. Die New York Times kommt auf die Sexaffären Im Springer Verlag zu sprechen, der neuerdings auf dem amerikanischen Markt konkurriert, und behauptet, Springer kille Geschichten über Julian Reichelt in deutschen Medien. Der Guardian untersucht die britische Rolle bei den antikommunistischen Massakern in Indonesien in den sechziger Jahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.10.2021 finden Sie hier

Europa

Angela Merkel ist zur Abschiedsvisite in die Türkei gereist und hat gegenüber Tayyip Erdogan, der sie auch schon mal als Nazi beschimpft hatte, ihren berühmten Gleichmut gezeigt, berichtet Jürgen Gottschlich in der taz: "Einzig der ARD-Kollege erinnerte in der Fragerunde daran, dass immer noch deutsche Staatsbürger, meist mit türkischen oder kurdischen Wurzeln, in der Türkei wegen Meinungsäußerungen im Knast sitzen oder das Land nicht verlassen dürfen, da habe sich doch gar nichts verbessert. Nein, nein, sagte Merkel, es habe auch Erfolge gegeben, und man müsse eben immer weiter im Gespräch bleiben. Nach den politischen Gefangenen, insbesondere Kulturmäzen Osman Kavala und Ex-HDP-Vorsitzender Selahattin Demirtaș, deren Freilassung der europäische Menschenrechtsgerichtshof seit Langem fordert, fragte schon gar niemand mehr."

In Frankreich werden dem Rechtspopulisten Eric Zemmour echte Chance bei der Präsidentschaftswahl eingeräumt. Darüber wird viel debattiert. Nicht gesprochen wird über die Tatsache, dass Zemmour Jude ist. In der SZ bricht Bernard-Henri Lévy mit diesem Schweigen: "Ich beobachte die Wut, mit der er sich der kriminellen Rhetorik alter Rechtsextremisten wie der Schriftsteller Maurice Barrès und Charles Maurras bedient, so als wolle er der Figur der Synagoge an der Fassade von Notre Dame persönlich die Augen ausreißen. Ich beobachte, wie er mit Wonne in den braunen Sumpf des französischen Faschismus stapft und manchmal darin herumplanscht, manchmal herumstolziert wie ein Karnevals-Bonaparte auf der Brücke von Arcole. Ich sehe, dass er alles mit Füßen tritt, was mit dem idealistischen jüdischen Erbe in Frankreich zu tun hat, mit Moral, mit Verantwortung für andere, mit jenem alten Sinnbild des Fremden auf der Erde, das uns in unserer Gastfreundschaft gegenüber Migranten inspirieren sollte. Und in dieser Übertretung steckt etwas, das einem das Blut in den Adern gefrieren lässt."

"Dieser Kurz-Rücktritt wird nur kurz gelten", ist sich Marlene Streeruwitz im Standard sicher. "Die Wiederauferstehung wird zum zweiten Mal geplant. Und wir werden tapfer in die nächste Wahl gehen müssen, obwohl wir alles wissen. Wie ja alles bekannt war und von allen anerkannt. 'Ach. So tun wir doch alle', sagten die Kurz-Verteidiger im Gespräch. ... Die anderen vier Parteien hätten sich zusammenraufen müssen. Österreichischerweise wäre damit die Tradition des Kompromisses aktiviert worden. Alle Wählerinnen und Wähler wären vertreten gewesen. Auch die der FPÖ. Unausgegrenzte Politik würde in Fragen des Klimawandels durchaus Sinn ergeben. Aber. Weil wir durch die allem innewohnende und alles dominierende Korruption von Kurz und den Seinen von einem geordneten politischen Vertragszustand in familiäre Abhängigkeitsverhältnisse gezwungen wurden. Wir müssen auf das Problem zugehen, den Rechtsstaat gegen die - nun kurz ehemalige - Verwaltung verteidigen zu müssen."
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Politik

Der Libanon, 1920 am Reißbrett entstanden, ist ein Staat, der nach Proporz regiert wird. Jede der 18 ethnisch-konfessionellen Gemeinschaften muss bei der Vergabe der Ämter in Regierung, Verwaltung, höheren Armeerängen usw. nach einem festen Schlüssel beteiligt werden. So entstand ein Staat, aber keine Nation, bedauert in der NZZ Mayssoun Zein Al Din von der Nordrhein-Westfälischen Akademie für Internationale Politik in Bonn. Ein Staat noch dazu, der nicht mal ansatzweise die großen Probleme des Landes lösen kann. Notwendig wäre "eine stabile Demokratie, die unabhängig von konfessionellen Trennlinien für Ausgleich sorgt. Ein transparentes demokratisches System, das die klientelistischen Strukturen des Rentierstaates endgültig abschafft und damit der Korruption im Staat die Grundlage entzieht. Dies wird es dem Volk ermöglichen, eine gesamtlibanesische Identität zu entwickeln, anstatt sich wie bisher in erster Linie über die jeweils eigene Konfession zu definieren. Damit wird ein überkonfessionelles Staatshandeln erst möglich gemacht und die Anfälligkeit für externe Interventionen geschwächt. Je geteilter das Land, umso einfacher ist es, hinein zu regieren." Hoffnungen dafür hat Zein Al Din derzeit allerdings nicht.

Das Attentat gegen Samuel Paty wie nun wohl auch das Attentat gegen den britischen Politiker David Amess zählt Gilles Kepel in einem Interview mit Britta Sandberg vom Spiegel zum neuen Phänomen des "Djihadisme d'atmosphère": "2020 gab es allein in Frankreich drei Attentate dieser Art: in Paris, in Conflans, in Nizza. Auch das Attentat in Wien im November, bei dem vier Menschen getötet und 23 verletzt wurden, gehört in diese Kategorie. Alle Anschläge gingen auf eine Einzelinitiative der Täter zurück. Für die Geheimdienste ist das eine große Herausforderung. Jahrelang hatten wir es mit terroristischen Netzwerken zu tun, die Spuren hinterließen." In Deutschland wären das Attentat in Würzburg mit drei Toten und das Attentat auf ein homosexuelles Paar in Dresden zu nennen.
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Ideen

Zum zehnten Todestag seines Freundes Friedrich Kittler stellt Hans Ulrich Gumbrecht in der Welt fest, dass die Kittler-Rezeption erlahmt sei - auch die Ausgabe seiner Werke stocke: "Nun kann man einen solchen Prozess der Anonymisierung als Symptom maximal nachhaltiger Wirkungen auffassen, zumal er auch oft zu den unsichtbaren Spuren der wahren Genies gehört. Genies bringen etwas in die Welt, das vor ihnen nicht existierte und bald so unvordenklich wird, als hätte es nie erfunden werden müssen."
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Geschichte

In Indonesien wurden unter Führung von General Suharto zwischen 1965 und 1966 mindestens fünfhunderttausend Menschen getötet, die verdächtigt wurden, Kommunisten zu sein. Die Briten spielten bei diesem Massaker eine wichtige Rolle, erzählen Paul Lashmar, Nicholas Gilby und James Oliver im Guardian. "Kürzlich freigegebene Dokumente des Außenministeriums zeigen, dass britische Propagandisten heimlich Antikommunisten, darunter auch Armeegeneräle, zur Beseitigung der PKI anstifteten. Die Kampagne scheinbar spontaner Massenmorde, von der man heute weiß, dass die indonesische Armee sie inszeniert hat, wurde später von der CIA als einer der schlimmsten Massenmorde des Jahrhunderts bezeichnet. Als die Massaker im Oktober 1965 begannen, forderten britische Beamte, 'die PKI und alle kommunistischen Organisationen' zu 'eliminieren'. Die Nation, so warnten sie, sei in Gefahr, 'solange die kommunistischen Führer auf freiem Fuß sind und ihre Anhänger ungestraft davonkommen'." Die Briten hofften so Präsident Sukarno loszuwerden, der mit der PKI zusammenarbeitete und offen den britischen Kolonialismus kritisierte, was ihnen auch gelang.

In der Welt sprechen sich Gabriele von Lutzau, Flugbegleiterin der 1977 von der RAF entführten "Landshut"-Maschine, und der FDP-Politiker Till Mansmann vehement für einen Gedenkort für die Opfer des "Deutschen Herbstes" aus. "Bis zum heutigen Zeitpunkt gibt es kein Museum und keine Gedenkstätte, die den Opfern des RAF-Terrorismus ein würdiges Gedenken schafft und sich diesem Teil unserer Geschichte widmet", schreiben die beiden. Zwar wurde bereits Geld bewilligt, um die "Landshut" auszustellen, doch die Bundeszentrale für politische Bildung, zuständig für das Ausstellungskonzept, "ließ zuletzt verlauten, dass die Landshut-Maschine als technisches Großobjekt nicht restauriert oder in den Originalzustand zurückgeführt werden soll. Dies ist jedoch eine zentrale Forderung, denn eine restaurierte und zugängliche 'Landshut' könnte die Besucher die Ausstattung, die Enge an Bord und die gesamte Atmosphäre authentisch nachempfinden lassen. Die Erinnerung an die Geschichte der Landshut-Entführung ist man den Opfern schuldig. In einem solchen Museum sollen auch die Perspektiven der Opfer und der damals in Verantwortung stehenden Politiker sichtbar und hörbar werden."
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Kulturmarkt

Das Börsenblatt resümiert den Streit um die Online-Ausleihe von Ebooks aus der Sicht der Buchbranche, die am Samstag in großen Inseraten vor eine Freigabe von Büchern direkt nach dem Erscheinen warnte. Man bezieht sich dabei auch auf Regelungsansätze in der Politik: "Im März 2021 schlug schließlich der Bundesrat vor, Verlage künftig gesetzlich dazu zu verpflichten, alle E-Books bereits bei Erscheinen den Bibliotheken für die digitale Ausleihe zur Verfügung zu stellen. Damit käme man einer lange bestehenden Forderung des Deutschen Bibliothekverbands nach." Der Bibliothekenverband hatte diesen Vorschlag im März begrüßt (hier als pdf-Dokument): "Dazu gehört auch das Recht einer Bibliothek, jeweils ein Exemplar digital für begrenzte Zeit jeweils einer Person ('one copy, one loan') zugänglich zu machen."
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Stichwörter: Online-Ausleihe, Ebooks

Gesellschaft

Nein, Grammatik ist nicht sexistisch, insistiert der Sprachwissenschaftler Olav Hackstein in der FAZ zur Genderdebatte: "Das System, die Grammatik, besitzt a priori keine Intention zu diskriminieren. Die Sprachverwendung hingegen kann durchaus diskriminieren, zum Beispiel durch sprachliche Ausgrenzung oder diskriminierende Herabsetzung bis zu demagogischer und Hasssprache. Wenn die Grammatik nun nachweislich rein kommunikationsunterstützend und somit unschuldig ist, ergibt sich folgende Frage. Haben staatliche Institutionen wie Ministerien, Behörden, Universitäten oder Stadtverwaltungen die Aufgabe oder das Recht, Grammatik zu verändern? Die Antwort lautet nein."
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Medien

Mit Gerd Ruge ist einer der Reporter aus der Glanzzeit der öffentlich-rechtlichen Sender gestorben, schreibt Klaus Hillenbrand in der taz zum Tod des langjährigen Russland- und Amerika-Korrespondenten der ARD im Alter von 93 Jahren: "Ruge war das Gegenteil eines Reporters, wie sie heute in aller Regel im Fernsehen auftreten. Der gebürtige Hamburger neigte niemals zur Hektik, er lehnte geistige Schnellschüsse ab, spielte sich nicht auf, sondern blieb seinem Stil treu: mit ruhigen Fragen dem Zuschauer Einsicht in Entwicklungen in der Welt zu geben. Nicht er selbst gab die großen Analysen ab, er überließ es den Menschen vor Ort, ob in Sibirien, Texas oder Peking, zu erklären, wo ihnen der Schuh drückt."

Ben Smith, der Medienkolumnist der New York Times, bringt einen großen Artikel über den Springer-Verlag, der in Amerika - gestützt durch den Hedgefonds KKR - auf große Einkaufstour gegangen ist und unter anderem Politico gekauft hat. In Smith' Artikel geht es über weiter Strecken um sexuelle Verfehlungen des einstigen Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt. Smith erzählt, dass es Reichelt oder der Springer-Verlag immer wieder hinbekommen, Berichterstattung in Deutschland über dieses Thema zu verhindern: "In diesem Jahr recherchierte Juliane Löffler, Reporterin beim deutschen Verlag Ippen, zusammen mit drei anderen Mitgliedern des Ippen-Rechercheteams über das Verhalten von Herrn Reichelt in der Hoffnung, einen Artikel mit mehr Details über die Vorgänge bei Bild zu veröffentlichen. Im Zuge der Berichterstattung erhielten Frau Löffler und ihre Kollegen Zugang zu einigen der Dokumente, die ich in den letzten Wochen einsehen konnte, als der Ippen-Artikel kurz vor der Veröffentlichung stand. Dann, am Freitag, teilte Ippen seiner investigativen Abteilung mit, dass die Geschichte gestorben ist." Die Direktive sei von dem Verleger Dirk Ippen selbst gekommen. Smith erzählt auch, dass er Dokumente habe, die beweisen, dass Mathias Döpfner problematische Ansichten zu Covid-Krise habe. Und er erwähnt immerhin, dass der Springer Verlag am liebsten durch eine Fusion von Politico und dessen Konkurrenten Axios den größten Medienfirmen in Amerika Konkurrenz machen wollte.
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