9punkt - Die Debattenrundschau

Die eigene Geschichte derart umzudeuten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.11.2021. In China steht alles zum besten. Naja, jedenfalls dürfen seit August in China keine "negativen Prognosen zur chinesischen Wirtschaft" mehr verbreitet werden, erzählt Zeit online.  Nicht ihre antisemitischen Positionierungen sind das Problem, sondern dass die Bild-Zeitung eine rassistische Kampagne gegen sie fuhr, meint Nemi El-Hassan in der Berliner Zeitung. Immerhin hat nun auch Polen erfahren, dass Migration alle angeht, konstatiert die SZ und ruft nach einem Migrationspakt zur Bewältigung der neuen Flüchtlingskrise. Die FAZ berichtet, dass die nicaraguanische Autorin Gioconda Belli, einst eine sandinistische Kämpferin, nun zum zweiten Mal ins Exil geht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.11.2021 finden Sie hier

Europa

Polen will an der Grenze zu Belarus eine Mauer bauen. Der Grund: "Der belarussische Autokrat Alexander Lukaschenko will die EU destabilisieren, indem er Migranten in sein Land lockt, sie abkassiert und dann an die Grenze zu Polen, Lettland, Litauen schickt. Das ist ihm bereits gelungen", schreibt in der SZ Josef Kelnberger, der fragt, warum die EU den Mauerbau so vehement ablehnt, obwohl sie selbst alles tut, den Flüchtlingsstrom von Europa wegzulenken. "Die Sicherung der Grenze zu Belarus als gemeinsame europäische Sache - das könnte die EU auch zu einem neuen Anlauf in Sachen 'Migrationspakt' nutzen. Immerhin hat nun auch Polen erfahren, dass Migration alle angeht. ... Es mag unmöglich erscheinen, eine Flüchtlingspolitik zu formulieren, die deutschen Vorstellungen von Humanität und polnischen Vorstellungen von nationaler Identität entspricht. Aber solange die EU keine gemeinsame Haltung findet, wird sie erpressbar und moralisch angreifbar bleiben."
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Ideen

Heute scheint alles machbar zu sein, uneingeschränkte Selbstentfaltung möglich. Das kann böse enden, warnt der Philosoph Alexander Grau in der NZZ. Dennn "wo das nicht gelingt, wird die Realität selbst als emanzipationsfeindlich wahrgenommen. Sogar vergleichsweise einfache Tatsachen wie die Existenz zweier Geschlechter erträgt das narzisstische Bewusstsein unserer Gegenwart nicht mehr. Die Welt an sich wird ihm zum Hort von Diskriminierung. Denn in ihr gibt es Schöne und Hässliche, Kluge und Dumme, Begabte und Unbegabte. Also gilt es die Welt selbst zu überwinden und eine neue Wirklichkeit zu schaffen. Hier, in dieser narzisstischen Realitätsverachtung, hat der Machbarkeitswahn der Gegenwart seine eigentlichen Wurzeln. ... Denn der Wahn von der grenzenlosen Gestaltbarkeit der Welt erzeugt fast zwangsläufig eine Rigorosität des Denkens und einen Totalitarismus des Handelns."
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Gesellschaft

Die neue Koalition wird die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland nicht verringern, indem sie etwa die Erbschaftssteuern erhöht, und das obwohl das oberste Zehntel zwei Drittel des Vermögens, die untere Hälfte fast nichts besitzt, kritisiert Volkswirt Gerhard Schick von der "Bürgerbewegung Finanzwende" im Gespräch mit Ulrich Schulte von der taz: "In Maßen ist Ungleichheit okay, sie gehört zu einer Marktgesellschaft dazu. Aber wenn über Jahre die Geldkonzentration am oberen Rand massiv zunimmt und die Reallöhne zurückgehen, können Menschen am unteren Rand ihre Kredite nicht mehr bedienen. Zu hohe Ungleichheit produziert also Finanzcrashs wie den im Jahr 2008. Außerdem hat es mit Leistungsgerechtigkeit nichts zu tun, wenn Menschen, die Glück bei der Geburtslotterie hatten, mit einem riesigen Startvorteil ins Rennen gehen."

Die Uni von Sussex hat Kathleen Stock verteidigt, und die hat sich auch dafür bedankt, schreibt Julien Reitzenstein in der Welt. Der eigentliche Druck sei aus den sozialen Medien gekommen, und erst dieser Druck habe die Feministin, die an der Auffassung festhält, dass Geschlecht biologisch determiniert sei, bewogen, ihren Posten an der Uni aufzugeben. Stock hatte ihre Position auch in Stellungnahmen für die britische Regierung verteidigt. Reitzenstein fürchtet, das eine Debatte über solche Fragen nun unmöglich werde. "Es geht um eine größere gesellschaftliche Aufgabe: Wird es der Wissenschaft gelingen, die Freiheit des akademischen Diskurses, des ergebnisoffenen Erkenntnisstrebens zu verteidigen? Dann muss es eine breite Solidarität unter Wissenschaftlern aller Fachrichtungen geben, die Social Media als Angriffsinstrument auf wissenschaftliche Positionen ächten."
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Politik

Gioconda Belli, einst Kämpferin an der Seite der Sandinistas und international bekannte Autorin, geht zum zweiten Mal ins Exil - diesmal aus Angst vor den Sandinistas. Der auch von den westlichen Linken einst so gefeierte Revolutionskämpfer Ortega bereitet gerade die vierte Amtszeit seiner Präsidentschaft vor, die längst zu einer Autokratie geworden ist. FAZ-Korrespondent Tjerk Brühwiller hat mit Belli gesprochen: "In einer Verhaftungswelle, die Belli als 'Hexenjagd' bezeichnet und die weiter anhält, sind in den vergangenen Wochen fast vierzig Aktivisten und Vertreter von politischen Parteien, der Presse und auch der Wirtschaft verhaftet worden. Hausdurchsuchungen machen einigen das Leben schwer. Die Regierung und die gleichgeschaltete Justiz berufen sich auf eine Reihe von Gesetzen, die großen Handlungsspielraum und damit Platz für Willkür lassen." (Mehr dazu in unserer Magazinrundschau von letzter Woche)

taz-Kolumnistin Charlotte Wiedemann ist nicht zufrieden mit einigen außenpolitischen Leitsätzen der neuen Bundesregierung: "'Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsraison.' Da macht sich die Ampelkoalition das Merkel'sche Postulat vom März 2008 zu eigen, um zu signalisieren: Alles weiter wie bisher! Tatsächlich ist der Merkel-Satz erratisch, denn zur Sicherheit, wie Israel sie definiert, gehört eben jene Besatzungspolitik, die von der Europäischen Union verurteilt wird."
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Medien

Seit August dürfen in China keine "negativen Prognose zur chinesischen Wirtschaft" mehr verbreitet werden. Das ist ein Drama zum Beispiel für die Menschen, die sich eine Wohnung kaufen wollen, jedoch über den maroden Zustand des mit 300 Milliarden US-Dollar verschuldeten, zweitgrößten Immobilienentwicklers Chinas, Evergrande, nichts erfahren und so völlig überteuerte Preise bezahlen, schreibt Franka Lu auf Zeit online. "Anfang Oktober hat die Partei einen Gesetzesentwurf vorgestellt, dem zufolge privatwirtschaftliche Beteiligungen an Medienhäusern in China künftig untersagt werden sollen; das bedeutet faktisch, dass alle Nachrichtenmedien, die nicht von der Partei finanziert sind, verboten werden sollen. Auch welche ausländischen Nachrichtenquellen wie von chinesischen zitiert werden dürfen, soll neu geregelt werden, so lautet ein zuletzt vorgestellter Plan der Regierung. Das alles hätte noch sehr viel stärkere negative Auswirkungen auf die Presse- und Meinungsfreiheit in China als die bisherige staatliche Gängelung, auch wenn die Öffentlichkeit die ganze Tragweite der geplanten Maßnahmen offenbar bislang noch gar nicht erfasst hat."

Die Journalistin und Ärztin Nemi El-Hassan sollte die WDR-Sendung "Quarks" moderieren, das Engagement wurde nach Bild-Veröffentlichungen zunächst ausgesetzt. Nicht, dass sie als Jugendliche antisemitisch agierte und solche Positionen noch vor kurzem unterstützte, indem sie Herzchen unter Twitter-Posts anklickte, ist das Problem, sondern dass die Bild-Zeitung eine rassistische Kampagne gegen sie führte, schreibt El-Hassan nun in einem Gastbeitrag für die Berliner Zeitung. Die Kampagne sei zunächst von Rechtsextremen gegen sie lanciert worden, die Bild-Zeitung habe sie dann aufgegriffen. Sie aber stehe zu ihrer Herkunft und Position: "Ich bin und bleibe Palästinenserin, ob das der deutschen Öffentlichkeit nun genehm ist oder nicht. Und ich verwehre mich dagegen, diesen Teil meiner Identität zu verleugnen. Die letzten Wochen zeigten, dass ich im Land der Täter qua Geburt zur Antisemitin erklärt werden sollte. Wie kommt man dazu? Welche psychologischen Prozesse arbeiten im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, die ermöglichen, die eigene Geschichte derart umzudeuten, dass Antisemitismus immer nur bei 'den anderen' - beziehungsweise den zu 'den anderen' gemachten - verortet wird?"

Der WDR hat sich nach ihrem Artikel endgültig entschlossen, sie nicht zu engagieren, meldet Zeit online in dieser Staatsaffäre (mehr zu den Gründen hier). Twitter wimmelt von Kommentaren zur Angelegenheit. Die Dirk-Moses-Fraktion lobt die Tiefgründigkeit ihres Beitrags: "Wer gemeint hat, @dirkmoses habe in der #CatechismDebate übertrieben, lese diesen Text", ruft etwa Philip Sarasin. Der kritische Muslim Murat Kayman arbeitet sich in einem langen Thread an El-Hassan ab. "Sie sagt zusammengefasst: Alles nur antimuslimische Hetze, alle Kritiker Rassisten! Ich habe aktuell nichts falsch gemacht! Einige meiner besten Unterstützer sind Juden!"
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