9punkt - Die Debattenrundschau

Der Dieb und der Blutsauger

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.11.2021. In der FAZ beschreiben Christopher Walker und Jessica Ludwig, wie Russland und China immer mehr die Institutionen des Westens infiltrieren und beeinflussen. Und Kirill Rogow  beschreibt die neue Symbiose von Autokratie und Kapitalismus. Philipp Sarasin  sucht in geschichtedergegenwart.ch nach den Gründen für Michel Foucaults anhaltende Beliebtheit. In der NZZ fragt Alain Finkielkraut: "Was ist Antirassismus also geworden? Ein Verbot, der Realität ins Auge zu sehen." In der FAZ erzählt der ehemalige Mafioso Luigi Bonaventura, was es heißt, im Milieu der 'ndrangheta  aufzuwachsen. 
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.11.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Die britische Philosophieprofessorin Kathleen Stock, die wegen ihrer Kritik an der transaktivistischen Vorstellung von Geschlechtsidentität bekämpft wird, ist von ihrem Posten an der Universität Sussex zurückgetreten, meldet unter anderem Gina Thomas im FAZ.Net. Stock war seit Monaten Angriffen der Transbewegung ausgesetzt, weil sie bestimmte ideololgische Leitlinien nicht unterschrieb. Auch in Deutschland wurde sie im März von einem Symposion ausgeladen worden, weil eine Referentin gesagt hatte, sie würde sich in Stocks Nähe "unwohl" fühlen (unser Resümee). Spiegel online resümiert die Geschichte in einer Tickermeldung, betont dass sich die Uni Stock gegenüber solidarisch verhalten habe und erläutert: "Es ist eine andauernde Debatte zwischen progressiven und konservativen Kräften, die sich um Fragen der geschlechtlichen Selbstbestimmung und deren Anerkennung in der Gesellschaft dreht." Womit die Kritik an der Transideologie natürlich gleich dem Konservativsmus zugeschlagen wird.

Harry Lambert hat Stock schon einige Tage vor ihrem Entschluss für den New Stateman kurz porträtiert. Sein Artikel erschien nach einem "Tag der offenen Tür" an der Uni Sussex, wo sie lehrte und wo etwa hundert Aktivisten ihre Entlassung forderten: "Stock - die der Meinung ist, dass das biologische Geschlecht unveränderlich ist und in einigen Punkten Vorrang vor der Gender-Identität einer Person hat - sagte mir, dass eine Kampagne gegen sie geführt wird, seit sie 2018 Bedenken über eine Verlagerung weg von geschlechtsspezifischen Rechten hin zu einer Welt geäußert hat, in der sich jeder Mann allein durch Selbstdeklaration als Frau identifizieren kann (ein Prozess, der als 'Self-ID' bekannt ist). 'Dieser Monat ist nur das Endspiel. Einige meiner Kolleginnen und Kollegen haben schon lange gegen mich intrigiert', sagt sie."

Luigi Bonaventura wuchs als Sohn der "Mama" 'ndrangheta auf (als "Mama" bezeichnet sie sich selbst), das heißt einer recht hoch platzierten Familie dieser Mafia. Seit 15 Jahren lebt er als Kronzeuge versteckt. Er sagt beim aktuellen Rinascita-Scott-Verfahren aus. Im Interview mit David Klaubert von der FAZ erzählt er eindringlich, wie diese Mafia ihre eignen Mitglieder zurichtet und gefügig macht: "Die Gewalt bringen sie dir körperlich bei. Auch aus Schlägen kann man lernen. Sie bringen dir bei, widerstandsfähig zu sein, Schmerz zu ertragen. Gewalt erzeugt Gewalt. Sie nehmen dich mit zum Metzger, wo das Vieh, die Schafe, die Hühner geschlachtet werden. Und in die Verschläge, in denen sie Hunde zu Wachhunden erziehen, indem sie ihnen einen Sack über den Kopf stülpen und sie aufs Brutalste prügeln. So gewöhnst du dich an die Gewalt, an das Blut, an den Tod. So als wäre das alles ganz normal."
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Politik

Christopher Walker und Jessica Ludwig vom National Endowment for Democracy, einer Art regierungsfinanzierten Thinktank aus Washington, resümieren auf der Gegenwart-Seite der FAZ eine Studie ihres Instituts über die Einflussnahme autokratischer Regimes - besonders Chinas und Russlands - in Demokratien. Diese Einflussnahme nennen sie "scharfe Macht". Betroffen sind davon fast alle Bereiche westlicher Gesellschaften, in denen Institutionen mit diesen Ländern kooperieren - in der Wirtschaft, den Medien, Menschenrechtsorganisationen, Verlagen und sogar im Sport: "Vor allem akzeptieren Universitäten und Denkfabriken in einem Maß Ressourcen aus autoritären Quellen und arbeiten mit ihnen in einer Weise zusammen, wie dies noch vor zwei Jahrzehnten kaum vorstellbar war. Medien- und technologiebezogene Beziehungen zwischen Demokratien und Autokratien haben beträchtlich zugenommen, und vielfach gefährden sie die Integrität von Nachrichten und untergraben die Meinungsfreiheit." Der gesamte Bericht lässt sich hier herunterladen.

Zum selben Thema schreibt im Feuilleton der FAZ der Moskauer Politologe Kirill Rogow von der Stiftung Liberale Mission. Er beschreibt die Fusion von Autokratie und Kapitalismus: "Joseph Brodsky schrieb noch zur Sowjetzeit den Vers: 'Doch ist mir der Dieb lieber als der Blutsauger.' Er meinte damit, dass die Welt von Geld und Gier besser sei als die Welt des Totalitarismus mit ihrer ideologisch motivierten Gewalt. Fünfzig Jahre später hat sich alles umgedreht: Der Dieb und der Blutsauger sind ein und dieselbe Figur mit der modischen Jacke für tausend Euro und dem Pistolenhalfter am Gürtel, eine Figur, die von dieser erstaunlichen Welt des gehobenen Konsums und der zynischen, unideologischen, aber äußerst gewinnbringenden Gewalt hervorgebracht wurde."
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Europa

Welt-Autor Thomas Schmid schreibt einen Art Nachruf zu Lebzeiten auf die Linkspartei und macht auf einige Traditionslinien aufmerksam, die den jetzt verblassenden Erfolg der Partei bis in jüngste Zeit mit bestimmten. "Wenn die Linkspartei einen Erfolg erzielt hat, dann den: Seit drei Jahrzehnten hat sie die SPD geschwächt - und damit den kommunistischen Kampf, der 1946 die Auslöschung der Ost-SPD erzwang, in demokratischem Gewande fortgesetzt. Hätte die SED sich einfach aufgelöst, wären wohl Wählerinnen und Wähler, die dann jahrzehntelang für die Linkspartei stimmten, zur SPD gewandert. Die Linke hat sie, wenn man so will, an dieser Einwanderung in die Bundesrepublik gehindert."
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Stichwörter: Linkspartei, Einwanderung

Ideen

Im Interview mit der NZZ erklärt der französische Philosoph Alain Finkielkraut, der gerade sein neues Buch "Ich schweige nicht" veröffentlicht hat, warum er Antirassismus inzwischen für eine Ideologie hält: "Der Antisemitismus ist eine Variante des Antirassismus geworden, vor allem in Deutschland. Der Beweis ist Israel. Israel gilt als ein rassistischer Staat, der die Palästinenser unterdrückt. Und alle Juden sind verdächtig. Die große Errungenschaft des Antirassismus besteht also darin, dass er sich den Antisemitismus einverleibt und die Shoah gegen die Juden gerichtet hat. Ihnen wird vorgeworfen, sie würden die Shoah instrumentalisieren, um ihre Aggression zu rechtfertigen oder sogar die Shoah auf die Palästinenser umzuschreiben. Zu diesem Antirassismus gesellt sich der Islam. Es stimmt, er ist eine Religion. Aber diese Religion ist ein Problem. Sie ist mit der europäischen Zivilisation nicht vereinbar. Muslime können sich natürlich integrieren. Mit dem Islam als solchem ist es aber schwieriger. Wenn Sie das sagen, werden Sie der Islamophobie bezichtigt. Was ist Antirassismus also geworden? Ein Verbot, der Realität ins Auge zu sehen. Ich wurde viel häufiger beschuldigt, ein dreckiger Rassist zu sein als ein dreckiger Jude."

In der NZZ wünschen sich Yvonne Aki-Sawyerr, Bürgermeisterin von Freetown in Sierra Leone, und Ottilie Bälz von der Robert Bosch Stiftung, dass auch klimabedingte Migration bei Klimagipfel in Glasgow eine Rolle spielt. "Eine 2020 von der US-Zeitschrift 'Proceedings of the National Academy of Science' veröffentlichte wegweisende Studie zeigt, dass Klimazonen wie die Sahara, die heute nur 0,8 Prozent der Erdoberfläche ausmachen, sich bis 2070 auf fast ein Fünftel des Globus ausdehnen könnten. Zwischen ein und drei Milliarden Menschen (und nicht zu vergessen Tiere und Pflanzen) werden sich von den gewohnten klimatischen Bedingungen verabschieden müssen. Millionen Menschen werden gezwungen sein, in die verbleibenden, immer dichter besiedelten oder in die neuen gemäßigten Regionen der Welt zu migrieren. Städte haben schon heute taugliche Strategien entwickelt, den wachsenden Herausforderungen durch Klimawandel und Migration mit innovativen und inklusiven Massnahmen zu begegnen. Die Weltgemeinschaft, und solches sollte in Glasgow entschieden werden, muss mehr Ressourcen dafür bereitstellen."

Philipp Sarasin sinnt in seinem Geschichtsblog geschichtedergegenwart.ch über die Frage nach, warum Michel Foucault bis heute ein so beliebter und wohl der meist zitierte Philosoph ist. Nun, er hat noch den modischsten Diskursen die Vorlagen geliefert, etwa jener Sehnsucht in modernen Zeiten, sich trotz des Komforts, in dem man lebt, als Opfer zu fühlen. Dafür lieferte Foucault in "Überwachen und Strafen" die Argumentation: "Die moderne Macht, so Foucaults berühmte Diagnose, ist 'produktiv', sie zerstört die Körper nicht, sondern macht sie 'nützlich'. Tiefschwarz war dann die Schlussfolgerung: Die modernen Gesellschaften seien überhaupt zu einem 'Kerker-Archipel' geworden, und wir alle seien Teil der großen Disziplinarmaschine - 'jeder ein Rädchen', wie es am Ende von Überwachen und Strafen heißt."
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