9punkt - Die Debattenrundschau

Unter dem Label des Fortschritts

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.10.2021. Die Aufregung um die Springer-Affäre ist immer noch sehr groß. Die taz analysiert bisherige Meinungsäußerungen Johannes Boies. Unterdessen macht Holger Friedrich, der Verleger der Berliner Zeitung, auf einige Elefanten im Raum aufmerksam. Zum Beispiel diesen: "Die letzte Wahl des BDZV-Präsidenten Döpfner erfolgte mit einer hundertprozentigen Befürwortung der anwesenden deutschen Zeitungsverleger." Und die Unternehmenskultur des Hauses Springer habe die Liebe der Branche zu ihrem Lobbyisten nicht schmälern können! Die FAZ zieht eine eher traurige Zwischenbilanz der Buchmesse. In der taz erinnert der Historiker Jürgen Luh an die Rolle der Hohenzollern bei der Annäherung rechtsextremer Organisationen in der Weimarer Republik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.10.2021 finden Sie hier

Medien

Die taz kann immer noch nicht fassen, wie schlimm es bei Springer zugeht. Eine Autorengruppe resümiert die Ereignisse und stellt nochmal den neuen Bild-Chefredakteur Johannes Boie vor, der eigentlich bei der SZ begonnen hatte (Journalisten stellen sich diese Zeitung als Paradies ihrer Branche vor), als Chefredakteur der Welt aber die für Springer richtigen "rechten" Einstellungen vorgewiesen habe. Der Katalog liest sich bei den taz-Autoren so: "Dort arbeitete er sich zuletzt an den Grünen und an Annalena Baerbock ab ('grüne Verbote!'), wetterte gegen Identitätspolitik ('radikale Ideologie'). Politische Bündnisse mit der Linkspartei sind für ihn 'geschichtsvergessen', eine Meldeplattform für Steuersünder 'Denunziantentum'. Inhaltlich passt das. Aber passt er als Typ zur Bild?" Für einen zweiten Artikel haben die Autoren mit dem Verleger Dirk Ippen korrespondiert, der seine Entscheidung, die Recherchen seiner Medien zu kippen, inzwischen bedauert.

Springer-Chef Mathias Döpfner kommt in der taz noch in anderem Kontext vor. Steffen Grimberg berichtet über mögliche neue Anläufe für eine Presseförderung nach einer komplett versemmelten Initiative des Bundeswirtschaftministeriums, das den Zeitungen 220 Millionen Euro hatte zustecken wollen (unsere Resümees): "Wie es in Deutschland mit der Presseförderung weitergeht, wird eine neue Bundesregierung entscheiden. BDZV-Präsident Döpfner hatte auf dem Verbandskongress vor vier Wochen bereits angekündigt, sofort nach deren Bildung umgehend wieder auf der Matte zu stehen. Grüne und FDP sind hier zum Glück auch etwas sachkundiger als viele der bisherigen Großkoalitionäre."

Mit viel Innovationspathos und Wolkigkeit im einzelnen äußert sich nun auch Holger Friedrich, der Verleger der Berliner Zeitung zur Springer-Affäre. In einigen Punkten erlaubt er es sich als Außenseiter der Szene auch, ein bisschen konkreter zu werden, zum Beispiel: "Die letzte Wahl des BDZV-Präsidenten Döpfner erfolgte mit einer hundertprozentigen Befürwortung der anwesenden deutschen Zeitungsverleger." Die Unternehmenskultur bei Springer sei nicht angesprochen worden, als sich die Branche um ihren mächtigen Lobbyisten scharte. Oder: "Der Versuch, in den Hinterzimmern der Politik Subventionen für eine Presseförderung zu akquirieren, konnte erst durch das energische Eingreifen des digitalen Verlegers Sebastian Esser von Steady/Krautreporter mit der öffentlichen Androhung einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gestoppt werden. Herr Döpfner hatte sich mehrfach und deutlich im Widerspruch zur Mehrheit der BDZV-Mitglieder aus Gründen notwendiger Staatsferne dagegen positioniert. Daran sollte erinnert werden." Und an die Adresse der Kollegenschaft in den Medien sagt Friedrich, es wirke nicht sehr souverän, "erst nach dem Erscheinen eines Artikels in der New York Times mutig zu werden".

In der SZ erklärt Nils Minkmar in einem ausführlichen Artikel, warum er sich an der Spitze des Zeitungsverlegerverbandes statt Mathias Döpfner, der sich doch als ziemlich effizienter Lobbyist erwiesen hat, lieber einen Menschen wünscht, "an dessen Liebe zur Wahrheit, zur Fairness und zur Aufklärung kein Zweifel besteht". Hubert Wetzel findet es ebenfalls in der SZ immerhin eine eher gute Nachricht, dass Springer in Amerika in Qualitätsjournalismus - nämlich Politico - investiert. Zeit online (hier) und FAZ (hier) berichten über das einschüchternde juristische Verhalten des Springer Verlags in der Affäre.

Amerikanische Compliance-Regeln tabuisieren inzwischen jede erotische Beziehung am Arbeitsplatz. Ihre Durchsetzung in Europa wäre für "abhs", der häufig im Perlentaucher kommentiert, ein Horror. Natürlich müsse Machtmissbrauch verfolgt werden. Aber "Beziehungen zwischen erwachsenen Menschen im beruflichen Kontext zu kriminalisieren ist inhuman. Bigott dazu. Vetternwirtschaft und destruktives sexuelles Jagdverhalten sind ein Problem. Personalrotation, Vier-Augen-Prinzip, regelmäßiges Prüfen von Hierarchiebeziehungen - das sind nur ein paar Beispiele für Maßnahmen, die je nach beruflichem Kontext helfen können. Jede sexuelle Beziehung zu einer unverzeihlichen Verfehlung zu erklären, zählt mit Sicherheit nicht dazu. Es ist ein Atavismus, die Rückkehr einer zutiefst verlogenen Sexualmoral unter dem Label des Fortschritts."
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Europa

Am 4. November vor zehn Jahren erschossen sich die Thüringer Rechtsextremisten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe wurde festgenommen, und das Ausmaß der ausländerfeindlichen Verbrechen des "NSU" kam ans Tageslicht. Zehn Jahre lang hatten weder Behörden, noch Medien (dazu sei nochmal auf die Studie der Otto-Brenner-Stiftung verwiesen) auch nur das geringste über den Konnex zwischen den Morden an vielen Orten der Bundesrepublik aufgedeckt. Konrad Litschko und Sabine am Orde unterhalten sich für die taz mit dem neuen Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang, der den Rechtsextremismus heute zwar als größte Bedrohung definiert, aber sonst wenig Neues sagen kann: "Auch in unserer Mitarbeiterschaft wurde das als Tiefpunkt und vollständiges Versagen empfunden. Das zeigte sich auch darin, mit welchem Eifer die Mitarbeitenden bei den anschließenden Reformen mitgewirkt haben - eben weil sie so betroffen waren. Natürlich war das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht die einzige Sicherheitsbehörde, die mit diesem Sachverhalt befasst war. Der wesentliche Fehler war die mangelnde Zusammenarbeit der Behörden."
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Politik

Die amerikanische Kongressabgeordnete Ilhan Omar will den Posten einer Islamophobie-Beauftragten der amerikanischen Regierung schaffen, berichtet Rowaida Abdelaziz bei huffingtonpost.co.uk. Und diese Beauftragte soll sich nicht etwa um Fälle in den USA kümmern: "Der Sonderbeauftragte für die Überwachung und Bekämpfung von Islamophobie, der in das Außenministerium eingebettet wäre, würde antimuslimische Vorfälle in anderen Ländern überwachen und staatlich geförderte islamfeindliche Gewalt im jährlichen Menschenrechtsbericht des Außenministeriums dokumentieren. In dem Bericht, der ein erhebliches diplomatisches Gewicht hat, werden solche Vorfälle bisher nicht routinemäßig überwacht."
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Stichwörter: Omar, Ilhan, Islamophobie

Kulturmarkt

Andreas Platthaus zieht im Leitartikel der FAZ eine traurig klingende Zwischenbilanz der Frankfurter Buchmesse, die immerhin Mut machte zurückzukommen, aber mit nur einem Viertel der Aussteller ein Schatten ihrer selbst ist: "Ein Teufelskreis für die Messe, denn durch das verringerte Angebot an Ausstellern war auch die Motivation für Besucher geringer, vor allem für das Fachpublikum, dem die ersten beiden Tage vorbehalten waren. Erstaunlich, dass die Messe an diesem alten Exklusivitätskonzept festgehalten hat. Auch falsch, wie man nun weiß, denn so herrschte zunächst gähnende Leere auf dem Gelände, was die Stimmung der Aussteller drückte."

Die schwarze Grünen-Politikerin Aminata Touré teilt zwar die Kritik an der Präsenz rechtsextremer Verlage auf der Buchmesse, hat sich aber trotzdem entschieden zu kommen. Im Gespräch mit Hadija Haruna-Oelke von der FR erklärt sie, warum sie der Argumentation der Buchmesse zum Thema nicht folgt: "Den Verweis auf Meinungsfreiheit bei rechten Positionen finde ich höchst problematisch. Diese Debatten führen wir seit Ewigkeiten, und wir sprechen hier ja dezidiert über Verlage, die andere Menschen abwerten. Wenn man das unter dem Spektrum der Meinungsvielfalt dulden möchte, ist das problematisch. Ich berufe mich auf die Würde des Menschen, die unantastbar ist. Genau mit diesem Grundsatz brechen Rechte." Auch Dirk Knipphals kommt in der taz nochmal auf die Debatte zurück. Und Andreas Speit, Autor mehrerer Bücher über Rechtsextremismus, erzählt, wie er von dem Verleger und einem Autor des Jungeuropa Verlags bedroht wurde.
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Geschichte

Der Historiker Jürgen Luh erinnert in der taz an den "Langemarck-Mythos" - den Mythos einer Jugend, die sich im Ersten Weltkrieg bereitwillig opferte -, der in der Weimarer Republik von der rechtsextremen Organisation "Stahlhelm" vertreten wurde. Diese suchte ab 1932 Anschluss an die rivalisierenden Nazis, und dabei leistete ein gewisser Hohenzollern-Prinz erheblichen Vorschub: "Zu der Überzeugung, dass Adolf Hitler forderte, aussprach und erzwingen wollte, was die Stahlhelmer bewegte, war das Mitglied des Stahlhelm Ex-Kronprinz Wilhelm schon Ende März 1932 gelangt. Schon vor dem für den 10. April angesetzten zweiten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl hatte er an Franz Seldte, den 'Ersten Stahlhelm-Bundesführer', sowie den Vorsitzenden der DNVP, Alfred Hugenberg, Briefe geschickt, in denen er vor einer Enthaltung im zweiten Wahlgang warnte und dazu aufforderte, Hitler zu unterstützen."
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