9punkt - Die Debattenrundschau

Kompatibel mit bürgerlicher Reputation

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.11.2021. Wurde das schicke dicke Kreuz auf der Kuppel des Berliner Stadtschlosses von einem Rechtsradikalen finanziert? Das Humboldt Forum ist laut SZ schockiert und lässt ermitteln. Vor 17 Jahren verbrannte der gefesselte Asylbewerber Oury Jalloh aus Sierra Leone im Dessauer Polizeigewahrsam. Ein Gutachten zeigt, dass er wohl angesteckt wurde, berichtet die taz. Das Kopftuch ist "Freiheit und Freude", behauptete der Europarat noch bis vor kurzem, dann protestierte laut Welt die französische Regierung. Welche Chancen haben säkulare Ideen in der neuen Koalition, fragt hpd.de.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.11.2021 finden Sie hier

Europa

Hat man aus dem NSU nichts gelernt?, fragt Annette Ramelsberger in der SZ: "Auch zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU ist die Polizei noch überrascht - darüber, dass sich in die Corona-Demos gewalttätige Neonazis mischen. Überrascht, dass Rechte den Reichstag stürmen wollen - obwohl sie das auf ihren Social-Media-Kanälen ankündigen. Immer noch wird so getan, als sei das nur ein brauner Spuk, nicht wirklich gefährlich für die Demokratie. Eine Frankfurter Anwältin, Vertreterin von NSU-Opfern, wird vom rechtsradikalen 'NSU 2.0' mit dem Tod bedroht, aber die Behörden raten ihr, sie möge doch die 110 rufen, wenn ihr etwas eigenartig vorkomme - kann doch nicht so ernst sein. Das hessische Innenministerium teilt die streng geschützte Adresse dieser Anwältin in einem Schreiben an den Landtag gleich auch der AfD mit - wird schon nichts passieren."

Die taz konnte einige bislang geheimgehaltene Akten aus Hessen zum NSU-Trio und seinem Umfeld studieren. Es zeigt sich vor allem ein Bild der Inkompetenz. Konrad Litschkos Resümee klingt so trocken wie deprimierend: "Tatsächlich ist es gut möglich, dass Aktivitäten und Kontakte der NSU-Terroristen in Hessen schlicht nicht entdeckt wurden."

Vor 17 Jahren verbrannte der an Händen und Füßen gefesselte Asylbewerber Oury Jalloh aus Sierra Leone im Dessauer Polizeigewahrsam. Nun  ist der britische Gerichtsmediziner Iain Peck, der im Auftrag der "Initiative Gedenken an Oury Jalloh" das Brandgeschehen aufwändig nachstellte, zu dem Ergebnis gekommen, dass Oury Jalloh mit Brandbeschleunigern übergossen worden sein muss, berichtet etwa Christian Jakob in der taz. Auch der Dessauer Oberstaatsanwalt Folker Bittmann hatte vor einigen Jahren ermittelt: "Der Staatsanwalt benennt konkrete Verdächtige aus den Reihen der Dessauer Polizei. Die aber sind bis heute unbehelligt - der Fall wurde Bittmann entzogen, alle Verfahren wurden eingestellt. Die Justiz geht offiziell davon aus, dass Jalloh sich selbst mit einem Feuerzeug anzündete, das bei seiner Durchsuchung übersehen worden war."

Der Europarat hat in einer Videokampagne für "Vielfalt" die frohe Botschaft propagiert, das Kopftuch sei "Freiheit und Freude". Dagegen hat für die französische Regierung die Staatssekretärin Sarah El Haïry protestiert. Der Europarat hat daraufhin die Kampagne zurückgezogen, meldet die Welt. In der Bild berichtet Shammi Haque. Das Video zeigte die gleichen lächelnden Frauen, mal mit mal ohne Kopftuch. Das "Collective for Countering Islamophobia in Europe" zeigt es noch und beklagt, dass die französische Regierung "Toleranz und Inklusion" bekämpfe.


Haben säkulare Ideen in der künftigen Ampelkoalition mehr Chancen? Die SPD erlaubte es den "säkularen Sozis" bisher nicht mal, sich als Arbeitsgruppe zu konstituieren. Einige wichtige Themen stünden auf der Agenda, berichtet hpd.de: "Säkulare Inhalte, die nach dem Wunsch des säkularen Netzwerks in der SPD von der neuen Bundesregierung umgesetzt werden sollten, sind eine liberale Regelung bei der anstehenden Entscheidung zur Suizidhilfe, eine Streichung des Paragrafen 219a StGB (Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche), die Abschaffung der Staatsleistungen an die Kirchen, Beendigung von Ausnahmeregelungen für kirchennahe Einrichtungen im Betriebsverfassungsgesetz und gesetzliche Grundlagen für die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in und außerhalb von Kirchen und kirchlichen Einrichtungen."

"Her mit der Impfpflicht", ruft der Rechtsprofessor und ehemalige Bundesdatenschutzbeauftragte Hans Peter Bull in der FAZ. Impfgegner beriefen sich zu Unrecht auf Grundrechte: "Die Drohung mit dem Verfassungsgericht ist unbegründet. Jeder und jede darf sich selbst gefährden, aber nicht andere. Die Impfgegner können sich auf ihre Grundrechte berufen, wenn es nur um ihre eigene Freiheit und Unversehrtheit geht, aber nicht wenn ihre Freiheitsausübung Dritte in unangemessener Weise beeinträchtigt. Das aber ist während der Pandemie der Fall: Ein großer Teil der Bevölkerung leidet darunter, dass die Impfkampagne nicht genug vorankommt." Und diese Pflicht, so Bull, muss auch polizeilich durchgesetzt werden: "Politiker und Beamte müssen die hässlichen Umstände des notwendigen Staatshandelns ertragen; sonst vernachlässigen sie ihre Gemeinwohlverpflichtung."
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Kulturpolitik

Bereits vergangene Woche fragte der Architekturhistoriker Philipp Oswalt im Tagesspiegel, ob das wiederaufgebaute Stadtschloss in Berlin seine mit dickem Kreuz versehene Kuppel der Finanzierung durch einen rechtsradikalen Spender, dem ehemaligen Juristen und Banker Ehrhardt Bödecker verdankt (unser Resümee). Die Stiftung Humboldt Forum will erst durch Oswalts Artikel von den Ansichten ihres Spenders erfahren haben, schreibt Jörg Häntzschel in der SZ. Für die Prüfung der Herkunft der Spenden sei der Spendenverein des Traktorfabrikanten Wilhelm Boddin zuständig gewesen, heißt es dort nun: "'Wir haben auf bürgerliche Reputation geachtet, nicht auf politische Einstellungen", sagte er gegenüber der Berliner Zeitung. Gegenüber der SZ war er nicht zu einer Stellungnahme bereit. Das Schlimme ist, so der Architekturkritiker Oswalt gegenüber der SZ, dass Bödeckers Weltbild für viele durchaus kompatibel sei mit 'bürgerlicher Reputation'. Boddiens Zurückhaltung dürfte aber auch darin begründet liegen, dass er und Bödecker teils in ähnlichen Kreisen verkehrten und in denselben Büchern publizierten, auch wenn Boddien sich nie in ähnlicher Weise geäußert hat wie Bödecker. Wie viel die Bödeckers gespendet haben und ob sie es waren, die die Kuppel finanziert haben, bleibt das Geheimnis der Stiftung."

Die Stiftung will nun "'ein renommiertes zeithistorisches Institut beauftragen, diesen Vorwürfen nachzugehen', hieß es am Dienstag nach einer Sitzung des Stiftungsrats", meldet der Tagesspiegel mit dpa.
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Gesellschaft

Yascha Mounk kommt in der Zeit auf die Aufregung um Gil Ofarim zurück. Der Sänger hatte  Angestellte eines Hotels in Leipzig beschuldigt, ihn antisemitisch beleidigt zu haben (unser Resümee). Nach Ermittlungen und Zeugenaussagen lassen sich die Vorwürfe offenbar nicht halten. Aber da hatte die Öffentlichkeit längst schon ihren heute üblichen Sturm der Entrüstung entfacht. Mounk beobachtet ein "willentliches Ausschalten der Skepsis". Befeuert durch die Logik der sozialen Medien gelte es "fast als Tabu, Vorwürfe zu hinterfragen". Mounk plädiert für ein Einhalten, bevor man sich die Empörung zu eigen macht: "In ihrem Eifer, auf echte Diskriminierung hinzuweisen, erwecken Politik und Medien den Eindruck, sie würden solche Probleme zu ihren eigenen Zwecken aufbauschen. Gerade wenn Vorwürfe besonders schockierend sind, müssen Politiker und Journalisten deshalb den Mut aufbringen, die Faktenlage ohne ideologische Scheuklappen zu klären, bevor sie sich zu Wort melden oder überstürzt handeln."
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Politik

Der Krieg in Afghanistan ist beendet, und im Grunde ist damit genau das geschehen, was ganz Linke und ganz Rechte immer gefordert hatten, sagt Navid Kermani in einer Rede, die die Zeit abdruckt. Die Folge ist, dass alle zaghaften Modernisierungen annulliert sind und dass Afghanistan heute eine einzige humanitäre Krise ist. Aber wen kümmert's? "Afghanistan wird wieder vergessen, ist es praktisch schon jetzt, zwei Monate nach der Rückkehr unserer Soldaten. Vergessen wie der Jemen, Äthiopien, Madagaskar, Syrien, um nur einige der verheerendsten Kriege und Hungersnöte anzuführen, die in der deutschen Politik, im deutschen Fernsehen nicht die geringste Rolle spielen. Jedoch die Frage, die der Einsatz unserer Soldaten in Afghanistan aufgeworfen hat, sie wird nicht verschwinden, sie wird vielleicht sogar - man denke nur an die Entwicklung in Mali - in den nächsten Wochen oder Monaten bereits wieder unsere Krisengremien und Talkshows beschäftigen."
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Medien

Ausgerechnet Mathias Döpfner darf sich nicht beschweren, dass eine private E-Mail von ihm veröffentlicht wurde, schreibt Sandra Kegel in der FAZ: "Erst im vorigen Jahr hatte Bild aus dem privaten Whatsapp-Chat eines elfjährigen Jungen zitiert, der gerade seine gesamte Familie verloren hatte. Rücksichtslos beutete das Blatt das Leid eines traumatisierten Kindes aus." Kegel erinnert daran, das auch auf die von Springer orchestrierte (und von einem gewissen Frank Schirrmacher, wer war das noch, leidenschaftlich begleitete) Jagd auf Christian Wulff durch die Veröffentlichung einer SMS eröffnet wurde.

Hoffentlich hat sich Nemi El-Hassan nicht nur vom WDR, sondern ganz vom Journalismus verabschiedet, meint Laura Hertreiter in der SZ, denn in ihrem Gastbeitrag in der Berliner Zeitung (Unser Resümee) habe El-Hassan gezeigt, dass sie nicht verstanden hat, was Journalismus ist: "Während der Privatmensch ganz Standpunkt sein kann und der Aktivist es sogar sein soll, ist es Aufgabe des Journalisten zu sehen, dass der eigene eben nicht der einzige Standpunkt ist. Das tut El-Hassan in keiner Zeile. Sie unterschlägt, dass es überhaupt Gegenpositionen gibt. Falls sie sich der Komplexität der Situation bewusst ist, lässt sie das nicht durchblitzen, flüchtet in die Eindeutigkeit der Halbwahrheiten." In der taz resümiert Volkan Agar die Affäre.
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