9punkt - Die Debattenrundschau

Erinnert sich noch jemand an De-Mail?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.10.2021. Welt und Tagesspiegel fragen, warum ein queeres Filmfestival in Berlin bedauert, einen Film über Seyran Ates gezeigt zu haben. taz und FAZ blättern in den Facebook Papers, aber Facebook heißt jetzt Meta. Im Tagesspiegel fragt Philipp Oswalt, ob wir das goldene Kuppelkreuz auf dem Stadtschloss womöglich einem Rechtsradikalen verdanken. "Der 20. Deutsche Bundestag muss sich klar zur jüdischen Gemeinschaft und zum jüdischen Staat positionieren", schreibt Rafael Seligman in der Jüdischen Allgemeinen. Und das gilt auch für die Jusos.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.10.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

"Hallo! Wir sind Oyoun. Wir schaffen künstlerisch-kulturelle Projekte mit migrantischen, dekolonialen und queer*feministischen Perspektiven", heißt es auf der Website des Vereins Oyoun, der gerade auch in Berlin das queere "Soura Film Festival" veranstaltet hat. Dort lief auch der Film "Seyran Ateş: Sex, Revolution and Islam" über Seyran Ates, die bekanntlich die einzige für Homosexuelle offene Moschee betreibt. Aber ihren Neffen und Stellvertreter Tugay Saraç, der bei dem Festival über den Film diskutieren sollte, hat man dann doch ausgeschlossen, weil Seyran Ates "islamophob" sei. Hierüber berichtete zuerst Judith Sevinç Basad in der Bild-Zeitung, nun ziehen Welt und Tagesspiegel nach (beide nicht online). Frank Bachner zitiert im Tagesspiegel ausführlich aus  der Begründung des Vereins Oyoun: "wir bedauern, dass es letztendlich zu der Vorführung des Films kam. Das Team des Oyoun und des Soura Film Festivals haben sich am Tag der Vorführung gemeinsam dafür entschieden, die Gesprächsrunde nach dem Film nicht stattfinden zu lassen und die Vorführung selbst anhand eines gemeinsamen und vor Beginn verlesenen Statements zu kontextualisieren, in welchem unsere Distanzierung von Seyran Ateş deutlich wurde. Es wurde uns an dem Tag bewusst, dass eine kritische und ausgewogene Auseinandersetzung mit dem Film und seiner Protagonistin mit der Panelbesetzung nicht möglich gewesen wäre und wir sind es unserem Publikum schuldig, kritischen Stimmen in Bezug auf die Aktivitäten und Ansichten der Protagonistin einen Raum zu bieten. Da uns dies in der diesjährigen Konzipierung nicht gelang, wollten wir einer einseitigen Darstellung kein Sprachrohr leihen." So klingt Cancel Culture!

Spätestens nach der Frankfurter Buchmesse hat auch Jagoda Marinic in der SZ die Nase voll von Identitätsdebatten: "Es offenbarte sich, dass die Rassismus-Opfer von gestern plötzlich nicht mehr betroffen genug sein sollen, um bei Rassismus mitzureden, weil manche von ihnen angeblich keinen sichtbaren Migrationshintergrund hätten. Bedeutende Initiativen wie etwa die Bildungsstätte Anne Frank muss so eine Argumentation hilflos machen. Die Hautfarbe als Kategorie für Rassismus und Diskriminierung kann in Deutschland niemals ausreichend sein. Es ist beschämend, wenn die Debatte dazu führt, dass etwa die Bildungsstätte Anne Frank in die Situation gebracht wird, sich dafür rechtfertigen zu sollen, dass sie vor Jahren gegenüber eines Stands von rechtsextremen Verlagen Aufklärung für demokratische Werte betrieben hat. Hehre Kämpfer gegen Rechtsextremismus wollen inzwischen einen anderen, den einzig richtigen Weg ausgemacht haben, wie Rechtsextreme zu bekämpfen sind: durch Abwesenheit."
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Kulturmarkt

In der SZ sieht Felix Stephan in dem Streit zwischen Verlagen und Bibliotheken um die "Online-Ausleihe" (Unsere Resümees) eine Fortsetzung des Konflikts um die Reform des Urheberrechts, "nur dass der Börsenverein des Deutschen Buchhandels seine Interessen dieses Mal nicht gegen amerikanische Konzerne verteidigt, sondern gegen deutsche öffentliche Bibliotheken": "Die Verlage sehen in der Onleihe ein Leck in ihrem urheberrechtlichen Hoheitsgebiet, aus dem stetig und unkontrolliert Umsätze entweichen. Der Bundesvorsitzende des Deutschen Bibliotheksverbands, Andreas Degkwitz, hingegen legt Wert auf die Feststellung, dass die Lizenzen schon heute streng reglementiert sind. Die digitale Ausleihe ist in ihrer bestehenden Form der physischen auf fast komische Weise nachempfunden, obwohl es sich bei E-Books letztlich um Dateien handelt, die mühelos unendlich häufig kopiert und geteilt werden könnten."
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Europa

"Der 20. Deutsche Bundestag muss sich klar zur jüdischen Gemeinschaft und zum jüdischen Staat positionieren", schreibt Rafael Seligman in der Jüdischen Allgemeinen. Er erinnert an die wechselvollen Beziehungen zwischen der Bundesreublik und Israel und preist den Bundestag für seine Resolution gegen die Israelboykottbewegung BDS: "Und der neue Bundestag? Die Jusos haben 2020 die Jugendorganisation der Fatah als 'Schwesterorganisation' bezeichnet. Schwesterorganisation? Die Fatah-Jugend tritt nicht für Demokratie und für Menschenrechte ein. Terror wird von ihr nicht verurteilt, Friedensinitiativen gegenüber Israel fehlen. Im neuen Parlament sind 49 Jusos als Abgeordnete vertreten. Sie und manche andere werden mit zunehmender Erfahrung - hoffentlich - einsehen, dass Beistand zu den Juden und Israel mehr sein muss als ein Lippenbekenntnis für jüdische Naziopfer."

Die georgische Regierungspartei "Georgischer Traum" (KO) hat den ehemaligen Präsidetnen Michail Saakaschwili, gleich nach seiner Rückkehr aus dem Exil ins Gefängnis gesteckt. Sie drangsaliert JournalistInnen und knüppelt Homosexuelle nieder. Der EU bekundet sie ihre Verachtung, und Wladimir Putin hilft fleißig beim Destabilisieren, berichtet Barbara Oertel in der taz: "Doch der KO ist nicht ganz Georgien. Vor allem viele junge Menschen setzen ihre Hoffnungen auf den Westen und stehen für Demokratie und Menschenrechte ein. Sie im Stich zu lassen wäre verantwortungslos und fahrlässig. Das gilt vor allem angesichts des Nachbarn Russland, der durch ständige Störfeuer seinen Einfluss und Zugriff auf Georgien auszubauen versucht, aber an soft power nichts anzubieten hat."

In Frankreich wird über den antisemitischen Mord an der Pariser Rentnerin Mireille Knoll (unsere Resümees) verhandelt. Michaela Wiegel berichtet in der FAZ: "Mireille Knoll kannte den als schwer erziehbar geltenden Spross der kinderreichen Nachbarsfamilie algerischer Herkunft seit dessen achtem Lebensjahr. Sie gab ihm stets ein Taschengeld, wenn er kleine Besorgungen für sie verrichtete. Kurz vor ihrem Tod schenkte sie ihm und seinem Freund noch Portwein ein. Sie ahnte nicht, dass er von islamistischer Propaganda im Internet fasziniert war und sich Videos voller Judenhass anschaute, wie die Ermittler herausgefunden haben."

Die polnische Disziplinarkammer "erinnert an die Machenschaften der Kommunisten", schreibt Alan Posener in der Welt. Aber die rechtsstaatliche Grundlage des Strafverfahrens gegen Polen sei auch "ziemlich wackelig", ergänzt er, denn: Es "bleibt die Frage, ob der EuGH das Recht hat, Warschau zu Veränderungen seines Justizwesens zu zwingen. Seine Autorität leitet sich aus Artikel 19 des Lissabon-Vertrags ab. Dort heißt es: 'Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge.' Und das war's. Was das bedeutet, bleibt unklar."
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Kulturpolitik

Der Architekturhistoriker Philipp Oswalt fragte gestern im Tagesspiegel (nicht online), ob das wiederaufgebaute Stadtschloss in Berlin seine mit preußisch-reaktionärem Zierwerk und dickem Kreuz versehene Kuppel der Finanzierung durch einen rechtsradikalen Spender verdankt. Oswalt hat den Großspender Erhardt Bödecker im Sinn, der auch bei der Garnisonkirche in Potsdam eine fatale Rolle spielte und der nun auch noch mit einem Medaillon im Eosanderportal des Schlosses geehrt wird: "Im Frühjahr 2013 stand die Entscheidung an, ob das Schloss mit oder ohne historische Kuppel gebaut wird. Mit einer siebenstelligen Spendenbetrag sicherte ein vom Förderverein eingeworbener Spender die Realisierung dieses ideologisch besonders problematischen Bausteins des Bauvorhabens. Bödeckers Spende war siebenstellig. Zu Fragen ihrer Zweckbindung verweigert die Stiftung Humboldtforum aus 'datenschutzrechtlichen Gründen' (Telefonat am 26.10.2021) die Auskunft. Doch die Öffentlichkeit ha ein Anrecht zu erfahren, ob sie den Bau der historischen Kuppel einem rechtsradikalen Spender verdankt."

Mit der Rückgabe von 26 Kunstwerken durch Frankreich an Benin haben Emmanuel Macron und Benedicte Savoy eine "Zeitenwende" markiert, meint Martina Meister in der Welt: "Auf 85 bis 90 Prozent wird der Anteil des afrikanischen Kulturerbes geschätzt, das nicht auf dem Kontinent, sondern in europäischen und amerikanischen Museen lagert oder gezeigt wird. 90.000 Objekte befinden sich allein in Frankreich, 70.000 davon im Pariser Musée du Quai Branly, 46.000 sind während der Kolonialzeit in die Sammlungen eingeflossen."
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Medien

Im SZ-Gespräch mit Stefan Fischer ärgert sich Richard Rebmann vom Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger und ehemaliger Geschäftsführer der Südwestdeutschen Medienholding über Mathias Döpfners SMS, in der er das gegenwärtige Deutschland mit der DDR verglich, aber auch über den BDZV, der gegenüber seinem Präsidenten noch keine Stellung bezogen hat: "Letzten Endes muss sowohl das Präsidium als auch Herr Döpfner persönlich für sich entscheiden, ob er noch in der Lage ist, die Aufgabe des BDZV zu erfüllen."
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Internet

"Was sind die Facebook Papers", fragt  Malaika Rivuzumwami in der taz und resümiert die unübersichtliche Enthüllungslage. Es stellt sich heraus, dass Facebook weniger damit beschäftigt ist, die Welt regieren, als den Zauberbesen in den Griff zu kriegen, der es nun mal ist: "Beispielsweise hat Facebook die Länder, in denen es aktiv ist, nach Priorität sortiert. Das bedeutet, dass Länder in der höchsten Prioritätsstufe, wie die Vereinigten Staaten, bei der Bekämpfung von Hassrede und Volksverhetzung bevorzugt werden. Der Großteil aller Länder weltweit wurde in die letzte Stufe einsortiert und sie gelten somit als zu vernachlässigen."

Stefan Herwig berichtet zum selben Thema in der FAZ und schildert vor allem, wie Facebook krimineller Posts mittels Künstlicher Intelligenz Herr werden will. Aber diese Methode hat ihre Grenzen, so Herwig: "Die Facebook-Files zeigen, dass der deutsche Gesetzgeber beim Netz DG nachbessern und Plattformen verpflichten muss, Menschen mit der Sichtung der Inhalte zu betrauen. So lassen sich auch 'Overblocking' oder 'Underblocking' von Inhalten leichter vermeiden." Der Facebook-Konzern hat sich derweil in Meta umbenannt. "Zu den aktuellen Vorwürfen äußerte sich Zuckerberg während seiner Präsentation nicht. Umso mehr erscheint der Namenswechsel wie ein Versuch, von der aktuellen Situation abzulenken", schreibt Eike Kühl auf Zeit Online.

Bevor Angela Merkel in ihrer Politik mal etwas radikal veränderte, musste ein starker Anstoß von außen kommen. Fukushima oder die Flüchtlingskrise sind Beispiele. Im Feld der Digitalisierung ist das leider nie passiert, resümiert Ingo Dachwitz bei Netzpolitik: "Die Konsolidierung der Bundes-IT etwa ist schon heute ein Milliardengrab. Nach fünf verlorenen Jahren musste der Prozess 2020 komplett neu aufgesetzt werden und kommt trotzdem nicht vom Fleck, einige Bereiche werden laut Innenministerium frühestens 2032 fertig modernisiert sein. Die elektronische Patientenakte soll nach mehr als einem Jahrzehnt Arbeit und Milliardenausgaben für die Gematik-Infrastruktur in diesem Jahr gestartet sein, nur nutzt sie niemand. Auch die digitalen Funktionen des Personalausweises sind bis heute ein Ladenhüter. Und erinnert sich noch jemand an De-Mail?"
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